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Antonie Pannekoek Archives

Rätekorrespondenz

Quelle: a.a.a.p.


Rätekorrespondenz

Internationale Rätekorrespondenz 1934-1937 / Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland). – Transkribiert und herausgegeben für Rätekommunismus ; Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek, Dezember 2020, 504 S., € 13,16, ISBN 979-8551636052


Sowjet-Russland von Heute


Quelle:  Sowjet-Russland von Heute – In: Internationale Rätekorrespondenz : Theoretisches und Diskussionsorgan für die Rätebewegung.  – Ausg[abe]. der Gruppe Int[ernationaler]. Kommunisten, Holland. – 1936, Nr. 20 (Dezember); Quelle der Transkription: Rätekommunismus , 23. November 2020, Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek.


I. Kritik an den Kritikern

Die „16 Schüsse“ in Moskau haben in der Welt ihren Widerhall gefunden. Sie haben Anlass gegeben zu einem großen Rätselraten in Bezug auf die Frage, was wohl der wirkliche Grund dieses Geschehnisses sei. Abgesehen von den durch die Moskauer Zentrale dressierten sogenannten Kommunisten, herrschte überall Einigkeit darüber, dass man es hier mit einem der dunkelsten Punkte der Geschichte der letzten Zeit zu tun habe. Vergleiche mit der Reichstagsbrandaffäre oder dem 30. Juni von Hitler sind vielfach gezogen worden. An allen möglichen Hypothesen herrschte kein Mangel, nur eine ernstzunehmende Untersuchung der Ursachen dieser ganzen Geschichte hat bis jetzt auf sich warten lassen. Man hat sich die Köpfe zerbrochen über Fragen, wie schuldig oder unschuldig, ohne zu bemerken, dass eine derartige Fragestellung, ob sie nun bejahend oder verneinend beantwortet werde, unter keinen Umständen das Wesentliche der Sache betrifft. Im besten Falle ist eines nachgewiesen, nämlich die alles übertreffende Verwirrung in Bezug auf Probleme, die für die Arbeiterklasse von besonderer Bedeutung sind.

Diese Verwirrung erscheint uns nicht als etwas Zufälliges, sondern wir meinen eine Reihe von Ursachen dafür anzeigen zu können. Die wichtigste Ursache für die Unfähigkeit kritischer objektiver Behandlung russischer Probleme liegt für die Parteien, welche die sogenannte alte Arbeiterbewegung repräsentieren, darin enthalten, dass jede wesentliche Kritik an Russland auch eine Kritik ist am Wesen eben jener alten Arbeiterbewegung. Jene Sozialisten, die in Russland ihre Ideale ganz oder teilweise realisiert sahen, können sie die russische Realität in ihrer brutalen Nacktheit erkennen, ohne vorher zur Erkenntnis der Nacktheit ihre eigene Ideale gekommen zu sein? Sie sind zum Ersten nicht fähig, weil sie zu ideologischem Selbstmord nicht fähig sind. Wenn man begreifen will, warum sich Russland vom Oktober bis zur Ausrottung der menschlichen Repräsentanten der Oktobertage entwickeln musste, so hat dies zur Voraussetzung ein Begreifen und das richtige Einschätzen der ökonomischen Struktur dieses Landes. Alle persönlichen Verhältnisse in einer Gesellschaft sind nur verpersönlichte Sachenverhältnisse. Das weiß Herr Bauer ebenso gut wie Herr Trotzki, sie nennen sich ja beide Marxisten, und doch hat uns keiner gezeigt, wie die Sachen sich wirklich verhalten.

Die Bauer und Adler usw., für die Russland das Land des werdenden Sozialismus ist, sie tun erschreckt und reden von einem Rückfall in vergangene Verhältnisse, von einem „Unglück für den Sozialismus“, oder gar von „barbarischem Sozialismus“. Wir dürfen von ihnen nicht erwarten, dass sie erkennen, wie sehr gerade das Ideal für den Rückfall in die Barbarei prädestiniert ist, sondern müssen es unserer Klasse beweisen.

Und Trotzki? Die ganze Schlammflut von Lüge und Gemeinheit bezahlter Russophilen hat sich über ihn ergossen. Sollen wir warten, bis er uns den Nachweis bringt, dass das Spritzen mit Unrat auch schon zu Trotzkis Zeiten zu einer Spezialität der russischen Machthaber gehörte und dass es absolut nicht erst seit Stalins glorreichem Regime üblich ist, Arbeiter und Kommunisten zusammen zu schießen, dass solche Handlungen vielmehr zu den Lebensnotwendigkeiten des russischen Systems gehören? O, nein. Trotzki versucht das Gegenteil zu tun und wir erwarten nicht mehr von ihm. Als die Kronstädter Kommunarden wie „Fasane abgeschossen“ wurden, geschah dies, weil die Bestrebungen derselben dem Staate von anno 1920 feindlich gegenüberstanden, trotzdem es Forderungen revolutionärer Arbeiter waren. Wenn die „Sechszehn“ öffentlich und andere geheim erledigt wurden, so doch nicht etwa darum, weil Russland von heute noch nicht einmal den relativen Kommunismus der Sinovjev-Kamenev mehr dulden kann? Es erscheint uns nicht so wesentlich, ob man auf Trotzkis oder Stalins Befehl abgeknallt oder verbannt wird, sondern warum solches geschieht. Die Antwort auf dieses „Warum“ wird sich die Arbeiterklasse selbst suchen müssen; und nur diejenigen marxistischen Kräfte in ihr, welche auf dem Standpunkt der Klassenmacht stehen, also weder mit den Auffassungen Stalins oder Trotzkis oder der Herren von der Zweiten Internationalen sich identifizieren, können diese Antwort in die treffenden Worte kleiden.

Ob schuldig oder unschuldig, dieses ist von zweitrangiger Bedeutung. Die Frage ist nicht, ob diese Sinovjevs (um dieses Wort als Gattungsname zu gebrauchen) Terroristen waren, oder ob die Kronstädter zu den Insurgenten zu zählen sind, sondern, warum zählen und zählten Kommunisten, die mit den Herrschenden im Kreml nicht eins waren, zu den Vogelfreien, warum macht der kommunistische Staat Kommunisten unschädlich mittels Kugel oder Sibirien, und mündet letztlich in der neuen Frage; wer ist eigentlich kommunistisch, der „Staatskommunismus“ oder die Kommunisten?

Diese letzte Frage ist der Angelpunkt für ein klares Erkennen und Begreifen dessen, was sich in Russland abspielt, und wer auf sie keine eindeutige Antwort geben kann, der wird von Ereignissen wie der sechzehnfache Mord überrascht werden, wie vom Blitz aus heiterem Himmel, gleich jene naiven Gemüter unter den „Freunden des neuen Russlands“, die, weil sie es bis zum Langeweilen in eigenst für sie geschriebenen Traktätchen gelesen hatten, nun auch glauben, dass im Lande ihrer Träume alles in bester Ordnung sei.

Am Beginn der Erkenntnis steht der Zweifel; dies gilt auch für Russland. Wir wollen darum im Folgenden das russische Problem von einigen Seiten beleuchten, um es seiner Problematik zu entkleiden.

II. Ein wesentliches Moment in der Entwicklung Russlands in den letzten Jahren

Dem interessierten und aufmerksamen Beobachter der Zustände im „roten Sechstel der Erde“ ist ohne Zweifel aufgefallen, wie besonders in der letzten Zeit eine Reihe, vom funktionieren Standpunkt aus gesehen, äußerst reaktionärer Maßnahmen durchgeführt wurden. Gemeint sind das Abortusverbot, Einführung neuer Rangstufen im Heere wie Marschälle u.a., Einführung neuer autoritärer Schulreglements und noch eine Unmenge anderer Dinge. Die angedeuteten Maßnahmen bewegen sich meist auf kulturpolitischem Gebiete und sind nur verständlich, wenn man sie als Folge tieferliegender Ursachen zu erkennen versucht, Ursachen nämlich, die dem Gebiete der Ökonomie entstammen. Wenn es wahr ist, dass Veränderungen in der Sphäre der Ideologie, als des geistigen Überbaus einer Gesellschaft, Veränderungen und zwar qualitativ gleichartige in ihrer Basis, in der Ökonomie, zur Voraussetzung haben, so müssen für Russland derartige Veränderungen oder Kräfteverschiebungen nachweisbar sein. Und selten war eine Forderung leichter erfüllbar als diese. Wir haben in Russland in der letzten Jahren eine ganze Reihe von Neuregelungen konstatieren können und zwar solcher Art, wie sie nur durch wesentliche, ja prinzipielle Verschiebungen der Machtverhältnisse hervorgerufen werden können. In diesem Zusammenhang ist nur nötig, die seinerseits aufsehenerregende Rede Stalins über die sechs Bedingungen oder Veränderungen, die im Juni 1931 vor einer Zusammenkunft russischer Wirtschaftler gehalten wurde, der halben Vergessenheit zu entreißen. Die Kominternpresse nannte diese Rede damals eine von historischer Bedeutung und hat in diesem Falle kein Wort zu viel gesagt.

