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Antonie Pannekoek Archives

Rätekorrespondenz

Quelle: a.a.a.p.


Rätekorrespondenz

Internationale Rätekorrespondenz 1934-1937 / Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland). – Transkribiert und herausgegeben für Rätekommunismus ; Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek, Dezember 2020, 504 S., € 13,16, ISBN 979-8551636052


Die Wirtschaftslage im Nationalsozialismus, 1934


Quelle:  Die Wirtschaftslage im Nationalsozialismus (Aus: „Der Arbeiterkommunist“). – In: Internationale Rätekorrespondenz : Theoretisches und Diskussionsorgan für die Rätebewegung  – Ausg[abe]. der Gruppe Int[ernationaler]. Kommunisten, Holland. – 1934, Nr. 1; Quelle der Transkription: Rätekommunismus , Dezember 2020, Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek.


Die nationalsozialistische Wirtschaft bewegt sich weiter in der Linie, die ihr durch ihre grundsätzlich-kapitalistische Politik vorgeschrieben ist. Das gilt binnenwirtschaftlich, wie im Zusammenhang mit der weltwirtschaftlichen Situation, in deren Schlepptau sie als politisch eine der schwächsten Glieder im verstärkten Maß in alle Sackgassen und Widersprüche hineingetrieben wird. Wäre an der national-„sozialistischen“ Wirtschaft nur eine Spur einer sozialistischen Grundhaltung vorhanden, so müsste wenigstens der Ansatz zu einer der kapitalistischen Profitwirtschaft entgegengesetzten bedarfswirtschaftlichen Regelung zum Ausdruck kommen. Aber selbstverständlich würde ein solcher Versuch nicht nur die Unfähigkeit eines Systems beweisen, das auf einer Führerdiktatur aufgebaut ist, er widerspricht auch seiner Struktur, die ihm als Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Zusammenhänge zukommt. Denn wieder einmal sehen wir den Gegensatz zwischen dem Schein und der Wirklichkeit, die dieser verschleiert! Die äußerlich sichtbaren Formen einer strengen, mit allen brutalen Mitteln errichteten Macht gewähren dem, der nur die Oberfläche sieht, das Bild eines weitverzweigten durchorganisierten Apparates, aufgeteilt in eine gestaffelte Gliederung der Verantwortung an bestimmte Personen, die in einen bestimmten Machtbereich eingesetzt sind. Dieser Herrschafts- und Verwaltungsapparat aber thront auf den ihn bewegenden undurchsichtigen, unübersehbaren, im steten Kampf miteinander liegenden Kräften, deren entscheidender Charakter das Ringen gegensätzlicher Profitinteressen ist. Es ist der Konkurrenzkampf des kapitalistischen Systems mit allen Zügen der Profitwirtschaft an Stelle der Bedarfswirtschaft und was hier als Marktregelung, als „sozialistischer Sektor“, als Ausdruck eines „deutschen Sozialismus“ usw. verkündet wird, wie etwa die Agrarwirtschaft mit ihren Subventionen, Festpreisen, Erbhöfen und verlogener Romantik von Blut und Scholle, bedeutet nichts anderes als die Kulisse für den Tatbestand, dass der kapitalistische Profit bestimmter Schichten gesichert werden soll. Das kann auch gar nicht anders sein, denn da ja ausdrücklich die Unantastbarkeit des Eigentums an den Produktionsmitteln; also das kapitalistische Eigentum und die private Initiative die Grundlage dieses „Sozialismus“ darstellen, so kann er auch keine Spur von Sozialismus enthalten. Es offenbart sich in der Vorstellung der Gutgläubigen als Rückfall in einen utopischen Sozialismus, der zu allen Zeiten das Wohlwollen kapitalistischer Machthaber gefunden hat. Besonders aber heute, wo diese darin das Mittel sehen, den breiten Massen das Traumbild einer Zukunft vorzugaukeln, ein Mittel, das ihnen gleichzeitig alle Möglichkeit gibt, zusammen mit den Propheten einer solchen Fata Morgana, die Position der Ausbeuter neu zu festigen.

