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Antonie Pannekoek Archives

Rätekorrespondenz

Quelle: a.a.a.p.


Rätekorrespondenz

Internationale Rätekorrespondenz 1934-1937 / Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland). – Transkribiert und herausgegeben für Rätekommunismus ; Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek, Dezember 2020, 504 S., € 13,16, ISBN 979-8551636052


Kommunisme und Religion / [Anton Pannekoek]


Quelle:  Kommunisme und Religion / [Anton Pannekoek] – In: Internationale Rätekorrespondenz : Theoretisches und Diskussionsorgan für die Rätebewegung.  – Ausg[abe]. der Gruppe Int[ernationaler]. Kommunisten, Holland. – 1936, Nr. 15 (März); Quelle der Transkription: Rätekommunismus , 23. November 2020, Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek.


I.

Der scharfe Kampf, den in Russland der Bolschewismus gegen die Religion führte und noch immer führt, ist besonders geeignet, das Wesen der russischen Revolution zu beleuchten. Er führt diesen Kampf unter dem Namen des Marxismus, wie er ja seine ganze Politik unter diesem Namen durchführt. Er beruft sich dabei auf das Marx’sche Wort, das er ja als Spruch in die Fassade des Moskauer Volkshauses eingemeißelt hat: dass die Religion das Opium des Volkes ist. Als der junge Marx das schrieb, 1843 in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, hatte sein Kampf eine Ähnlichkeit mit dem späteren Kampf des Bolschewismus in Russland. Marx stand damals als der am weitesten Fortgeschrittene unter den Junghegelianern voran in dem Kampf für die bürgerliche Freiheit, gegen den Feudalabsolutismus in Preußen. Die Bourgeoisie war noch ohne politische Macht, aber sie kam empor; die Polizeiwillkür bedrückte das öffentliche, die Zensur das geistige Leben, und die besten Köpfe lebten im Ausland. Auf die Religion stützten bornierte Fürsten ihr Recht, alle Freiheit zu unterdrücken. Daher musste, nach dem damaligen Ausspruch Marxens, die Kritik der Erde mit der Kritik des Himmels anfangen.

Das Emporkommen der bürgerlichen Gesellschaft war immer von einem Kampf gegen die Kirche, gegen bestimmte Religionsformen oder gegen die Religion überhaupt begleitet. Das war nicht anders möglich, weil unter dem Feudalismus Kirche und Gesellschaft eine fest verwobene Einheit bildeten. Die Kirche füllte politische und soziale Funktionen aus, die in späteren Jahrhunderten der Staat und seine Organe immer mehr übernahmen: Rechtsfestsetzung, Unterricht, Verwaltung, Schutz des Verkehrs, Förderung der Technik. Namentlich war alles Geistige in der Leitung der Gesellschaft ihre Aufgabe, in jedem kleinsten Dorf so gut wie im großen; die Kirche herrschte wie eine Obermonarchie über die ganze Christenheit und die Kirche war die hauptsächliche ausbeutende Macht. Als das Bürgertum hervorkam, nahm daher jeder Widerstand gegen diese Ausbeutung die Form der Ketzerei an (Albigenser, Hussiten). Wenn dann in den nächsten Jahrhunderten dieser Widerstand zu einer Machteroberung durch die bürgerliche Klasse anschwillt, geschieht das unter der Fahne der Erneuerung der Religion, als Reformation bei den Protestanten, den Calvinisten, den Puritanern. In den Klassenkämpfen des 16. und 17. Jahrhunderts waren die Religionen das, was im 19. Jahrhundert die politischen Parteien waren, die lebendigen Organisationen des Klassenkampfes - später versteinerten sie zu Kirchen mit toten Dogmen.

Als im 18. Jahrhundert in Frankreich die Revolution sich vorbereitete, ging es nicht bloß gegen Adel und Königtum, sondern auch gegen die Kirche. Gehorsam gegen die Kirche war mit Gehorsam gegen den Fürst fest verbunden; die Religion war das wichtigste Mittel, die Massen unterwürfig zu erhalten. Eine kräftige Opposition, gesellschaftlich gegen die herrschende Macht von Adel und Fürst, bedingte also geistig eine Loslösung von der Kirche. Die hauptsächliche Form war die einer allgemein verschwommenen, persönlich religiösen Empfindung, los von jeder Kirchenlehre, wie bei Rousseau; doch treten auch schon materialistische Anschauungen bei mehreren Denkern auf. Durch die Entdeckungen der Naturwissenschaft, namentlich des Gravitationsgesetzes durch Newton, hatte sich herausgestellt, dass in der Natur eine feste Ordnung der Naturgesetze herrschte, die jedes willkürliche Eingreifen ausschloss. Das gab dem emporkommenden Bürgertum Waffen des freieren kritischen Denkens in seinem Kampfe gegen die Kirche. Dazu kam, dass die Bauern und Bürger mit Ärger auf den großen vernachlässigten Länderbesitz der Kirche blickten, den sie selber besitzen möchten, um ihn zu bebauen. In der französischen Revolution 1789 haben sie auch in der Tat die Kirche von ihrem Grundbesitz beraubt. Bei dem riesigen Staatsdefizit war ein Staatsbankrott nur dadurch zu vermeiden, dass die Besitzungen der Kirche beschlagnahmt und verkauft und so weiterhin als bäuerlicher und bürgerlicher Grundbesitz exploitiert wurden. Seitdem ist die Kirche die eingeschworene Feindin der Revolution geworden. Deshalb musste die revolutionäre Bourgeoisie schärfer, als es sonst ihrer Natur entsprochen hätte, die Kirche angreifen durch den Kampf gegen die Religion. Dass in Frankreich noch bis zum heutigen Tage Rationalismus und Freidenkerei so sehr in den Mittelklassen verbreitet sind, ist gutteils eine Wirkung jenes historischen Streites.

