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Antonie Pannekoek Archives

Rätekorrespondenz

Quelle: a.a.a.p.


Rätekorrespondenz

Internationale Rätekorrespondenz 1934-1937 / Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland). – Transkribiert und herausgegeben für Rätekommunismus ; Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek, Dezember 2020, 504 S., € 13,16, ISBN 979-8551636052


Thesen über Staat und Partei


Quelle:  Thesen über Staat und Partei. – In: Internationale Rätekorrespondenz : Theoretisches und Diskussionsorgan für die Rätebewegung.  – Ausg[abe]. der Gruppe Int[ernationaler]. Kommunisten, Holland. – 1935, Nr. 8-9 (April-Mai); Quelle der Transkription: Rätekommunismus , 23. November 2020, Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek.


Diese Thesen erhielten wir vor einiger Zeit aus unserem internationalen Leserkreis zugesandt. Wir bringen sie zum Abdruck, obwohl sie teilweise überholt sind (1931 geschrieben), da sie unserer Meinung nach zu dieser Frage brauchbares Material liefern.


„Der Staat ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, der Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist“ (Engels).

„Wo es politische Parteien gibt, findet jede den Grund eines jeden Übels darin, dass statt ihrer ihr Widerpart sich am Staatsruder befindet. Selbst die radikalen und revolutionären Politiker suchen den Grund des Übels nicht im Wesen des Staates, sondern in einer bestimmten Staatsform, an deren Stelle sie eine andere Staatsform setzen wollen“. (Marx: Kritische Randglossen zu dem Artikel: Der König von Preußen und die Sozialreform.)

1. Moderne Partei oder moderner Staat sind typische Produkte der kapitalistischen Gesellschaft. Ebenso wie der moderne Staat durch die Revolutionen der kapitalistischen Warenproduktion und der Bourgeoisie ausgestaltet wurde, entstand auch die Partei und die Tatsache, dass die sozialen Kämpfe in der Form von Parteikämpfen ablaufen, gleichzeitig mit dem Kapitalismus. Die ersten Parteien entstanden dort und zu der Zeit, wo und als die Kapitalisierung der Produktion begonnen hat. (Guelfen und Ghibellinen in Italien, Whigs und Torys in England, Jacobinismus, Jungdeutsche Bewegung, Narodniki in Russland usw.)

2. Über die unbedingt zu untersuchenden und zu beachtenden historischen Unterschiede hinaus zeigen sämtliche Parteien zwei überaus wichtige strukturelle Überein-stimmungen und zwar: Erstens in ihrem – wenigstens tendenziellen – Massenorganisationscharakter, zweitens in ihrem zentralistischen Aufbau. Der „demokratische Zentralismus“, der strukturelle Grundgedanke sämtlicher zur III. Internationale gehörenden Parteien, lässt sich mit einer gewissen Lockerung des Begriffs bei jeder Partei entdecken. Selbst die faschistischen Parteien zeigen diesen „demokratischen Zentralismus“ und zwar wegen ihres später zu erwähnenden Funktionswechsels in stark geänderter Form, jedoch eben aus diesem Funktionswechsel folgend, bis auf ihr Wesen entblößt, im Korporationsgedanken und in der jedes bisherige Beispiel überragenden individuellen Führung.

Sämtliche moderne Parteien sind Kopien des modernen Staates, dessen Grundgedanke ebenfalls der „demokratische Zentralismus“ ist.

3. Sämtliche existierenden Parteien sind staatserhaltend, wobei ihr Zusammenhang mit dem Staate entweder offen oder direkt ist, wie dies bei der russischen, chinesischen und italienischen Staatspartei der Fall ist, oder vermittelter, wie der der bürgerlichen Nationalparteien und der Sozialdemokratie, oder in einem gewissen Sinne divers, der der großen Parteimaschinen in den u.s.a., oder schließlich eine auf Grund des Staates stehende, äußerlich revolutionäre Opposition (n.s.d.a.p., sämtliche nicht-russische kommunistische Parteien).