Diese Tatsache, dass es im Grunde der alte Konkurrenzkampf der Unternehmer ist, die jetzt für eine Periode verschärfter Wirtschaftssituation ihr von keiner Arbeiteropposition gestörtes Kräftespiel auf dem Rücken der breiten Massen austragen sollen, wird ganz offen von den Spitzen des Regimes ausgesprochen. Es wirkt wie ein Treppenwitz der Geschichte, dass ausgerechnet anlässlich der Verkündung des Gesetzes für den „organischen“ Aufbau der deutschen Wirtschaft der Reichswirtschaftsminister Schmitt ausführte:

„Auch in Zukunft soll wirtschaftlich weitergekämpft werden. Ohne ehrlichen (!) Konkurrenzkampf geht es nicht […] auf dieser Basis wollen wir auch in Zukunft aufbauen.“

Was das Berliner Tageblatt im Leitartikel vom 23. März zu einigen tiefsinnigen Betrachtungen veranlasst: „Die Interessen in ihrer Verschiedenheit sind geblieben; Sie haben sich wieder zur Geltung gebracht, sodass es nötig ist, auch wenn das Wort noch so verpönt gilt – von einer Konsolidierung der Interessen zu sprechen […] Wirtschaft ist Kampf, nicht nur gegen die Natur, sondern auch einer gegen den anderen!“

Wunderschön! Eine bessere Definition des deutschen Sozialismus konnte gar nicht gefunden werden! Wir werden noch weiter sehen, was das für die Arbeiterklasse bedeutet.

Das Ausland übersieht teilweise besser als mancher hierzulande, dem Tamtam der Goebbels und Ley und die pathetische Biedermanngeste von Hitler die bessere Erkenntnis verschleiert, was in Deutschland gespielt wird, wer Herr im Hause ist. In der Londoner Monatsschrift: „Fortnightly Review“ vom März heißt es in einem Artikel, betitelt „Der letzte Streich der Junker“:

„Es ist ebenso unsinnig zu sagen, Deutschland habe eine Revolution gehabt, wie es falsch ist zu behaupten, Hitler habe die Macht ‚ergriffen‘. Der Nationalsozialismus wurde von den Industriellen und Junkern mit der Geschäftsführung beauftragt in einem Augenblick, als er seinen Höhepunkt bereits überschritten hatte und der Einfluss abzubröckeln begann. Hitler hat auch nicht das ‚Novembersystem‘ zerstört, es wurde bereits vorher, im Juni 1932, erledigt, als Severing abtrat. Der eingesetzte Terror durch Göring hat zwar der Partei die Möglichkeit gegeben, äußerlich reinen Tisch zu machen, und dadurch den Eindruck erzeugt, als ob ganz Deutschland ‚gleichgeschaltet‘ sei. Das ist aber zum größten Teil Bluff. Die Machthaber des alten Regimes sind nur zum Teil von der äußerlichen Bildfläche verschwunden, sie haben noch den Einfluss, und Hitler ist gegenwärtig Spielball der Intrigen und eine Marionette, wie noch je ein Puppenkönig gewesen ist. Die gegenwärtigen Schwierigkeiten belasten sein Gemüt und in solchen Zeiten wird oft Dr. Hanfstengl berufen, um durch sein Klavierspiel seinen deprimierten Chef aufzuheitern. Die Lage ist allerdings verhängnisvoll und die Theorie der Überlegenheit des ‚Totalen Staates‘ ist schwer in Bedrängnis. Die Führer machen sich auch gar keine Illusionen über den wahren Zustand der Wirtschaft. Die offiziellen Zahlen des Rückganges der unterstützten Arbeitslosen besagen sehr wenig, denn eine große Anzahl erhält eben keine Unterstützung mehr, man denke an Landhelfer, Notstandsarbeiter, usw. Der ‚Economist‘, eine führende englische Wirtschaftszeitschrift, hat festgestellt, dass die Neueinstellung von Arbeitskräften im Wesentlichen auf Kosten der bereits Beschäftigten erfolgte, da man deren Arbeitszeit und Einkommen entsprechend beschnitten hat. Die Reallöhne in Deutschland sind die niedrigsten seit 50 Jahren. Nach dem Nationalsozialistischen Volksdienst werden, nach einem Jahre der Hitlerregierung, ein Viertel von der Bevölkerung von der Winterhilfe betreut! Diese Zahlen beweisen, dass in Wirklichkeit so gut wie nichts geschah, um die Lebenshaltung dar Massen zu bessern. Das Alles genügt schon, um eine politische Veränderung vorauszusehen, deren Kommen gewiss ist, wenn man auch das Tempo nicht prophezeien kann […]“