Im 19. Jahrhundert musste die Bourgeoisie diesen Kampf fortsetzen, um ganz und gar und um auch in anderen Ländern, wo sie aufkam, Meister zu werden. Und wieder musste dabei der Kampf gegen die herrschende Religion aus doppeltem Grunde geführt werden. Erstens, weil die überlieferten Religionsformen einer veralteten rückständigen Produktionsform entstammten und dazu passten, einer Welt von Handwerk und Kleinbauerntum, aus der die Gesellschaft sich nun emporhob. Diese Religion war ein auf äußerlichem Kirchendienst beruhender, beschränkter, dummer Aberglauben von Kleinbürgern und Bauern, unter denen Pastor oder Pfarrer die einzigen des Schreibens kundigen Intellektuellen waren. In der entwickelten Bourgeoisie selbst wuchs eine andere Religion auf, wie sie einer warenproduzierenden Gesellschaft entspricht, der persönliche Glauben eines auf sich selbst gestellten unabhängigen Bürgers. Bei ihm verloren die überlieferten Lehren ihre Kraft. Dazu kam die rasche Entwicklung der Naturwissenschaft, die als Grundlage der raschen Entwicklung der Technik und des Aufblühens des Kapitalismus von der Bourgeoisie besonders gepflegt wurde. Sie lehrte die Ausdehnung des Weltalls, die Gesetze der Natur, die Millionen Jahre der Geschichte des Lebens auf Erden, die Evolution der Tierwelt zum Menschen – auf allen Gebieten widerlegte die Wissenschaft die Bibelerzählungen als primitive Unwissenheit. Und nun trat als kühnste unter den neuen Anschauungen der bürgerliche Materialismus auf, oft auch naturwissenschaftlicher Materialismus genannt. Er lehrte, dass die ganze Welt, darunter auch das Leben und die Entwicklung der Menschheit, nur durch die Naturgesetze beherrscht wird; dass die Naturgesetze im Stande sind, alle Rätsel von Leben und Schicksal zu erklären, und dass irgend eine höhere geheimnisvolle Macht dazu nicht nötig ist und nicht besteht.

Weil diese Denker der Bourgeoisie glaubten, dass die kapitalistische Entwicklung eine allgemeine Wohlfahrt bringen und alles Elend, alle Armut und alle Dummheit beseitigen werde, sahen sie alle Probleme gelöst oder lösbar, und sie brauchten keine höhere Macht mehr.

Die Bourgeoisie konnte sich jedoch nicht damit begnügen, selbst die alte Religion aufzugeben; sie musste diese angreifen und bekämpfen. Denn sie wollte die Macht in der Gesellschaft aus den Händen von Fürsten, Adel und Grundbesitzern erobern. Die Macht aller dieser reaktionären Klassen, die das Alte aufrecht erhalten wollten, beruhte auf der Unterwürfigkeit der unentwickelten Volksmassen, der Bauern und Kleinbürger, und diese war in ihrer Religion verankert. Deshalb, weil die Religion die Grundlage und die Kirche der Bundesgenosse der überlieferten Mächte war, musste die Bourgeoisie den geistigen Kampf gegen Religion und Kirche führen. Sie musste diese Masse von ihren geistigen Führern loslösen und sie zu ihrer eigenen Gefolgschaft machen. Dadurch, dass sie Aufklärung und Bildung unter sie verbreitete und sie mit neuen Ideen erfüllte. Zahllos sind die populär – wissenschaftlichen Schriften, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden zum Zwecke der „Volksaufklärung“, das heißt, um die Masse der Gefolgschaft für die Bourgeoisie zu gewinnen, als Anhänger der politischen und religiösen Anschauung der Bourgeoisie, und so den alten Mächten ihr Fundament zu nehmen. Wo der Kampf schwer und heftig wurde, wurden die radikalsten Anschauungen propagiert und gewann der Materialismus eine größere Bedeutung.

Weshalb dieser Kampf bald im Sande verlief und aufhörte, als die Bourgeoisie Meister der Staatsgewalt war, und oft schon vorher, wird sich noch zeigen.

II.

In Russland musste der Kampf gegen die gleichen Mächte geführt werden, gegen die in Europa die bürgerlichen Revolutionen gerichtet waren: gegen den fürstlichen Absolutismus, der durch ein grausames Polizeiregiment alle Regungen einer freiheitlichen Entwicklung niederhielt, und gegen den Großgrundbesitz, der die Bauern in Knechtschaft hielt. Der Kampf musste inmitten einer Bevölkerung geführt werden, die in geistiger Hinsicht den bäuerlichen Massen des mittelalterlichen Europas, lange vor der bürgerlichen Revolution, am meisten ähnelte. Die russischen Muschiks waren noch viel unwissender und rückständiger als jene. Auch in Russland war die Kirche ein Grundpfeiler der Fürstenmacht und sogar völlig ein untergeordnetes Organ des Zarismus. Auch dort war die Religion, der primitiv-barbarischen Wirtschaft entsprechend, ein barbarischer Aberglauben, in der die Wunderkraft der Heiligengebeine und die Kerzen, das prahlende Licht und die glitzernden Goldgewänder die einfältigen Seelen bestrickte und berauschte.