Selten hat ein Politiker so radikal mit dem alten, bis dahin gefolgten Kurs gebrochen, als Stalin in 1931. Nun zum wesentlichen Inhalt der Rede, zu den Veränderungen. Stalin forderte die Aufhebung der bis dahin bestehenden, relativen Gleichheit in der Entlohnung der Arbeiter, er brandmarkte diese Gleichheit als öde Gleichmacherei und verlangte die Einführung eines ganzen Systems von Lohnstufen, und er forderte weiter die Abschaffung der kollektiven Leitungen in den Betrieben und Ersetzung derselben durch die persönliche Leitung eines allein dem Staate verantwortlichem Funktionärs. Der wichtigste Punkt in den Stalin’schen Ausführungen aber war zweifellos die Ankündigung der Einführung des Rentabilitätsprinzips für alle Betriebe. Der Rede folgte dann sofort eine Reihe Dekrete, welche diese und andere Forderungen Stalins in die Form von Gesetzen kleidete. Mehr als 30 Lohnstufen entstanden in der Folge, Lohnunterschiede von hundert Rubeln ansteigend bis zu einigen 1000 Rubeln im Monat kamen auf die Tagesordnung. Das Mitbestimmungsrecht der Arbeiter in den Betrieben wurde praktisch auf Null reduziert, die „roten Direktoren“ wurden zu Autokraten in ihrem Reiche. Sie bekamen die für die Rentabilisierung ihres Betriebs nötigen Vollmachten. Eine Rationalisierung der Arbeitsprozesse wurde durchgeführt, eine mordende Jagd nach Erreichung eines möglichst hohen Lohns ins Leben gerufen. „Akkord ist Mord!“ schrien die Stalinisten in den außerrussischen Ländern, in Russland selbst priesen sie die wundertätige Wirkung der Akkordlöhne.

Die Gewerkschaften wurden bald danach mit dem Arbeitskommissariat vereinigt und hörten endgültig auf, den tatsächlichen Kampf für die Verbesserung der Lage der Arbeiter zu führen. Sie wurden zu Versicherungsvereinigungen und Propagandainstrumenten des Staates für eine möglichst hohe Aufführung der Arbeitsleistungen (siehe Beschluss des Z.K., 23. Juni 1933). Ja, sogar die Versorgung der Arbeiter mit Lebensmitteln erfuhr eine Umorganisierung; sie wurde zum großen Teil in die Hände der Betriebsleitungen gelegt, die sie als Mittel gebrauchten, „den besseren Arbeitern bessere Lieferung mit Lebensmitteln zu gewährleisten...“ Hatte bis dahin in der Arbeiterklasse eine ziemliche Gleichheit der Lebensverhältnisse bestanden – die zwar am besten als eine Gleichheit in Bezug auf das gemeinsame Elend qualifiziert wird –, nun begann sich in ihr eine Verschiedenheit der Lebenshaltung zu entwickeln, eine Verschiedenheit der Interessen und eine solche in der Beurteilung des Staates und seiner Einrichtungen. Eine Zeitspanne, die der Gleichschaltung des Arbeiterbewusstseins alle ökonomischen Bedingungen [?] lieferte, hatte ihr Ende gefunden.

Und die Ursache all dieser Maßnahmen, die damals bereits von verschiedenen Richtungen in der Arbeiterbewegung als reaktionär, ja, kapitalistisch gekennzeichnet wurden, wo haben wir sie zu suchen? Stalin sagt es uns in derselben oben erwähnten Rede, siehe Seite 30 der Broschüre „Neue Verhältnisse – neue Methoden“. „Es folgt schließlich, dass man sich nicht mehr mit den alten Akkumulationsquellen begnügen darf; die weitere Entwicklung der Industrie und Landwirtschaft verlangt Einführung des Rentabilitätsprinzips, Verstärkung der Akkumulation innerhalb der Industrie.“

Wenn in kapitalistischen Ländern die Akkumulation infolge Mangels an Mehrwert nicht mehr gewährleistet ist, so weiß jeder Prolet aus seiner täglichen Praxis, welche Methoden der Kapitalist zur Anwendung bringt. Sie laufen, ungeachtet ihrer oft durch philanthropische Mätzchen verschleierten Form, immer aus auf eine Verschärfung der Ausbeutung. Auffallend, wie sich hier „der erste und einzige Arbeiterstaat“ derselben Methoden bediente. Nicht wenigen Kommunisten ist damals ein wesentlicher Teil ihrer Illusion zerschlagen worden. Die harte Wirklichkeit zwang sie zum Begreifen der Tatsache, dass ihre Überzeugung, die Nationalisierung der Produktionsmittel sei eine genügende Garantie für das Verschwinden der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, ein Irrtum war. Allmächtige Staatsorgane anstelle mächtiger Kapitalisten pressten den einzelnen unter Anwendung der raffiniertesten Arbeitsmethoden zur Hergabe seiner letzten Kräfte, allmächtige Staatsorgane gaben dem Einzelnen dafür als Entgelt einen Betrag als Lohn, der kaum zur Aufrechterhaltung des nackten Daseins reichte. Dieses Verhältnis des russischen Arbeiters zum Staate und seinen Funktionären, gleicht es nicht aufs Haar demjenigen, worin der Lohnsklave in Westeuropa zu seinem Brotherrn steht? Neunmalweise Stalinisten erzählen uns zwar vom Gemeinschaftseigentum an den Produktionsmitteln, welches im „Sowjetstaat“ bestehe, noch weisere Trotzkisten haben bis dahin im selben Chor, wenn auch nach anderer Melodie mitgesungen. Ist die Frage nicht berechtigt, warum denn die Arbeiter, die „gemeinschaftlichen Besitzer“ dieser Produktionsmittel, so wenig Interesse zeigten, dieses, ihr Eigentum, möglichst rasch zu vermehren, dass Herr Stalin sie mit Hungerpeitsche und Zuckerbrot an ihre Pflichten erinnern musste? Ja, sogar mit strengen Gesetzen „zum Schutze des sozialistischen Eigentums“ verhindern musste, dass die Arbeiter „ihr eigenes Eigentum“ stickum in der Tasche mit nach Hause nahmen? Sind denn die russischen Proleten ebenso dumm, ebenso kurzsichtig, wie die Herren Stalinisten weise sind, begreifen sie nicht die Schädigung ihrer ureigensten Interessen, die sie sich selbst zufügen?

Wir glauben sicher, dass der russische Arbeiter begreift, wenn auch nicht, was ihm die Apostel der Komintern verkünden, so doch dies, dass er in keinem direkten Verhältnis steht, weder zu den Produktionsmitteln, noch zu dem Produkt seiner Arbeit. Er hat kein Interesse an diesen beiden Dingen, weil er Lohnarbeiter ist, gleich seinen Brüdern jenseits der Grenzen der u.d.s.s.r. Ob nun das Proletariat der UdSSR dies Letztere in seiner Gesamtheit völlig begriffen hat, oder ob noch großen Massen ihre Ausbeutung durch Illusionen verschleiert wird, Tatsache ist, dass es trotzdem handelte und handelt, wie nur eine ausgebeutete Klasse zu handeln vermag. Und Stalin, ob er sich seiner Rolle als Oberhaupt einer auf Ausbeutung beruhenden Gesellschaft bewusst ist oder nicht, niemand hätte besser als er 1931 und später es tat, die Notwendigkeiten einer solchen formulieren können.

Die russischen Verhältnisse sind nicht erst seit gestern kapitalistisch, ebenso wenig wie sie es erst seit 1931 geworden sind. Sie waren es im Wesen schon seit dem Zusammenschlagen der letzten frei gewählten Arbeiterräte, aber nach 1931 hat sich diese Wirtschaft in beschleunigtem Tempo aller ihrer Struktur fremden Elemente entkleidet. Sie zeigt heute bereits sehr deutlich ihr wahres Gesicht und ebenso wie der Baum an seinen Früchten, kann man die „Sowjet“-Gesellschaft an ihren Handlungen erkennen, ein Erkennen, das wie schon gesagt, in dem Maße deutlicher und eindeutiger wird, wie die Einsicht in die Struktur sich vertieft.