4. Jede Form des bürgerlichen Staates, vom demokratischen Staatstypus der freien Konkurrenz bis zum korporativen Parteistaat des Staatskapitalismus, setzt die Erhaltung der Klassenunterschiede voraus und bedeutet die politische Herrschaft einer monopolistischen Minderheit über die Mehrheit der unterdrückten Klasse. Ebenso ist die Existenzbedingungen sämtlicher bestehenden oder auch nur gedanklich konstruierbaren Parteien, die Erhaltung des Unterschiedes zwischen der überwiegenden Mehrheit der Mitgliedschaft einerseits und der Führerschicht andererseits. In diesem Sinne ist die dauernd wachsende Bürokratisierung der Arbeiterparteien kein Zufall und auch kein Fehler, sondern die Erfüllung der jeder Partei zugrunde liegenden und gelegentlich in jeder Partei gleichen Führer-Masse-Relation, zurzeit, wo die Umgestaltung des demokratischen Staates zum Parteistaat ihren […] anstrebt. Mit dem demokratischen Staate und der staatlichen Demokratie ist auch die demokratische Partei und die Parteidemokratie zum Verschwinden verurteilt. Die Führer-Masse-Relation wird in der Partei zu einem ebenso stabil unveränderlichen Verhältnis wie im Staate. Die bürgerliche Rechtsgleichheit (seit der großen, französischen Revolution jeder revolutionären, oder auch nur liberalen Bourgeoisie) proklamiert die formelle Gleichheit aller Staatsbürger, die Partei die der Parteimitglieder. In Wirklichkeit bedeutet diese Proklamierung der Gleichheit im Staate sowie in der Partei nur die Verhüllung, damit aber auch die Voraussetzung zur Erhaltung der Unterschiede und Gegensätze. Die Auflösung der Führer-Masse-Relation ist in der Partei ebenso wenig zu verwirklichen wie im Staate: Sie richtet sich gegen die Existenzgrundlage beider.

5. Die Parteien wurden zumeist im Kampf für den neuen bürgerlichen Staat geboren und sie schufen gleichzeitig die Vorbedingungen zu dessen Entstehung. In jenen Ländern, wo der bürgerliche Staat gleichzeitig mit dem Beginn der kapitalistischen Warenproduktion entstand, wurden eine oder mehrere Parteien (Wechselwirtschaft oder Koalition) zu Staatsparteien, ohne damit ihre selbstständige Organisation aufzugeben. In anderen Länder, wo die politischen Kämpfe für den modernen Staat erst später einsetzten länger dauerten, behielten die Klassenparteien, vor allem die Arbeiterpartei, ihre „Antistaatlichkeit“. Diese „Antistaatlichkeit“ bekämpfte jedoch nicht den Staat „als solchen“, sondern nur gewisse historisch gegebene (feudale und halbfeudale), in anderen Ländern bereits überholte Staatsformen. Sie bekämpften nicht jeden Staat als Grundlage der Klassenunterdrückung. Ihr Zweck war nicht Vernichtung, sondern Eroberung des Staates, und Ergebnis dieses Kampfes die Aneignung des Staates durch eine Partei, das Zusammenschmelzen des Staats- und Parteiapparates, entsprechend der Entwicklung der Kapitalkonzentration, die die deutliche Tendenz aufwies, die gesamte Warenproduktion zentralstaatlich zu beherrschen ([…], Rationalisierung, Planwirtschaft).

6. Das Problem des Staates wird jetzt für das Proletariat zum dritten Male auf die Tagesordnung gesetzt; wie immer theoretisch und praktisch zugleich. Die erste Etappe der Entwicklung einer proletarischen Staatstheorie fiel in die Epoche der großen bürgerlichen Revolutionen des Westens: Sie wurde damals klar vom jungen Marx formuliert, der die prinzipielle Antistaatlichkeit des Proletariats betonte. Kein Zufall, dass die Aufrollung der Frage von Marx bis Lenin nicht aktuell war – und kein Zufall, dass, obzwar die leninistische Staatstheorie den Kampf des Proletariats nur gegen eine bestimmte Staatsform richten wollte, und obzwar die revolutionäre Kritik bereits viele Teile des Leninismus (Philosophie, Organisationslehre, Imperialismustheorie etc.) anzugreifen vermochte, – eine Kritik der Lenin’schen Staatstheorie erst jetzt aktuell wird.

7. Erst jetzt: wo die freie Konkurrenz durch Monopole, die „Koalitionen“ und „Wechselwirtschaften“ durch politische Monopole ausgeschaltet wird. Jetzt: wo die Vereinigung der wirtschaftlichen und politischen Macht für das Proletariat den Anfang von neuen, einheitlichen, politischen, wirtschaftlichen Kämpfen bedeutet. Wo die „Parteien der Arbeiterklasse“ aus Staatsparteien zu Parteistaaten geworden sind. Wo es für die revolutionäre Kritik offensichtlich wird, dass das Proletariat nicht nur gegen eine bestimmte Staatsform, sondern gegen den Staat, nicht nur gegen eine bestimmte Partei sondern gegen die Partei, gegen die Partei als Organisationsform zu kämpfen hat. Und wo gegen das Monopol-Staatskapital, gegen den Parteistaat, gegen den „demokratischen Zentralismus“ der bürgerlichen Parteien und Staaten der Rätegedanke aufkommt, [damit?] den vielleicht noch primitiven und verzerrten „diktatorischen Föderalismus“ der Avantgarde-Aristokratie, der ihr die Selbsttätigkeit des Proletariats entgegenstellt. [?]


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Compiled by Vico, 2 December 2020