Die bolschewistische Partei konnte die politische Gewalt erobern und Zarismus und Bourgeoisie vernichten dadurch, dass sie die wirtschaftlichen Interessen der Bauern, ihr Streben nach Landbesitz, gegen die Grundbesitzer verfocht, als Ziel der Revolution aufstellte und damit die Bauern für ihr Programm gewann. Aber nun hatte sie darauf zu achten, dass nicht nachher die Bauern, nachdem sie ihr Ziel erreicht hatten, sich gegen die Partei wenden, eine eigene bürgerliche Politik einschlagen und dazu ihre alte geistige Macht, die Kirche, als Sammelpunkt benutzen sollten. Deshalb musste die reaktionäre Macht, die die Bauern bisher beherrscht hatte, vernichtet werden, damit die Bauern auch geistig zu Anhängern des Bolschewismus würden. Das war nur durch einen Kampf gegen die Kirche in der radikalsten Form möglich, durch eine intensive Propaganda gegen die Religion überhaupt.

Dieser Kampf, der direkt durch den „Bund der Gottlosen“ geführt, aber durch den Staat unterstützt wurde, konnte sich in Charakter und Inhalt nicht viel von dem Kampf unterscheiden, der früher in Westeuropa durch die bürgerlichen Materialisten und Freidenkern geführt wurde. Mit Marxismus hatte er gar nichts zu tun. Auch die philosophischen Kampfschriften Lenins aus der Zeit vor der Revolution (in der Gesamtausgabe seiner Werke unter dem Titel „Materialismus und Empiriokritizismus“ gesammelt) stehen ganz auf dem Boden des bürgerlichen Materialismus, was sich ja versteht, da sein Kampf in Russland gegen denselben Gegner gerichtet war. Die Propaganda in Russland unterschied sich von der westeuropäischen nur dadurch, dass sie mit noch viel primitiveren Argumenten und gröberen Mitteln geführt wurde, weil er gegen einen noch barbarischeren Aberglauben gerichtet war. Der Vorgang ist ja öfters beschrieben worden: Der Muschik versteht von den naturwissenschaftlichen Argumenten nicht viel; aber er sieht und hört diese Gottlosen die schärfsten Angriffe gegen Gott richten, die gräulichsten Gotteslästerungen äußern - aber kein Blitz aus dem Himmel schlägt die Übeltäter. Das beweist ihm, dass Gott nicht besteht, oder jedenfalls, dass er sich nicht kümmert um das, was die Menschen hier machen. Also zieht er seine Schlüsse; er lässt den Popen verhungern, macht die Kreuze zu Brennholz und die Kirche zum Stall, er hängt Bilder von Marx und Lenin in seiner Stube und brennt vielleicht eine Kerze dafür. Die jüngere Generation jedoch schließt sich den Jugendgruppen an, die sich in Nationalökonomie und Naturwissenschaft durchbilden, und sie übernimmt den Materialismus als anerkannte und selbstverständliche Lehre. In Russland wächst eine Jugend auf, und wuchs eine Jugend schon Jahre genug auf, um eine neue Schicht von Erwachsenen zu bilden, für die Religion nur ein historisches Phänomen, ein Aberglaube alter Leute der Vergangenheit ist. Die russische Kirche ist mit dem Zarismus zugrunde gegangen.

Das soll nicht besagen, dass die Religion überhaupt in Russland verschwunden ist oder sicher verschwindet. Erstens, weil in der Tat in beschränktem Umfang stattfindet, was oben angegeben wurde: Wo die Bauern in Streit mit der Regierung kommen, nimmt ihre Auflehnung die Form eines kirchlichen Widerstandes an. Wenn ihre Verbundenheit mit der alten Wirtschaftsweise des Kleinbauerntums in Konflikt gerät mit der halb-gewaltsamen Einführung der modernen Landwirtschaft und des Großbetriebes in den Kolchosen, suchen die Bauern Kraft in dem Zusammenschluss in der Kirche, in der alten Religion, dem Symbol des Alten, das auch durch den Staat unterdrückt wird. Der wirtschaftliche Kampf wird in der gedanklichen Form eines Religionsstreites geführt; und die westeuropäische Presse bringt Nachrichten über grausame Religionsverfolgungen in Russland, ohne zu ahnen, dass diese hauptsächlich einen wirtschaftlich-politischen Streit über den Aufbau der russischen Landwirtschaft bedeuten. Als Sammelpunkt aller wirtschaftlichen Reaktion bleibt die Religion bestehen.