Diejenigen Schichten, besonders unter den alten Bolschewisten, die die Ehrlichkeit als eine der Haupttugenden des Revolutionärs betrachteten und sich darum unfähig erwiesen, den Stalinkurs durchdrücken zu helfen, sind seit Jahren schon in erbitterter Opposition zum heutigen Regime. Sie gehören heute bereits zu den Fremdkörper im russischen System und werden von ihm eliminiert. Schon die Auflösung der Organisation der alten Bolschewiki im vorigen Jahr und die Verbannung maßgebender Mitglieder derselben, besonders in der letzten Zeit, zeigt eindringlich, wie sehr diese Behauptung der Wahrheit entspricht. Ein Bolschewik, ein klassenbewusster Arbeiter, ein Kommunist, er kann die Maßnahmen der Sowjetregierung nicht mehr vor den Massen vertreten, er kann sie nicht zur Durchführung bringen, ohne aufzuhören, Kommunist zu sein. Er wird für die Machthaber unbrauchbar und wertlos in dem Maße, als er sich seiner Funktion als Helfershelfer der ausbeutenden Hierarchie bewusst wird. Hier liegt aufgeschlossen, warum sich notwendig auch andere Menschen in seine Funktionen drängen müssen, Menschen mit anderen Auffassungen, vor allen Dingen aber ohne Zugehörigkeitsgefühl zur Arbeiterklasse.

Die wichtigen Beschlüsse nach 1931 waren Notwendigkeiten, die sich aus der Entwicklung ergaben und wurden Ursache für wesentliche Verschiebungen in dem Verhältnis der Klassenkräfte in der u.d.s.s.r. Verschärfung der Ausbeutung ist nicht möglich ohne Vergrößerung des Apparates, der sie unmittelbar durchführt. Da die Arbeiterklasse sich nicht selbst ausbeuten kann, muss dieser Apparat aufgebaut sein auf Menschen, die ihr nicht angehören. Beamte, Angestellte, „vom Kommandeur der Industrie“, wie Stalin sie nennt, gestützt auf eine breite Schicht von Arbeiteraristokraten, fungieren als Handlanger der herrschen Clique und erfreuen sich darum des Genusses einer Reihe von Vorrechten, die sich weit über das Niveau des Durchschnittsproleten erhebt.

Das ist der Zustand, wie er heute in Russland herrscht. Allem Gerede vom bevorstehenden Übergang in die klassenlose Gesellschaft zum Trotz hat sich in den letzten Jahren eine neue Klasse gebildet. Die Proletarier stehen zu den Produktionsmittel in keinem Besitzverhältnis, sie sind Verkäufer ihrer Arbeitskraft, dort wie hier; diese Klasse dagegen, Parteifunktionäre, Leiter von Genossenschaften, Unternehmungen, die ganze Bürokratie des Staates, der Verwaltung der Produktion und Distribution gehören ihr an, sie fungiert als Verwalterin der Produktionsmittel, als Käuferin der Arbeitskraft, als Besitzerin des Arbeitsprodukts, sie beherrscht kollektiv und doch autokratisch, alle Sphären der russischen Wirtschaft. Sie bringt keinen Mehrwert hervor, sondern lebt von der Mehrarbeit der Millionen Lohnsklaven, denen sie alle Rechte entnahm und entnimmt, und sich selbst privilegiert in einem Maße, das sie deutlich unterscheidet von der grauen Masse des russischen Proletariats. Ihr Bewusstsein ist darum auch kein Arbeiterbewusstsein, sie ist an der Ausbeutung interessiert und dieses Interesse ist bestimmend für die Formung ihrer Auffassungen. In unerbittlicher Feindschaft steht sie zu allen Kräften in der Gesellschaft, die die tatsächliche Aufhebung der Ausbeutung propagieren. Sie fühlt sich notwendig in ihren Privilegien bedroht durch jene, und lässt kein Mittel ungebraucht, um den Feind zu vernichten. Sie richtet ihre ganze Kraft auf den Ausbau der im Laufe der Jahre erhaltenen Privilegien und liquidiert somit alle durch die Oktoberrevolution geschaffenen sachlichen Verhältnisse und legt selbst Hand an die menschlichen Vertreter dieser Überreste der Revolution. Die Tausenden, bis in die Polarzone verbannten Bolschewiki und revolutionären Arbeiter, Hetakomben Ermordeter, sie kommen alle auf das Konto dieser Klasse von Ausbeutern und Parasiten.

Um die gigantische Masse Mehrwert, nötig zum Aufbau und Umbau einer ganzen Wirtschaft, aus den Knochen der Masse schinden zu können, war es nötig, eine Klasse von Bütteln und Antreibern zu schaffen. Heute besteht sie und entwickelt ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, und zwar solche, die dem Kommunismus feindlich sind, die auf die Festigung der heutigen Verhältnisse auslaufen und darum jedem Revolutionär als reaktionäre Maßnahmen gegenübertreten.

Was sich in Russland in den letzten Jahren abspielte, war nichts weiter als ein Befreiungsprozess, nicht der Volksmassen, sondern der ökonomischen Struktur dieses Landes von ihrem politischen Ballast. War ein sich Durchsetzen der Notwendigkeiten der Ausbeutergesellschaft indem eine Lücke in ihrem Bau sich schloss, nämlich die Anwesenheit einer klar und deutlich als ausbeutende Klasse fungierenden Schicht. Die endgültige Konstituierung derselben, das ist das Wesentliche in der Entwicklung Russlands in den letzten Jahren. Wer dieses als solches nicht begreift, wird sich immer unfähig erweisen müssen, all die Dinge zu verstehen, die sich in Russland abspielen und in Zukunft abspielen werden. Die u.d.s.s.r. ist endgültig zu einem kapitalistischen Staat geworden. Alle Lebensformen in ihr sind kapitalistisch, alle ihre Handlungen lassen an Eindeutigkeit nichts mehr zu wünschen übrig. Der Weg vom Oktober zurück zum Februar ist gegangen, ohne ein Weg zurück zu sein. In Russland ist geschehen, was für Russland notwendig war. Die Proletarier, zu schwach um als Klasse im Namen der Gemeinschaft die Produktion zu organisieren, haben das Feld geräumt vor einer Parteibürokratie, die nur als Vertreterin partieller Interessen handeln konnte, die getan hat, was anderswo die privaten Kapitalisten vollbrachten, nämlich die Produktionsmittel entwickelte und weiterentwickelte bis zur historischen Grenze, die die geschichtliche Rolle der Bourgeoisie übernahm und dabei bürgerlich entarten musste, die fortschrittlich handelnd das Rad der Geschichte voraus drehte und nun an den Punkt angelangt, den die Bourgeoisie der anderen Länder schon längst erreichte. Die beginnt ein Hindernis zu werden für die Entwicklung Russlands in allgemein menschlicher Richtung. Hier ist kein Raum für moralische Disqualifizierung von Personen, die das Ruder in dieser Zeit geführt haben, hier muss begriffen werden, dass jede Person, jede Macht, die anstelle der heutigen Personen und Mächte gestanden hätte, dieselbe Entwicklung erfahren hätte.

III. Die Lage der Kräfte im gegenwärtigen Russland

Die Verhältnisse in der Agrarwirtschaft

Haben wir bis jetzt das allgemeine Verhältnis zwischen dem russischen Proletariat und der kommandierenden Schicht in der Industrie besprochen, so soll im Folgenden dieses Verhältnis noch mehr verdeutlicht und beleuchtet werden, miteinbezogen derjenigen in der „klassenlosen“ Gesellschaft noch bestehenden Klasse, die in der letzten Zeit diese Bedeutung sogar konstitutionell bescheinigt bekam, nämlich die Bauernklasse.

Die Unterschiedlichkeit in den Lebensverhältnis zwischen den erstgenannten Schichten konnte im Laufe des ersten Fünfjahresplanes trotz aller Maßnahmen noch nicht zur völligen Entfaltung kommen. Die Bürokratie hatte das Proletariat noch nötig für einen innerrussischen Eroberungsfeldzug. Sie musste nämlich, um ihre Position in der Industrie konsolidieren zu können, sich einen entscheidenden Einfluss auf den agrarischen Teil der russischen Wirtschaft sichern. Die Anarchie in den bäuerlichen Produktionsverhältnissen begann die ganze Wirtschaftsentwicklung und damit hauptsächlich auch die herrschende Schicht zu gefährden. Die Einführung von anderen, den derzeitigen superioren Produktionsmethoden, war für Russlands Bauernwirtschaft schon längst eine historische Notwendigkeit. Jede Regierung hätte sie einmal durchführen müssen. Erstens, um die Lohnarbeiter des eigenen Landes billiger ernähren zu können; zweitens, um den inneren Markt um ein wichtiges Absatzgebiet zu bereichern.

Die Bürokratie proklamierte die Kollektivierung der russischen Landwirtschaft und führte sie „im Namen des Kommunismus“ durch; letzteres darum, weil sie sonst keine zusätzlichen Kräfte aus dem Proletariat hätte mobilisieren können. Es ist bekannt, auf welchen verzweifelten Widerstand von Seiten der Bauern die Kollektivierung stieß, ein Widerstand, den die Regierung nicht hätte brechen können mit einem ihr feindlichen Proletariat im Rücken. Um „im Namen des Kommunismus“ den Bauernbetrieb aus seinen, noch aus der feudalen Periode stammenden Organisations- und Produktionsformen herauszureißen zu können, und als homogenen Teil dem Gesamtbetriebe ihres Kapitalismus einzugliedern, musste ebenfalls „im Namen des Kommunismus“ dem Proletariat trotz frontal gegenüber gestellter Notwendigkeit noch manches Zugeständnis gemacht werden. Wie hart der Kampf auf den, Kollektivierung geheißenen Frontabschnitt war, wird deutlich, wenn man bedenkt, wie er zur Auswanderung zehntausender Bauer führte und zur Verbannung weiterer Hunderttausender. Bewaffnete Arbeiter waren nötig, sie haben, glaubend das Dorf für den Sozialismus zu erobern, der Dorfarmut geholfen, sich aus ihren rückständigen Verhältnissen zu befreien, durch Zerschlagung derselben. Sie haben die feudalen Überbleibsel sowie auch den freikommenden Privatkapitalismus auf dem Lande ausgerottet und freie Bahn geschaffen für die der Kontrolle der Bürokratie unterstehenden Bauerngenossenschaft.