Außerdem ist es bekannt, wie an der Wolga die Dörfer deutscher Bauern ihren evangelischen Glauben aufrechterhalten, ohne durch die atheistische Propaganda angetastet zu werden. Hier ist die Religion eine viel tiefer wurzelnde persönliche Überzeugung, aus der kleinbürgerlichen Warenproduktion westlicher Länder mitgebracht, und deshalb nahezu immun gegen die primitiven Argumente der „Gottlosen“. Auch diese Bauern geraten in Streitigkeiten mit den Grundlagen des staatssozialistischen Wirtschaftssystems. Sie sind tüchtige, rüstige Arbeiter, die sich durch Fleiß und Sparsamkeit zu Wohlfahrt emporarbeiten. Dass ein Mensch all seine Fähigkeiten anstrengt, um für sich persönlich Besitz zu erwerben, mag in Europa und Amerika bewundert und gepriesen werden, aber in Russland wird es als staatsgefährlicher Egoismus verpönt; die geltende Moral erfordert, dass alle Kraft und Fleiß in den Dienst des Staates, der Gesellschaft angewandt wird. Der sich selbst zu persönlicher Wohlhabenheit emporarbeitende Bauer ist der Kulak, der verfolgt wird. So ist es unvermeidlich, dass das herrschende System auch mit den deutschen Wolga-Bauern in Konflikt gerät. Und weil die entgegengesetzten gesellschaftlichen Ideen sich in der Form entgegengesetzter religiöser Ideen äußern, hier Atheismus, dort Protestantismus, nimmt auch hier der Kampf die Form einer Religionsverfolgung an.

Religion ist nicht einfach ein von Priestern und Herrschern erfundener Aberglaube, der durch atheistische Propaganda bekämpft werden kann. Sie ist ebenso wenig eine bloße Wirkung der Unwissenheit, die durch Belehrung mittels Naturwissenschaft vernichtet werden kann. Sie entsteht aus der Unfähigkeit der Menschen, ihr eigenes Schicksal zu beherrschen. Sie bringt zum Ausdruck, dass unbekannte übermächtige Kräfte, entweder natürlichen oder gesellschaftlichen Ursprunges, Meister sind über Leben und Schicksal. Deshalb wird es von der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung Russlands abhängen, ob und wie dort Religion bestehen bleiben wird. Dieser ersten Zeit des Emporkommens des Staatskapitalismus entspricht der Atheismus des jungen Russlands; man sieht eine ungehemmte grenzenlose Entwicklung nach Wohlfahrt und Überfluss vor sich liegen, man sieht die Probleme des Lebens gelöst und keine höhere Macht ist nötig. Aber schon verwickelt sich Russland in die Weltpolitik, die jetzt auf ein blindes Abgleiten des Kapitalismus nach Weltkrieg, Untergang, Revolution herauskommt; den Gefahren, die die übrige kapitalistische Welt bedrohen, kann Russland sich nicht entziehen, es ist nicht Herr seines Schicksals. In dieser Hinsicht ist es bezeichnend, was die Presse neulich berichtete, dass die russische Regierung, nach den Verträgen mit westeuropäischen Regierungen, jetzt mit der römischen Kirche unterhandelte über die Zulassung katholischer Propaganda. Sollten in Russland neben dem herrschenden Staatskapitalismus auch noch Privatbesitz und Warenproduktion in bedeutendem Masse bestehen bleiben oder emporkommen, so wird gegen die geistigen Wirkungen dieser materiellen Wirklichkeit der erlernte Materialismus zu einer äußeren Form werden.

III.

So wie die Kommunistische Partei die bolschewistischen Methoden auf den politischen Klassenkampf Westeuropas und Amerikas übertrug, so hat sie hier auch die russische Methode der Religionsbekämpfung nachgeahmt. So tritt dann auch in dieser Frage in instruktiver Weise der große Gegensatz zwischen Bolschewismus und Kommunismus hervor, als eine Wirkung des Gegensatzes zwischen der primitiven russischen Gesellschaft der Zarenzeit und dem entwickelten Kapitalismus des Westens.

Der Kommunismus, die Befreiung der Arbeiterklasse, bedeutet das Ende der Religion. Mit dem Verschwinden des irdischen Elends verschwindet auch das himmlische Spiegelbild dieses Elends. Wenn die Menschheit den Arbeitsprozess mit bewusster Absicht leitet und ihre Existenz dadurch gesichert ist, wenn der Mensch Herr seines Schicksals ist und keine unverstandene übermächtigen Gewalten ihn beherrschen, dann sieht er die ganze Welt mit offener Klarheit vor sich, und keine phantastischen Gespensterbil-der eines geängstigten Geistes können mehr seine Einsicht trüben. Aber auch wenn dieses Ziel noch nicht erreicht ist, wirkt die Einsicht, dass es erreicht werden wird, befreiend auf den Geist. Der historische Materialismus, die Marx’sche Lehre lehrt uns die gesellschaftlichen Kräfte zu verstehen. Die Arbeiter sehen, dass es keine geheimnisvollen übernatürlichen Mächte sind, die ihnen Armut, Elend, Krieg, Vernichtung bringen, sondern dass dies Wirkungen des Kapitalismus sind, die sie durch ihren Kampf besiegen und beseitigen können. Deshalb sind diese Gewalten, obgleich noch sehr mächtig, nicht mehr unverstanden; und daher verschwindet die Religion bei den Arbeitermassen, die durch Sozialismus oder Kommunismus eine Grundlage marxistischer Einsicht bekamen. Das geschieht dann nicht durch die Kraft atheistischer Argumente gegen die Religion, wodurch sie überzeugt und gewonnen werden. Sondern durch die neue gesellschaftliche Einsicht verblasst und verschwindet in ihrem Innern das Gefühl der furchtsamen Unsicherheit, und so wird ihr Geist für Argumente zugänglich, die sie eigentlich kaum noch brauchen, und versinkt ihre Religion.

Zwischen dem Marx’schen historischen Materialismus und dem bürgerlichen Materialismus aus der Mitte des 19. Jahrhunderts besteht ein tiefgehender Unterschied. Letzterer glaubte die menschliche Gesellschaft mittels der Naturgesetze erklären zu können und hatte keine Ahnung, dass die Gesellschaft ihre eigenen Gesetze hat. Der Marxismus zeigt diese Gesetze der Gesellschaft auf, die die Entwicklung der Menschheit in Vergangenheit und Zukunft bestimmen. Der bürgerliche Materialismus glaubte, dass durch die Kenntnis der Naturgesetze und durch ihre Anwendung in der Technik der Mensch sein Schicksal beherrschen und damit auch geistig frei werden könne. Aber diese Anwendung, die Entwicklung des Kapitalismus zeigte, dass größeres Elend und gewaltigere, unbekannte Mächte daraus entsprangen. Der Marxismus erklärt diese Mächte und klärt die Arbeiter darüber auf, wie sie sie durch diese Wissenschaft besiegen können. Der Gegensatz der beiden Arten von Materialismus tritt am schärfsten in ihrer Auffassung der Religion auf, die der eine für eine Wirkung einfacher Unwissenheit über die Natur, der andere für eine Wirkung gesellschaftlicher Faktoren hält. Und dabei steht die Art und Weise, wie der Bolschewismus die Religion bekämpft, ganz auf dem Boden des bürgerlichen Materialismus.

Wäre die Religion nichts als ein Produkt der Unwissenheit, so hätte sie in dem letzten halben Jahrhundert zunehmender Wissenschaft und stets besseren Unterrichts bei der gebildeten Klasse, bei der Bourgeoisie, immer mehr verschwinden müssen. Und was sehen wir? Dass diese Klasse, und sogar ihr intellektueller Teil, in dieser Zeit immer religiöser geworden ist. Nun wird gesagt, dass dies nur daher kommt, dass die Bourgeoisie Interesse daran hat, die Religion im Volke im Stande zu halten und deshalb die Religion durch ihr Beispiel unterstützt. Zweifellos wirkt dies mit, aber die Hauptsache ist es nicht. Mit solch oberflächlichen Ansichten über seine Gegner kann das Proletariat nur sich selbst schwächen. So wenig die Bourgeoisie wirtschaftlich aus Missetätern und politisch aus Dummköpfen besteht – wie die Propaganda machthungriger Parteipolitiker uns aufzubinden versucht –, so wenig besteht sie, geistig, aus Heuchlern. Die religiösen Empfindungen in dieser Klasse sind größtenteils echt, und es wird sich zeigen, dass das auch selbstverständlich ist.

Religion ist die phantastische Form, in der die Menschen ihr unbewusstes Empfinden des Zusammenhanges mit der Gesamtwelt zum Ausdruck bringen, solange sie den wirklichen Zusammenhang nicht kennen. Der Mensch war für seine Existenz immer von der Welt abhängig, und diese Abhängigkeit wird bestehen bleiben, weil er immer ein Teil der Welt bleibt und sein Leben ein Teil des Gesamtprozesses des Weltgeschehens ist. Aber in den hinter uns liegenden Zeiten der Geschichte durchschaute und beherrschte er diese Abhängigkeit nicht. Die Mittel zum Leben wurden ihm in den ersten primitiven Kulturzuständen durch von seinem Willen unabhängige Naturtatsachen (Sonnenschein, Regen, fruchtbare Erde) geboten; aber zugleich konnten gewaltige Naturkräfte ihn vernichten. In den späteren Jahrhunderten lernte er diese Naturkräfte mittels seiner Technik, später durch Naturwissenschaft unterstützt, zu lenken, zu benutzen und in seinen Dienst zu stellen. Sein Leben wurde reicher und sicherer. Aber nun traten gesellschaftliche Kräfte auf, die aus den Produktionsformen entstanden, in welchen bei fortschreitender Technik die Menschen in stets größeren Verbänden zusammenarbeiteten: Stämmen, später Städten, Völkern, Staaten, Klassen. Kampf der Stämme um Land, Kampf der Städte und Staaten um Handel und Profit, Kampf Aller gegen Alle in scharfer Konkurrenz, Kampf der Klassen um ihren Anteil am Produkt und um Macht, Krieg und Krise in modernen Zeiten – sie alle trieben als mächtige Kräfte die Menschen fort und brachten ihnen Erfolg oder Untergang. Der Einzelne fühlte sich machtlos, und er war es auch; Glück und Unglück hingen nicht von ihm selbst ab. Während er lebte inmitten einer Welt stets reicherer Lebensmöglichkeiten, durch die Gesamtheit der Menschen bewirkt, aber ohne bewusste Absicht und Plan, wurde er durch Katastrophen heimgesucht und mit Untergang durch Kräfte bedroht, die er nicht verstand und nicht beherrschte, auch durch die Gesamtheit der Menschen bewirkt, auch ohne bewusste Absicht oder Plan. Diese Abhängigkeit von einem Weltganzen, das hoch und mächtig über ihm und über seinem Verständnis stand, äußerte sich in einem Gefühl von Furcht und Demut, bisweilen Zuversicht und Gelassenheit, aber immer von Unterwürfigkeit gegen die sublimierte Personifikation dieser Kräfte, also in religiösen Gefühlen. Wie sich diese Gefühle in der hinter uns liegenden Geschichte stets sich ändernder Produktionsformen in stete neue Religionsformen entwickelten, kann man in Gorters Büchlein über den historischen Materialismus, wie in manchen anderen marxistischen Schriften finden. Wir wollen hier diese allgemeine Theorie nur auf die moderne Zeit anwenden und dabei zuerst die Bourgeoisie betrachten.