Der bis dahin bestehende individuelle Betrieb war, besonders insoweit er Kleinbetrieb war, im weitesten Sinne unabhängig von der Industrie, das heißt also auch unabhängig von den Führern derselben. Die Bauern hatten einfach keine Bedürfnisse, die sie fest an die Industrie hätten binden können. Sie mussten in irgendeiner Weise, und sei es durch zwangsweise Schaffung solcher Bedürfnisse, aus ihrer isolierten Stellung herausgehoben werden. Andererseits war die notwendige Hebung der Produktivität des Landbaus nicht denkbar ohne Anwendung industrieller Produkte, das heißt Traktoren, Dreschmaschinen, Combines usw.

Ja, schon die Zusammenlegung der Ländereien der einzelnen Bauern zwang zur Anwendung größerer Produktionsmittel, die nicht, wie der bisher gebräuchliche Pflug, die Egge und dergleichen, durch den Bauer selbst verfertig werden konnten, sondern Produkt der Industrie sind. Heute hat dieser Prozess sich schon zum sehr großen Teile vollzogen, 87% der bebauten Fläche werden in diesem Jahre kollektiv bewirtschaftet, ungefähr 300 000 Traktoren sind bis jetzt im Gebrauch, die Zahl der angewandten komplizierten Maschinen wie Dreschmaschinen, Combines etc. geht in die Zehntausende. Die ganze Landwirtschaft ist von Grund auf umgebaut und damit auch ihr Verhältnis zu den übrigen Teilen der russischen Wirtschaft.

Die Schuldverpflichtungen der Kollektivbauern gegenüber dem Staat sind ungeheuer. Ihr Isolement ist zerbrochen, sie sind in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Staat gekommen, welches ihnen täglich mehr bewusst wird. Die Produktion allein für den Markt wird zur vorherrschenden, woraus notwendig resultiert, dass das Handeln der Bauern unter den Einfluss kommt von Gesetzmäßigkeiten, denen es früher nicht unterworfen war. Die Bauern stehen heute unter dem Einfluss der Preispolitik der Regierung und kommen für die indirekte Besteuerung in Betracht; die Kreditinstitute des Staates haben die Möglichkeit, Druck auf sie auszuüben. Im letzten Jahre macht eine in dieser Hinsicht interessante Tendenz des Staates sich mehr und mehr bemerkbar, nämlich es wird immer mehr gebräuchlich, besonders große Produktionsmittel nicht mehr an die Kollektivwirtschaften zu verkaufen, sondern sie ihnen nur zu vermieten. Zu diesem Zwecke sind auf dem Lande einige tausend sogenannte „Motor- und Maschinenstationen“ (m.t.s.) geschaffen worden. Es gibt wohl kaum jemand, der die ungeheure Bedeutung der letzten Tatsache abstreiten dürfte. Sie ist ein Anzeichen für das Ausmaß des Einflusses der Möglichkeiten, der sich die Bürokratie jetzt schon und noch mehr noch in der Zukunft bedienen kann. (Im Jahre 1933 betrug zum Beispiel die Zahl der Traktoren in den m.t.s. bereits 122 300, während die in den übrigen Sektoren angewendeten nur 81 800 betrug.)

Die Kollektivierung hat als neue Form der Betriebsführung das „Artel“ geschaffen. Hierunter muss ein, im Gegensatz zur Bauernkommune, die heute in Russland überall verschwindet, ziemlich loser Zusammenschluss von Besitzern an Produktionsmitteln verstanden werden. Eine gewisse Ähnlichkeit mit der hierzulande auch oft zu findenden Bauerngenossenschaft ist unverkennbar, nur dass im „Artel“ nicht nur Dreschmaschine oder Molkerei gemeinsam benutzt werden, sondern alle Maschinen, Wirtschaftsgebäude und der größte Teil des Landes unterstehen der gemeinsam Benutzung.

Sieht auf den ersten Blick solch ein „Artel“ sehr sozialistisch aus, bei näherem Zusehen entdeckt man deutlich den kapitalistischen Pferdefuß. Hören im Sozialismus alle Besitzverhältnisse auf zu bestehen, so ist das „Artel“ lediglich eine neue Form der Besitzverhältnisse. Es muss notwendig die Ungleichheit des Besitzes gebären, samt der damit verbundenen Ungleichheit der Anschauungen, Zielsetzungen, Interessen der ihr zugehörigen Individuen.

Außerdem besteht im „Artel“ die Lohnarbeit als Verhältnis, welches die Beziehungen seiner Mitglieder zueinander regelt. Es werden Löhne nach der Größe der geleisteten Arbeit ausgezahlt, wobei auch noch der Unterschied der Qualität der Leistung in Anrechnung gebracht wird. Obendrein kann das „Artel“ Arbeiter beschäftigen, die nur Lohn empfangen und auf weitere Rechte keinen Anspruch haben, es kann also als Ausbeuter auftreten. Mitglied eines „Artels“ kann man nur werden, wenn eine der Mehrheit der Artel-Mitglieder genügend erscheinende Besitzmasse mitgebracht werden kann. Ist das „Artel“ keine sozialistische Form, so ist es doch den bisherigen bäuerlichen Verhältnissen weitaus überlegen; es gestattet durch Anwendung von Maschinen und Rationalisierung der Arbeit eine wesentliche Erhöhung der Produktivität der bäuerlichen Arbeitskraft und steigert somit den Anteil des Einzelnen am Gewinn. Dies Letztere war geeignet, die neue Form, trotz aller anfänglicher Abneigung, populär zu machen.

Für den sorgfältigen Beobachter ist hierbei zwar sichtbar, wie alle genannten Maßnahmen in der Konsequenz zur Aufhebung des Bauerntums führen müssen, ebenso wie sich ihre Position immer mehr der der Arbeiter angleicht. Die Bauern scheinen jedoch diese Veränderung ihrer Verhältnisse in der angedeuteten Richtung noch nicht zu bemerken, sie sehen nur die Oberfläche des neuen Verhältnisses, eben die steigenden Einnahmen, begrüßen darum die neue Form, oder finden sich zumindest mit ihr ab. Und dies Letztere ist ein neues Moment von wesentlicher Bedeutung, welches bei einer Untersuchung der Dinge in Russland nicht außer Betracht gelassen werden darf.

In dem Moment, wo die Bauernschaft als Massenbasis für die Sowjetregierung in Anmerkung [?] kommt, wird die Bürokratie vom Proletariat unabhängiger. Jetzt ist ihr die Möglichkeit gegeben, diese beiden Klassen gegeneinander auszuspielen. Und niemand kann sagen, sie haben diese Chance ungenutzt liegen lassen. Im Gegenteil, ihre ganze inländische und ausländische Politik trägt seitdem, das heißt zur Hauptsache seit dem „vollkommenden Siege der Kollektivierung“, der im vorigen Jahre verkündet wurde, deutlich wie nie zuvor den Charakter einer „Balance of Power“-Politik. Mit den Proleten gegen die Bauern mit den Bauern gegen die Proleten, das ist die große Möglichkeit der russischen Bürokratie, welche sie wechselseitig anwendet zur Festigung ihrer eigenen Macht.

Wir haben also heute in Russland „am Eintritt in die klassenlose Gesellschaft“ mindestens drei Klassen, die in ihrem Verhältnis zu den Produktionsmittel sich deutlich voneinander unterscheiden. Die Proletarier stehen in keinem Besitzverhältnis zum Produkt ihrer Arbeit und seinen Erzeugungsmitteln. In der Bauernklasse ist vorherrschend ein am besten als unter Staatskontrolle stehender Gruppenbesitz zu bezeichnendes Verhältnis. Die Bürokratie, gipfelnd in der herrschenden Hierarchie, besitzt und beherrscht anonym und kollektiv die industriellen Produktionsmittel, sie lässt nichts unversucht, um auch die Agrarwirtschaft unter ihre Botmäßigkeit zu bekommen.