In der modernen Kapitalistenklasse wirken zwei Tendenzen einander entgegen. Einerseits hat sich ihre technische Macht nie so gewaltig gezeigt als in dem letzten Zeitalter – der Zeit des im Emporkommens und der Vervollkommnung der Luftschifffahrt, der enormen Beschleunigung des Weltverkehrs, geistig und materiell, der Verfeinerung der Werkzeugtechnik und der festeren Verflechtung von Arbeit und Wissenschaft. Was zuvor als erstaunliche Zusammenfassung des unbewussten Wachstums bemerkt wurde: die Herrschaft des Menschen über die Natur und die Naturkräfte, wurde nun als das stolze Programm eines zielbewussten technisch-wissenschaftlichen Vorgehens proklamiert. So wuchs in der Bourgeoisie das Bewusstsein unbegrenzter Möglichkeiten, das Gefühl zu allem fähig zu sein. Vor allem in den Herren der Produktion, den wirtschaftlichen Führern der Welt, die sich selbst als Lenker des Menschenschicksals sahen. Der günstigere Reflex dieser Tendenz war weniger Materialismus – Einsicht in die natürlichen Kräfte der Welt – als Zynismus – Verachtung für das, was andere verehren.

Aber dazwischen wirkte eine andere Empfindung, schon lange bevor in der heutigen Weltkrise die Anarchie der kapitalistischen Produktion ihre Meister zu verzweifelter Anstrengung und ängstlichem Zweifel über die Zukunft trieb. Denn die Drohung der proletarischen Revolution hat die Bourgeoisie schon von ihrem Emporkommen an geängstigt. Sobald die Arbeiterklasse vor einem halben Jahrhundert sich zu organisieren anfing, den Kampf aufnahm und ihre sozialistischen Ziele proklamierte, war es mit dem Selbstvertrauen der Bourgeoisie aus. Und damit schmolz der bürgerliche Materialismus zusammen, und nur schwache Reste wirkten seitdem in einem Teil des Kleinbürgertums und der Arbeiterklasse nach. Denn nun zeigte sich, dass die Naturwissenschaft die Menschheit nicht befreien konnte und dass die Technik im Kapitalismus kein allgemeines Glück, keinen Frieden, keine Freiheit bringen könne. Die Zukunft wurde dunkel und ungewiss; die Bourgeoisie sah ihre Welt voll unbegreiflicher drohender Kräfte. So wuchsen nun alle Arten von Mystik und Aberglaube in ihr auf.

Als zwei ängstigende Gewitterwolken hängen diese beiden Katastrophen über ihr, zuerst der Weltkrieg, dann die Weltkrise, nun die Drohung eines noch verheerenderen Weltkrieges. Die Bourgeoisie beherrscht ihre Welt nicht. Machtlos und begriffslos steht sie der Allgewalt dieser gesellschaftlichen Kräfte gegenüber. Und in deren Gefolge sieht sie die Arbeiterklasse im Emporkommen, noch zeitweilig durch Arbeitslosenunterstützungen beruhigt, die Hungerrevolten vorbeugen, noch durch die Möglichkeit parlamentarischer Proteste oder durch Hoffnung auf eine von oben versprochene bessere Wirtschaftsordnung hingehalten. Aber sie hört doch das Grollen in der Tiefe, sie sieht da und dort die neuen Ideen aufblitzen, die einer kommenden Revolution Kraft geben, sie denkt mehr an die Revolution als die Arbeiter selbst, und sie bereitet sich vor, ihr mit dem schärfsten Druck entgegenzutreten. Denn sie kann in Revolution und Kommunismus nichts anderes sehen als Chaos, Untergang aller Kultur und das Ende der Menschheit. Und dennoch fühlt sie instinktiv, dass sie ohnmächtig ist, diesem Verhängnis vorzubeugen. So wächst in ihr immer mehr der Glauben an eine übermenschliche, übernatürliche Macht, die die Welt lenkt. Und sie klammert sich noch stärker an diesen Glauben durch die schwache Hoffnung, dass damit vielleicht die Arbeiter von ihrem Ziel zurückzuhalten sind und die Kraft, die in ihrer Einheit liegt, zu brechen ist.

IV.