Diese Unterschiedlichkeit erzeugt jeden Tag aufs neue eine Unterschiedlichkeit in der Lebenshaltung und der Ideologie der Angehörigen dieser Kategorien. Das Proletariat, arm und ausgebeutet, ist interessiert an der Aufhebung der Ausbeutung und ihrer dinglichen Voraussetzungen. Die Bauern fordern mit der Verbilligung der Industrieproduktion die Verschärfung der Ausbeutung der Arbeiter und drängen zur weiteren Anpassung der gesamtrussischen Verhältnisse an die Notwendigkeiten ihrer Produktionsform. Die Bürokratie sitzt beiden im Nacken, drückt bald auf diesen, bald auf jenen mehr, immer bestrebt, aus beiden Schichten Profit zu ziehen. Immer bestrebt, herrschende Schicht zu bleiben.

Die Lage der Arbeiter

Um das geschilderte Verhältnis plastisch aufzuzeigen, ist es notwendig, einen allgemeinen Einblick in die Konsumtionsverhältnisse der einzelnen Klassen in Russland zu geben. Die unvorteilhafte Lage der Schöpfer der Existenzbasis der ganzen Gesellschaft wird hierbei so deutlich, dass das Geschwätz der Kominterner vom russischen Arbeiterstaat sich für jeden klassenbewussten Arbeiter auf seinen wirklichen Wert reduziert.

Heute nämlich haben sich die 1931 von Stalin genannten sechs Veränderungen bis zur letzten Konsequenz durchgesetzt. Die oben angedeutete Gewinnung der Bauern als Massenbasis machte dem bereits 1931 angekündigten Kurs auf Verschärfung der Ausbeutung des Proletariats freie Bahn. Nach dem bereits genannten „endgültigen Sieg der Kollektivierung“ im vorigen Jahre begann sich ein wahres Trommelfeuer reaktionärer Verordnungen gegen das Proletariat zu richten. Die herrschende Klasse formulierte ihre Rechtsverhältnisse; sie konnte dies, weil ihr nun ihre Besitzverhältnisse als gesichert erschienen. Die Wiedereinführung des freien Marktes gab den Interessen der Bürokratie und der Bauern realen Ausdruck.

Die Proletarier wurden zum Opfer der erbarmungslosen Schärfe dieser Verordnung. Mit dem Durchsetzen der Warenwirtschaft wurde auch der Warencharakter der Arbeitskraft deutlich. Die gigantischen Lohnunterschiede, die sich in den letzten Jahren herausgebildet hatten, die Unterschiede im Verhältnis 1 : 20 nicht als Seltenheit enthalten, kam in dem Moment brutal zur Wirkung, als die sogenannte verschiedene Kaufkraft des Rubels verschwand, als im Herbst 1933 alle Warenwerte für jeden auf dieselbe Recheneinheit gebracht wurden. Hatten bisher sogenannte Mindestrationen das Existenzminimum, besonders der schlechter Entlohnten, garantiert, jetzt wurde der Lohn zum einzigen Gradmesser des Rechtes des Einzelnen auf die Konsumtion. Angebot und Nachfrage begannen ihre Wirkung jetzt uneingeschränkt auf die Preise auszuüben und trieben sie katastrophal in die Höhe. Bezeichnend für die schmierige Verlogenheit der Bürokratie ist, wie sie diese Preiserhöhung in einem fort als Preissenkung deklarierte, während die Proleten die Kaufkraft ihrer Verdienste zusammenschmelzen sahen. Allerdings, für die gut bezahlten Schichten, und die Bürokratie gehört ihnen an, die schon vorher einen großen Teil vom „freien Markt“ holen mussten, weil bessere Lebensmittel in den Kooperativen doch nicht zu haben waren, ist eine Preissenkung erfolgt, und zwar eine ebenso enorme, wie die Preissteigerung in den Arbeiterkooperativen.

Die Einführung kapitalistischer Marktverhältnisse gibt die Möglichkeit, das Lebensniveau der einzelnen Klassen in der u.d.s.s.r. an ihrem Lohn festzustellen. Die Gesamtsumme aller in diesem Jahre auszuzahlenden Löhne und Gehälter beträgt laut Plan 63,4 Milliarden Rubel, während die Gesamtzahl der Lohn- und Gehaltsempfänger vom Moskauer statistischen Büro auf 24 100 000 festgestellt wurde, woraus dann ein Durchschnittseinkommen der russischen Lohnempfänger von 220 Rubel im Monat zu berechnen ist. Am 1. Februar 1936 wurde der Kurs des Rubels auf 3 französische Franken festgesetzt, was heute ungefähr, (da der Rubel nicht evaluiert ist) fr. 4,25 entspricht. Bei solcher Rechnung würden 220 Rubel ca. 925 Franken ausmachen. Das wäre noch nicht einmal so schlecht, wenn die Sache nicht einen Haken hätte. Von diesem Haken erzählt uns Frau Doktor Frenny de Graaff in „Russland van Heden“ (das Propagandaorgan der Freunde der UdSSR) das folgende: (RvH, 1. 11. 1936):

„Denn wie ist die Wirklichkeit? Im Durchschnitt verdient ein Arbeiter in der Sowjet-Union schon ungefähr 200 Rubel im Monat. Tatsächlich sind Lebensmittel und Kleider im Verhältnis zum Lohn ungefähr 3 bis 4 mal so teuer als bei uns“.

Dies ist deutlich; es heißt nichts anderes, als dass der russische Durchschnittsprolet, der ja den Durchschnittslohn nicht mal erreicht, noch weniger Waren kaufen kann als ein französischer Arbeiter, der den Skandallohn von 300 Franken im Monat verdient würde. Die Sache würde uns zweifelhaft erscheinen, wenn irgendein „Konterrevolutionär“ sie publiziert hätte. Der bolschewistischen Frau Doktor dagegen glauben wir aufs Wort, zumindest insofern wir annehmen, dass sie uns Verhältnisse in ihrem „Vaterlande“ nicht schwärzer schildert als sie in Wirklichkeit sind. Damit jeder Irrtum ausgeschlossen sei, zitieren wir nochmals obige Russland-Freundin. Im selben Artikel heißt es:

„Aber auch der gewöhnliche Preis der Schuhe von 50-70 Rubel ist im Verhältnis zu den Löhnen für unsere Begriffe schon teuer genug.“

Rechnen wir aus, 60 Rubel sind ca. 255 Franken; wir sehen, die Rechnung stimmt auffallend, das heißt, wenn man die Qualität russischer Produkte, die sehr gering ist, außer Betracht lässt. Es steht fest, Schuhe sind tatsächlich mehr als drei Mal so teuer als in Westeuropa. Mit den anderen Produkten steht es ebenso. Der Frau Doktor sei bedankt für ihre Ehrlichkeit, eine sehr seltene Erscheinung bei den Stalinisten. Nur meinen wir, man müsse anstatt „nach unseren Begriffen schon teuer genug“ schreiben: „nach unseren Begriffen schändlicher Wucher“.

Wem letztere Qualifikation übertrieben erscheint, der möge die folgenden Preise für einige Produkte des täglichen Bedarfs gut studieren. Der Preis für Schwarzbrot ist im Moment im Durchschnitt 0,75 Rubel per kg. Für besseres Weißbrot wird Rubel 1,20 bis 1,50 bezahlt, Milch kostet per Liter 1,80 Rubel, Rindfleisch steht auf ungefähr 9 Rubel das Kilo, Butter ist unbezahlbar, der Preis bewegt sich, je nach Qualität, von 18 bis 38 Rubel das Kilo. Ein gewöhnliches Hemd ist unter 20 Rubel nicht zu haben.

Die große Masse der russischen Bevölkerung lebt somit heute, 18 Jahre nach der Revolution, nur wenig besser als zur Zeit des Zaren. Qualitativ bessere Lebensmittel sind auch heute dem Gros der Russen noch unerreichbar, ebenso wie in absehbarer Zeit mit einer wesentlichen Besserung dieser Lage nicht gerechnet werden kann. Die Produktionsziffern des zweiten Fünfjahresplanes reden ein deutliches Wort.

Die Gesamtproduktion an Schuhen wird selbst in 1937 nicht mehr als 180 Millionen Paar betragen, das heißt, dass auch dann noch erst nach 11 Monaten für jeden einzelnen Russen ein Paar Schuhe zur Verfügung steht. Der Gesamtverbrauch an Butter wird 1937 lt. Plan 180 000 Tonnen betragen. Wenn man die Hälfte der Bevölkerung zu den Selbstversorgern rechnet, so entfällt auf die andere Hälfte ungefähr zweieinhalb Kilogramm per Kopf im Jahr, eine so winzige Menge, dass hier nichts zu kommentiert werden braucht.