Das Emporkommen der sozialistischen Arbeiterbewegung in dem letzten halben Jahrhundert ist in der Geschichte der Menschheit der erste Fall der Religionslosigkeit als Massenerscheinung. Diese Massen hatten aus ihrer früheren kleinbürgerlichen oder bäuerlichen Betriebsweise die Religion als eine Tradition mitgebracht. Aber als Arbeiter, in die kapitalistische Industrie zusammengeworfen, lernten sie den Klassenkampf führen, lernten sie einiges über die Entwicklung der Gesellschaft zum Sozialismus, erkannten sie, dass ihre missliche Lage aus natürlichen und begreiflichen Ursachen stammt, und sahen sie die Möglichkeit, dem durch ihre eigene Kraft ein Ende zu bereiten. In der wichtigsten Lebenspraxis hatte ihr Geist sich nur mit Wirklichkeiten, mit dem Verstehen realer Dinge zu beschäftigen, und so musste das überlieferte fantastische Denken verblassen und allmählich verschwinden. Dieser Prozess geht noch immer weiter.

Man soll den Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Ideen nicht mechanisch als eine Formel auffassen, dass nun zu jeder bestimmten Klasse notwendig eine bestimmte Anschauungsweise gehört. Die Gesellschaft wirkt fortwährend durch alle Einflüsse und Kräfte unserer Umgebung auf uns ein, bei jedem also in Einzelheiten verschieden; und so werden allmählich, bei dem einen rascher, bei dem anderen langsamer, die in der Jugend eingeprägten Lehren und die Tradition früherer Zustände überwunden. Es können auch Verschiedenheiten nach dem Beruf auftreten; wo Arbeiter unerwartete Katastrophen ausgesetzt sind – wie Bergarbeiter und Fischer – da bleibt, trotzdem sie wissen, dass ungenügende Sicherheitsmaßnahmen unter dem Kapitalismus eine Rolle spielen, doch eine tiefe innere Religiosität bestehen.

Auch die Entwicklung der Arbeiterbewegung selbst macht sich hier geltend. In den Zeiten des ersten Emporkommens, als klare Propaganda der Prinzipien vorherrschte, war die Aufklärung am gründlichsten. Als nachher die großen Scharen der Mitläufer kamen, die nur durch Wahlerfolge und direkte Interessen, nicht durch eine tiefe Umwälzung ihrer Grundanschauungen zum Sozialismus kamen, blieb die überlieferte Religion, die sie aus ihrer kleinbürgerlichen Umgebung mitbrachten, nahezu ungestört bestehen. Als die Sozialdemokratie eine Partei wurde wie jede andere, in Konkurrenz mit den anderen, und die Kirchen ihr mit sozialen Losungen, sozialen Maßnahmen und Arbeiterorganisationen Konkurrenz zu machen verstanden, hörte die Ausbreitung des materialistischen Denkens unter bisher religiösen Arbeitern auf. Es kommt hinzu, dass die theoretische Durchbildung sowohl wie die innere Zukunftssicherheit infolge der reformistischen Entartung der Bewegung geschwächt sind. Die Bourgeoisie erweist sich mächtiger, das Ziel ist weiter und dämmeriger, als man früher meinte. Und die verheerenden Kräfte der Gesellschaft zeigen sich in Krieg, in allgemeiner Unordnung, in Weltkrise, gewaltiger und unlenkbarer. Was man ihnen gegenüber stellen konnte, war nur ein gewisser verschwommener Glaube, dass schließlich die Arbeiter doch siegen werden. Aber dieser Glaube äußerte sich mehr als ethische Friedensliebe und Erklärungen der Brüderlichkeit der Völker als in kräftiger Kampfbereitschaft für die Revolution. Es ist sofort verständlich, dass in einer solchen Arbeiterbewegung religiös gefärbte Tendenzen stets stärker hervortreten und eine Art christlicher Sozialismus an Einfluss gewinnt. So findet mit der politischen auch eine geistige Annäherung an die Bourgeoisie immer mehr statt.

In anscheinend vollkommenem Gegensatz dazu steht die geistige Propaganda der kommunistischen Partei, die nach dem russischen Beispiel die direkte Bekämpfung, der Religion zu ihrer Aktion rechnet. Das mag namentlich den Arbeitern, die selbst die religiöse Tradition überwinden mussten und bei ihren Kameraden immer der Religion als schwerem Hemmnis begegnen, sehr radikal erscheinen. Aber es ist in Wirklichkeit sehr oberflächlich und bleibt an der Oberfläche und an den äußeren Schichten haften. Radikal sein heißt, die Sache bei der Wurzel fassen. Die Wurzel ist das gesellschaftliche Wesen, in diesem Falle die Abhängigkeit und Machtlosigkeit. Diese Wurzel angreifen ist – so lange die Gesellschaft nicht selbst umgewandelt ist – eine solche Einsicht in die gesellschaftliche Entwicklung bringen, dass daraus die Sicherheit der Befreiung durch eigene Kraft entsteht. Nur das kann die Macht des religiösen Denkens beseitigen. Durch theoretische Erörterungen gegen die Richtigkeit der religiösen Dogmen geschieht das nicht; das ist nichts als ein Angriff gegen die äußere Form, gegen die Wirkung, während die Ursache, das innere Wesen unbehelligt gelassen wird. Nur ein klares Verständnis dafür, welche Kräfte die Gesellschaft treiben und wie das Denken und Handeln der Menschen durch wirtschaftliche Lebensbedürfnisse bestimmt werden, macht den Glauben in übernatürliche Erklärungen überflüssig und sinnlos. Aber ohne dieses Verständnis ist Unglauben, Atheismus gerade so gut ein dogmatischer Glauben, ohne festes Fundament.

Der Atheismus, den die k.p. propagiert, und die verschwommene Religiosität vieler sozialistischer Kreise sind in gleichem Maße bürgerliche Denkweisen. Atheismus und Religion haben miteinander gemein, dass sie unbewusste Ausdrücke einer Empfindung sind, die die Gesellschaft in den Menschen erzeugt. Deshalb sind sie beide dogmatisch, d.h. sie betrachten sich selbst als absolute Wahrheit und bekämpfen und verfolgen einander, weil sie die gegensätzlichen Ideen für die Ursache des praktischen Kampfes halten. Wenn wir den Namen Materialismus benutzen als Wirklichkeitslehre, die Lehre, die nur die Wirklichkeit, die wirklichen Kräfte der Welt untersucht und verstehen will, dann darf der Atheismus diesen Namen nicht einmal tragen. Als Abkömmling bürgerlichen Materialismus sieht er zwar die Wirklichkeit der Natur, aber nicht die Wirklichkeit der Gesellschaft, also nur die der weniger bedeutungsvollen Hälfte des Weltganzen. Sein Wert ist der einer leeren Hülle, einer negativen Losung, weil er nur besagt, dass die religiöse Erklärung der Welt, diejenige mittels übernatürlicher Wesen, verworfen wird. Was dem einen positiven Inhalt geben könnte, die wirkliche Erklärung der Entwicklung der Welt, das klare Wissen der Kräfte und Wirkungen, die unser Leben beherrschen, fehlt. Diesen Inhalt kann nur Marx' historischer Materialismus geben.

Wenn oben gesagt wurde, dass die k.p. den Atheismus propagierte und die Religion bekämpfte, so ist das eine zu günstige Aussprache. Es sind die Freidenker, die mit aufrichtig erwogenen Argumenten die Religion bekämpfen. Was die Organe der k.p. machten, war nicht viel mehr als höhnische und verletzende Ergüsse gegen die Religion. Das zeigt wohl am klarsten die geistige Arbeit der kommunistischen Parteien, dass sie, in ihrer geistigen Abhängigkeit von dem Bolschewismus, in Westeuropa mit den gleichen einfältigen Mitteln gegen die Religion auftraten, mit denen in Russland den Muschiks imponiert wurde. Es war ja auch nicht als ernsthafter Kampf gemeint, zu dem man dort nicht fähig ist, sondern nur um die Bourgeoisie zu ärgern und die Arbeiter mit einem Schaustück der eigenen Tapferkeit zu imponieren. Es ist die alte Methode des äußeren Scheines an die Stelle der inneren Kraft, die auch in ihrer Politik der großen Worte liegt, hinter denen nur ein nach äußeren Erfolgen strebender reformistischer Machthunger liegt. Und als Probe auf das Exempel, um zu zeigen, wie wenig kommunistisch und wie völlig bürgerlich dieser angebliche Materialismus ist, kommt als letzter Purzelbaum die Losung der Toleranz. Jetzt, da Russland seinen Frieden mit den Westmächten macht, sucht die kommunistische Partei sich bei dem Bürgertum anzubiedern und proklamiert dazu die religiöse Toleranz, das alte bürgerliche Prinzip.

Für die Bourgeoisie ist sie ein Prinzip. Sie hat als lästige Erbschaft aus den früheren Jahrhunderten, als religiöse Differenzen Klassenkämpfe widerspiegelten, die verschiedenen Religionen und Kirchen überliefert bekommen, jetzt als starre Glaubensformeln. Trotzdem jeder nach der eigenen Lehre annehmen muss, dass der Andere auf ewig verloren ist, muss man seinen Glauben respektieren, sonst könnte man keine Geschäfte miteinander abschließen. Die Geschäfte lassen keinen Glaubensstreit zu, und Geschäfte sind die Hauptsache. Also muss man in der kapitalistischen Welt tolerant sein. Auch bei politischen Geschäften.

Der wirkliche Kommunismus ist nicht tolerant. Ein kommunistischer Arbeiter, dessen tiefster Wunsch ist, seine Klasse zu einer kräftigen Aktionseinheit zu bringen, toleriert es nicht, dass seine Kameraden ohne Verständnis für die gesellschaftliche Entwicklung bleiben. Er weiß, dass solange die Klarheit über die Gesellschaft fehlt, irgendein Glauben oder Unglauben den Geist erfüllt. Einen Glauben zu einem leeren Unglauben zu bekehren, bringt seiner Klasse keine Kraft. Er wird mit aller Anstrengung daran gehen, überall Einsicht, Klarheit, Verständnis der Gesellschaft, Einsicht in das Ziel und den Kampf der Arbeiterklasse zu bringen, damit die Arbeiter mit klaren Augen die Wirklichkeit der Welt sehen, die ihr Schicksal bestimmt. Dann verlieren die übernatürlichen Traditionen ihre Kraft. Damit wird die Aktionseinheit aller Arbeiter als einer festgefügten bewussten Klasse vorbereitet und gesichert.


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Compiled by Vico, 3 December 2020


























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