Eins darf allerdings nicht vergessen werden, diese Quanten stehen vorerst noch auf dem Papier, der heutige Verbrauch an diesen Dingen ist ungefähr auf die Hälfte der angegebenen Mengen anzusetzen. Der Fleischverbrauch in ganz Russland beträgt heute ungefähr 4-5 Kilo per Kopf im Jahr. Die ganze Erbärmlichkeit der Lage des russischen Proletariats wird ein wenig deutlich, wenn wir auf nachfolgendes Budget einer bessergestellten Familie unsere Andacht festigen. Wir entnehmen einer Esperanto-Korrespondenz aus „Russland van Heden“ das folgende:

Nach der am 1. Oktober 1935 erfolgten Preissenkung betrugen die Ausgaben einer fünfköpfigen Familie für:

Brot189 RubelFleisch90 RubelFische und Milch39,60 Rubel
Zucker42 RubelMakkaroni27,80 RubelTee, Obst und Gebäck32 Rubel
Öl8 RubelButter36 Rubel

Diese Familie – der Vater ist Spezialist, der Sohn Techniker – hat ein Einkommen von 824 Rubel im Monat. Eine fünfköpfige Familie, deren Einkommen den Durchschnitt nicht überschreitet, würde fast ausschließlich von Schwarzbrot leben müssen, die einzige Nahrung, die im Verhältnis zu den russischen Löhne nicht außerordentlich teuer ist. Dabei soll man nicht vergessen, dass auch die Familien mit Einkommen, wie die zuerst genannte, noch nicht sehr gut leben. Ihr Hauptnahrungsmittel ist Brot (wie das in Russland allgemein der Fall ist), sie verbraucht davon mehr als 120 kg im Monat, während Kartoffeln und Gemüse nur einen untergeordneten Platz einnehmen.

Die Lage der russische Lohnarbeiter ist, wie wir diesen wenigen Ziffern entnehmen können, noch sehr schlecht. Das gegebene Bild verdüstert sich noch erheblich, wenn man die katastrophalen Wohnungsverhältnisse der russischen Großstädte hierbei in Betracht zieht. Nach offiziellen russischen Statistiken beträgt die durchschnittliche Wohnfläche, die in Moskau einer Person zur Verfügung steht, im Moment circa 3½ Quadratmeter. Unwillkürlich wird man hierbei an die Zustände zur Zeit des Frühkapitalismus erinnert. Selbst die Elendsquartiere der europäischen Großstädte bieten noch bessere Wohnmöglichkeiten als Russlands Großstädte. Bezeichnend ist, dass dieser Zustand permanenten Charakter hat, da der Bau von neuen Wohnungen konstant hinter dem Zuwachs der Bevölkerung der Städte zurückbleibt.

Es würde unverständlich sein, wenn bei den Verhältnissen, wie sie hier kurz skizziert sind, dem Proletariat seine Rolle als ausgebeutete Klasse nicht zum Bewusstsein käme. Besonders, wo die Lebensverhältnisse der „Kommandeure der Industrie“ samt Anhang von den Seinigen unerhört krass abstechen. Hier ist leider nicht Raum genug, um in Details auf den Stoff einzugehen. Wir müssen uns begnügen, darauf hinzuweisen, dass von den Angehörigen dieser Schicht Gehälter bezogen werden, die mit 1000 Rubel im Monat beginnen und ansteigen zu dem Vielfachen hiervon. Es hat einst ein sogenanntes Parteimaximum, eine Bestimmung, dass Parteimitglieder nicht mehr als 7200 Rubel im Jahr beziehen dürfen, gegeben. Heute ist „den Tüchtigen freie Bahn geschaffen“; und „tüchtig“ ist der, wer den Anordnungen der Bürokratie Nachdruck verschafft, wer nach unten tritt und nach oben die Stiefel leckt. Die ekelerregende Kriecherei vor dem „geliebten Stalin“ vermag nur ein schwaches Bild zu geben von dem Grad, den dies Getue bereits erreicht hat.

Den Bauern geht es in der u.d.s.s.r. auch nicht gerade rosig. Sie unterscheiden sich in ihren Lebensverhältnissen noch nicht wesentlich von den Arbeitern, es sei denn, dass ihnen als Produzenten zumindest die primitivsten Lebensmittel gesichert sind. Die Ziffern, die zur besseren Übersicht der Lage der Bauern zur Verfügung stehen, sind nicht geeignet, ein deutliches Bild zu geben. Sie demonstrieren nur, wie dieselbe in verschiedenen Kollektiven im weitesten Sinne verschieden sein kann. Die Ertragsfähigkeit des Bodens, klimatische und andere Verhältnisse, die Art des Produkts, welches zur Hauptsache angebaut wird, dies alles und mehr rufen Unterschiede hervor, so dass reiche und arme Kollektivwirtschaften bestehen, solche, die bei der Staatsbank Konten mit Millionenbeträgen haben, und andere, deren Mitglieder gleich dem früheren Muschik in Lumpen und auf Bastschuhen herumlaufen, während ihnen Brot als beinahe ausschließliche Nahrung dient.

Die Stachanov-Bewegung

Eine Erhöhung des Massenkonsums ist für Russland dringend nötig. Die herrschende Schicht empfindet dies ebenfalls; da es jedoch nicht zu den Gepflogenheiten herrschender Schichten gehört, die so teuren Vorrechte mit den Hungerleidern von unten zu teilen, muss anstatt dieses Weges ein anderer gegangen werden. Unter kapitalistischen Wirtschaftsverhältnissen ist eine Erhöhung des Lebensstandards nur möglich, wenn für die Kapitalbesitzer der Löwenanteil dabei herauskommt. Diese Vergrößerung des Konsums der Massen musste bisher durch eine noch größere Erhöhung des Ausbeutungsgrades erkauft werden.

Während einer ziemlich langen Periode seiner Entwicklung war es im Kapitalismus möglich, die Lage der Arbeiter zu verbessern und dies, weil die Arbeiter in noch stärkerem Maße die Lage des Kapitalismus verbesserten. Die Produktivität der menschlichen Arbeitskraft erhöhte sich nämlich ungeheuer, der Arbeitsprozess wurde intensiver, dabei war es dann möglich, den Proleten die Rationen zu erhöhen. Dass dies weniger intensiv und weniger ungeheuer geschah, versteht sich am Rande. Marx nennt diese Periode die der relativen Verelendung. In Russland spielt sich heute genau derselbe Prozess ab, nur mit dem Unterschied, dass man hier nicht von relativer Verelendung spricht, sondern dafür das schöne Wort „Sozialismus“ missbraucht. Um dies zu beweisen, ist es angebracht, sich einmal näher mit der sogenannten „Stachanov-Bewegung“ zu befassen.

A. Stachanov ist ein Hauer eines Schachtes im Donbass, er hat seine Arbeitsleistung durch Anwendung neuer Methoden in kurzer Zeit um das Zehnfache erhöht. Anstatt 16 Tonnen Kohle in einer Schicht, begann er 112, 175 später sogar über 200 Tonnen in derselben Zeit loszuschlagen. Er verdiente dann anstatt 500 Rubel 1500-2000 Rubel im Monat. Dieses Beispiel hat sehr schnell in allen Zweigen der russischen Industrie Nachahmung gefunden; sogar in der Landwirtschaft gibt es heute eine Menge „Stachanovetzi“. Die Weberin Winogradova zum Beispiel arbeitet, statt an 16 bis 26 Webstühlen, heute an 208. Sie erhält für diese, ungefähr achtfacher Leistung, den doppelten Lohn. E. Kriwonos, der Maschinist auf einer Güterzuglokomotive ist, begann mit seinem Güterzug schneller zu fahren als andere mit ihren Personenzügen, das heißt, er fuhr anstatt wie bisher 23 Kilometer in der Stunde 74 Kilometer in der selben Zeit. Sein Lohn stieg um das Doppelte.

Man kann die Beispiele noch beliebig vermehren; in der von den Stalinisten in Holland ausgegebenen Broschüre Nieuwe Tijden – Nieuwe Mensen findet man noch eine Reihe anderer der verschiedensten Fälle aus allen möglichen Wirtschaftszweigen. Trotz aller Verschiedenheit kann sofort eines an ihnen festgestellt werden, das allen Fällen gemeinsam ist; bei allen beträgt die Erhöhung des Lohns nur ein Bruchteil von der Steigerung der Leistungen. Es ist wahr, der Stachanov-Arbeiter verdient mehr als vordem – doch scheint uns, als ob andere an seiner Leistung noch mehr verdienen als er selbst.

Ist dies Letztere heute noch nicht völlig sichtbar, in dem Moment, wo der Zweck der „Stachanov“-Kampagne, die Durchführung bisher ungekannter Intensivierung und Rationalisierung der Arbeitsprozesse erreicht ist, wird sie über jeden Zweifel erhaben sein. Die Arbeiter werden als Gesamtheit nur einen Bruchteil ihrer Mehrleistungen ausgezahlt bekommen, während der Rest in fremde Taschen fließen wird. Die Summe der Produkte, die für den Verbrauch der Proleten zur Verfügung steht, wird absolut wachsen, in Relation zu ihrem Gesamtprodukt aber wird sie sinken.

Das ist, was Marx die relative Verelendung der Arbeiterklasse nennt, was ihm als ein typisches Merkmal des Kapitalismus erscheint, und uns dienen möge als ein weiterer Beweis für das Vorhandensein kapitalistischer Verhältnisse in der u.d.s.s.r.

Noch findet die genannte Bewegung bei den russischen Arbeitern keine allgemeine Aufnahme. Die besten Elemente in der Klasse widersetzen sich dem Bruch der von den Preisboxern der Rationalisierung, den meist politisch ungeschulten und wenig klassenbewussten „Stachanovetzi“, ausgeübt wird. Die den neuen Methoden auf dem Fuße folgende Herabsetzung der Akkordsätze wird stärker sein als aller Widerstand. Es ist bekannt, wie „Stachanovetzi“ vielfach von ihren Arbeitskollegen wie Streikbrecher behandelt, verprügelt, selbst totgeschlagen werden; alles wird nicht helfen, die Bewegung wird sich durchsetzen, weil sie einem gesellschaftliche Bedürfnis entspricht. Einem Teil der Arbeiterklasse wird durch sie eine Chance gegeben, nämlich sich auf ein Lebensniveau zu stellen, welches die Klasse als Gesamtheit nie erreichen kann. Diese Chance wird ausgenutzt werden, in Russland ebenso wie in anderen Ländern. Eine Schicht von Bürokratenknechten wird sich bilden, wo sich anderswo eine solche von Unternehmerknechten geformt hat.

Die Macht der Arbeiterklasse erfährt hierbei eine erhebliche Schwächung. Gebar nämlich das gemeinsame Elend den gemeinsamen Willen zur Abwehr derselben, die Chance, die dem einzelnen gegeben wird, um dem Elend zu entrinnen, wird diese Einzelne zu Vertretern von solchen Interessen machen, die außerhalb derjenigen des klassenbewussten Proletariats liegen.

Eine Untersuchung der Ideologie der Stachanov-Arbeiter befestigt diese These. Sie entwickelt, wie uns die Wirklichkeit zeigt, eine Ideologie, die man nur als kleinbürgerlich bezeichnen kann. Das „traute Heim“ ist ihm ein Idealzustand, er fühlt sich in gehobener Stellung gegenüber den Nicht-„Stachanovetzi“, spricht von ihnen als von „Menschen, die Prügel bekommen müssen“, oder „aus dem Betrieb heraus geworfen werden müssen“. (Nieuwe Tijden – Nieuwe Mensen, S. 69). Er ist regierungstreu und konservativ, schmeichelt den Vorgesetzen und verachtet den Untergebenen. Bei den Einlagen bei den Sparkassen in Russland nehmen die „Stachanovetzi“ einen wesentlichen Platz ein, bei der Zeichnung der Staatsanleihen spielen sie ebenfalls eine wichtige Rolle. Das Interesse am durch Zinszahlung erhaltenen Arbeitslosenkommen wächst sehr erheblich. Wer diesen Menschen ihr Ideal zerstören will, der erscheint ihnen als Todfeind, sie hassen den wirklichen Kommunisten und applaudieren, wenn Stalin ihn einen „linken Schwätzer“ nennt. Sie waren es auch, die einmütig die Erschießung der 16 gefordert haben, so wie sie alles fordern werden, was ihr Brotherr, der Bürokrat, wünschen wird.

Die russischen Machthaber schlagen mehrere Fliegen mit einer Klappe. Sie erhöhen die Produktion und damit ihren eigenen Anteil an derselben mithilfe besonders entlohnter Stachanov – Antreiber, sie verteilen das Proletariat in verschiedene Interessengruppen und schwächen somit seine Kampfkraft, welches zu einer Festigung der Position ersterer wesentlich beiträgt. Die Bürokratie stützt sich, wie schon gesagt, nicht mehr in der Hauptsache auf das Proletariat. Sie kann dies nicht mehr, weil die beiden Klassen gemeinsamen Interessen zusammengeschrumpft sind.

Die heute auf das siebenfache ihrer früheren Anzahl gewachsene Klasse der Lohnarbeiter meldet ihre Forderungen an und beginnt, sie selbst zu vertreten; erkennt sie doch mehr und mehr, dass ihr diese Funktion nicht von anderen abgenommen werden kann.

Die neue Verfassung

Die Bürokratenschicht Russlands, einstmals durch die Arbeiterklasse an die Macht gebracht, muss heute ihre Machtpositionen ihren früheren Helfern gegenüber verteidigen. Sie suchte und fand in diesem Kampf ihre Bundesgenossen. Die Bauern, besonders die besser gestellten, und die Arbeiteraristokratie, heute stärker denn je im Aufkommen, diese beiden Schichten haben gleich den Bürokraten Privilegien zu verteidigen. Das ist die Plattform ihres gemeinsamen Handels.

Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen wird die russische Entwicklung in weitem Maße verständlich. Das Klassenbewusstsein der Arbeiterschaft ist die größte Gefahr für alle Privilegienbesitzer. Kein Wunder, wenn sie alle Faktoren bekämpfen, die seiner Entwicklung dienlich sind. Sie begannen mit der Verfälschung des Marxismus, versuchten „marxistisch“ die Notwendigkeit ihrer Privilegien und deren Voraussetzungen: Lohnarbeit, Kapitalwirtschaft, Parteidiktatur, et cetera. zu beweisen. Sie musste dann jedem Vertreter des wirklichen Marxismus, der ihre politische Falschmünzerei vor den Massen entlarvte, den Mund stopfen. Brotraub, Verbannung, Mord, das ist die Stufenleiter der Mittel, deren sie sich hierbei bediente.

Als alles nicht half, als der Arbeiterklasse trotzdem ihre gesellschaftliche Position immer deutlicher wurde, erwuchs die Notwendigkeit, zusammen mit anderen Klassen zur Unterdrückung des ganzen Proletariats überzugehen.

Die noch den Revolutionstagen entstammenden politischen Vorrechte der Arbeiter sind jetzt radikal beseitigt worden. Der Begriff: „Parteigenosse, Klassengenosse“ machte dem Begriff: „Volksgenosse“ Platz. Heute, bei der Einführung der neuen Verfassung der u.d.s.s.r., befinden wir uns in einem entscheidenden Stadium dieses Prozesses. Den nichtproletarischen Schichten des Landes wird jetzt im Verhältnis zu früher und im Verhältnis zu den Arbeitern, ein dreimal so großes politisches Gewicht verliehen.

Eine Bauernstimme, früher ein Drittel einer Arbeiterstimme ausmachend, wird bei den zukünftigen Wahlen denselben Wert erhalten. Damit verliert das in Russland bestehende System den letzten Rest des schäbigen Mantels, der unter dem Namen „Arbeiterregierung“ oder gar „Diktatur des Proletariats“ die wirklichen Herrschaftsverhältnisse verdeckte. Die Stimmzettel-Demokratie als typische Herrschaftsform einer privilegierten Schicht in ihrer Wachstumsperiode, hält Einkehr in Russland.

Das bedeutet nicht, dass sich alle aus der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft bekannten Formen von „Demokratie“ auch in Russland zeigen werden. Im Gegenteil, sie erscheint hier sofort in der als „Gummiknüppel-Demokratie“ bekannten Variation derselben. Sie ähnelt ganz bedenklich der heute in Deutschland zur Anwendung kommenden. Dort wie hier sorgt eine „gleichgeschaltete“ Presse für die nötige Stimmung bei den Volksgenossen. Auch in Russland kann nur eine Partei gewählt werden, nämlich die der Bürokraten.

Nichts kann besser die ganze Entwicklung in den 19 Jahre seit den heroischen Oktobertagen verdeutlichen, als diese neue Verfassung. Alles Beschlussrecht liegt bei den höchsten Organ des Staates; die „Sowjets“ in den Dörfern und Städten sind nichts anderes mehr als die ausführenden Organe, jede Selbstverwaltung ist ihnen entnommen. Sie haben die Funktion des Steuereintreibers und Aufsichtsorgans und nichts mehr als das. Je dreihunderttausend Wähler werden in Zukunft einen von der Partei angewiesenen „Abgeordneten“ in den „Sowjet der Union“ und einen ebensolchen in den „Hohen Sowjet der Nationalitäten“ abfertigen. Die Abgeordneten des Ersteren formen dann zusammen mit Delegierten aus allen „Nationalitäten-Sowjets“, den also aus zwei Kammern bestehenden „Hohen Sowjet“ der u.d.s.s.r. Dieser wählt seinerseits ein Präsidium, welchem er alle Macht überträgt, auch das Recht der Auflösung des „Hohen Sowjet“. Das Präsidium erfüllt zusammen mit den durch den Union-Sowjets gewählten „Volkskommissaren“ die Funktion einer Regierung. Die Mechanik des Wahlsystems garantiert dieser Regierung ihre faktische Unabsetzbarkeit, denn letztlich ist sie es, die die „Kandidaten“ zu neuen Wahlen, von denen sie dann wieder gewählt wird, mittels des ihr zur Verfügung stehenden Parteiapparates anweist. Der heutigen Dekretiererei der Hierarchie wäre damit dann ein demokratisches Mäntelchen umgehängt.

Herr Bauer von der Zweiten Internationale ist sehr entzückt von dieser „Sowjetdemokratie“, er bedauert nur, dass die Vertreter seiner Partei einstweilig noch nicht im „Hohen Sowjet“ ihre Redekunst demonstrieren können. Arbeiter und Kommunisten dagegen werden die ganze Schändlichkeit dieses Betriebes, der sich vom Hitlerschen „Parlamentarismus“ in nichts unterscheidet, an den Pranger stellen müssen. Für sie wird Stalins Scheindemokratie nur als eine Verhöhnung des Proletariats empfunden werden.

Ausgebeutet, politisch machtlos gehalten, und obendrein noch verhöhnt – dies ist das Los der Arbeiterklasse, überall in der Welt und auch in Russland.

IV. Staatskapitalismus und Kommunismus

Die Kommunisten haben die Pflicht, dem Proletariat zu sagen, dass es nun und in der kommenden Zeit von diesem Lande nichts als nur noch Enttäuschungen zu erwarten hat. Der russische Staat und alle seine Handlungen sind kapitalistischen Charakters, sie stehen in unversöhnlichem Gegensatz zum Kommunismus. In der Zukunft wird dieser Gegensatz immer deutlicher ans Licht kommen. Für klassenbewusste Arbeiter und Kommunisten wird nur noch Raum sein im Gefängnis, im „Isolator“ oder unter der Erde.

Der Stalinismus wird in Zukunft sein wahres Gesicht noch erst zeigen. Er ist eine Entartungserscheinung des Sozialismus, als solche muss er gebrandmarkt werden, damit unsere Klasse sich von ihm befreit. Die Arbeiterklasse muss sich von den durch Komintern und Zweite Internationale verbreiteten Ideen loslösen und erkennen, welche ungeheure Gefahr diese in sich bergen. Sie muss unterscheiden lernen zwischen sozialistischer Zielstellung und solcher, die vorgibt es zu sein, ebenso wie sie unterscheiden muss zwischen der sozialistischen Gesellschaft und einer solchen, die sich der sozialistischen Phase bedient, um ihren Ausbeutungscharakter zu verdecken.

In einer Gesellschaftsordnung, die mit Recht den Namen Sozialismus tragen will, müssen alle prinzipiellen Merkmale desselben anwesend sein. Alle Besitzverhältnisse müssen in der Revolution ihre Aufhebung gefunden haben.

Im Kommunismus wird durch die Abschaffung des allgemeinen Äquivalents für die Werte – das Geld –, die Form, in der sich die Wert- und Warenwirtschaft vollzog, zerbrechen. Die Lohnarbeit ist im Sozialismus undenkbar, sie ist der Ausdruck des Warencharakters der Arbeitskraft, und ist nur der Ausbeutergesellschaft eigen. In ihm ist weder Tausch noch Kauf und Verkauf denkbar, weil diese Manipulationen nur als Ausdruck von Besitzverhältnissen fungieren können. Jede moderne Gesellschaftsordnung, in der diese Funktionen auftreten, ist kapitalistisch. Das ihr immanente Prinzip ist nicht die Versorgung der Mitglieder mit Bedarfsgütern, sondern die Rentabilität, die Kapitalverwertung. Mögen einige Auchmarxisten nun der Meinung sein, man könne den Sozialismus in Russland oder anderswo „aufbauen“, uns kann solche Auffassung nur als naiv erscheinen. Wer von Privilegierten erwartet, dass sie ihren Vorrechten freiwillig entsagen, wer von einer besitzenden Klasse die Aufhebung aller Besitzverhältnisse erhofft, scheint uns mehr auf dem Gebiete der Religion zu Hause zu sein als auf dem der Politik. Der Sozialismus kann nicht „aufgebaut“ werden, er ist entweder das unmittelbare Produkt der politischen Revolution, oder er ist es nicht. Die Revolution von 1917 hat in Russland nur als bürgerliche ihrer Vollendung gefunden, während sie als proletarische in ihren Anfängen stecken blieb. Sie hat nicht die Grundlage jeder, sondern nur einer Herrschaft, der zaristischen, vernichtet. Sie hob nicht jedes Besitzverhältnis auf, sondern nur eines, das privatkapitalistische. Anstatt Zar und Kamarilla hat sie nicht die proletarische Diktatur als Repräsentanten allgemein gesellschaftlicher Interessen ins Leben geholfen, sondern die von Repräsentanten besonderer Interessen. Nur wenn das Proletariat selbst an die Macht kommt und eine brauchbare Form der Ausübung derselben zu finden vermag, ist die Voraussetzung für das überflüssig werden der Beherrschung, und damit auch der politischen Mittel zur Ausübung derselben, gegeben. Nur wenn die „Assoziation freier und gleicher Produzenten“ anstelle der Ausbeutungsgesellschaft tritt, ist das weitere Wachstum der Gesellschaft in der Richtung einer in Bezug auf Produktivität und Organisation höheren Form menschlichen Zusammenlebens gegeben.

In Russland ist von alle dem nichts zu entdecken, während alle Merkmale des Kapitalismus deutlich sichtbar sind. Im „Oktober“ sind die Wurzeln des Kapitalismus nicht ausgerissen, ihnen ist heute eine neue, bisher nicht gekannte Form desselben entsprossen. Wir wollen sie Staatskapitalismus nennen, dieses Wort umfasst den Inhalt des russischen Systems am deutlichsten. Die Rolle des Kapitalisten wird durch einen sich in Händen der herrschenden Schicht befindlichen Gewaltapparat ausgeübt. Wem der Sozialismus als Ziel der Menschheitsentwicklung erscheint, steht vor der Konsequenz, diesem Apparat unerbittlich den Kampf anzusagen. Das russische Proletariat hat die Aufgabe, in der kommenden proletarischen Revolution in Russland dieses System zusammenzuschlagen, die Propagandisten des Sozialismus in den anderen Ländern haben aus der russischen Entwicklung zu lernen, welche Gefahren für die ganze Klasse in der Möglichkeit der Entwicklung außerrussischer Staatskapitalismen liegen. Dem Begriff des Sozialismus muss der Inhalt zurückgegeben werden, den Marx und Engels ihm beimaßen. Dies aber setzt einen mitleidlosen Kampf gegen jene Auffassungen, die von interessierten „Arbeiterführern“ verbreitet sind, voraus.

Dieser Kampf wird in den kommenden riesenhaften Klassenschlachten seinen Gipfelpunkt finden. Und nur insoweit er den „Staatssozialisten“ die entscheidende Niederlage verschafft, wird der Weg für eine neue Periode der Menschheitsentwicklung gebahnt. Der Staatssozialismus ist die letzte Bastion des kapitalistischen Prinzips; sie niederzureißen muss schon heute beginnen. Die objektiven Verhältnisse in der direkt revolutionären Situation werden dabei Hilfe leisten.

Auch in Russland, Paradies des Staatssozialismus, reifen die Verhältnisse heran zum Sturz der heutigen Form. Als kapitalistisches Land kann auch dieses dem ehernen Zwang seiner durch ihn selbst erzeugten Gesetzmäßigkeiten nicht entrinnen. Die Ausbeutungsgesellschaft produziert jeden Tag aufs neue die Voraussetzungen für ihren Sturz.

Solange allerdings in Russland das Stadium der relativen Verelendung noch nicht beendet ist, haben die Herrschenden die Möglichkeit, jede, und sei es die geringste Steigerung des Lebensniveaus der Massen, als eine „Segnung des Sozialismus“ zu deklarieren. Der Punkt jedoch, den der Kapitalismus des Westens schon seit Jahren überschritt, an der die relative in die absolute Verelendung umschlägt, wird auch für Russland nicht zu umgehen sein. Jenseits dieses Punktes werden die objektiven Voraussetzungen für den Umsturz auch für Russland wieder anwesend sein. Die Phrase vom Sozialismus wird kein Gehör mehr finden, der Schrei nach sozialistischer Wirklichkeit wird das Bonzengeschwätz übertönen.

Mögen die Herren manchen ehrlichen Kämpfer aus dem Weg räumen, mögen sie Revolutionäre und Menschen, die ihren Privilegien gefährlich scheinen, ausrotten, die Revolution selbst ist unausrottbar.

Auch für Russland kommt der Tag, wo der klassische Ruf des heroischen Oktober: „Alle Macht den Räten!“ mächtiger als je in der Geschichte ertönen wird.


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Compiled by Vico, 5 December 2020


























Übersicht

  • I. Kritik an den Kritikern
  • II. Ein wesentliches Moment in der Entwicklung Russlands in den letzten Jahren
  • III. Die Lage der Kräfte im gegenwärtigen Russland
    • Die Verhältnisse in der Agrarwirtschaft
    • Die Lage der Arbeiter
    • Die Stachanov-Bewegung
    • Die neue Verfassung
  • IV. Staatskapitalismus und Kommunismus