Was hier in diesem englischen Blatt von der Lebenshaltung der Massen gesagt ist, lässt sich sogar aus der amtlichen Statistik beweisen, deren wirtschaftswissenschaftliches Material zwar allen Fachleuten bekannt ist, aber von den Tageszeitungen wohlweislich nicht erwähnt wird. Aus einer Zusammenstellung des Statistischen Reichsamtes über die Arbeitsverdienste in der Textilindustrie in Sept. 1933 ergeben sich interessante Einblicke, besonders da hier auch die Nettowochenverdienste nach Abzug der Steuer- und Sozialversicherungsbeiträge angeführt worden. Das ist das Ergebnis aus 147 Betrieben in 42 Orten bei einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 42½ Stunden. Wir führen nur die hochbezahlten Kategorien an und setzen daneben in Prozenten die Verdiensteinbuße, die diese Schichten dabei gegenüber der Situation von 1931 erlitten haben.

NettoverdienstVerdiensteinbusse seit 1930
BandweberM 26,4221%
StrumpfwirkerM 23,0545%
TrikotwirkerM 24,2325%
SamtweberM 32,4227%
SeidenweberM 24,9025%

Aus einer anderen Statistik des Amtes ergibt sich, dass 1934 die Tariflöhne in den 17 wichtigsten Erwerbzweigen gegenüber dem 1. Jan. 1933 noch um 1% (männliche), resp. 1,1% (weibliche) gesenkt waren, dass aber die Lebenshaltungskosten im gleichen Zeitraum für Ernährung um 7%, für Bekleidung um 2% zugenommen haben.

Das ist die Situation für die Arbeiter am Beginn der von Hitler so feierlich, umrahmt vom künstlich hergerichteten Idyll aus Arbeitern, Kleinbahnlokomotiven und Schwarzwälder-Tannen, eingeleiteten zweiten „Arbeitsschlacht“. Sie wird weiter gekennzeichnet durch Methoden dieser Arbeitsbeschaffung und die Methoden des Arbeitskommandos, das dabei auf den Arbeitern lastet. Es wirkt geradezu wie die Vorstellung eines Narren, wenn Hitler zum Schluss ausruft:

„Deutsche Arbeiter, fanget an!“

Womit denn? Mit der unterwürfigen Gefolgschaft unter den Führern ihres Betriebes, – wenn sie einem zugehören – der nach der nationalsozialistischen Rangordnung der Führer ist, weil er der Besitzer ist? Gilt das Wort von der Privatinitiative etwa auch für den Arbeiter?

Beispiele beweisen das Gegenteil, beweisen, wie der deutsche Sozialismus die Leibeigenschaft wieder einführt: die Zustände auf dem Lande haben dazu geführt, dass manche Arbeiter von dort flüchteten, um in den Städten in ihren gelernten Berufen Arbeit zu finden, dort wo durch die sog. Arbeitsbeschaffung Nachfrage war. Das wurde ausdrücklich als Sabotage am Aufbauwerk des Führers proklamiert und mit Konzentrationslager bedroht. 50 Wohlfahrtserwerbslose, die von Bremen aus zu einer Arbeit transportiert wurden, benutzten eine Panne, um zurückzukehren, weil sie die Arbeit wegen gänzlich ungenügender Entlohnung verweigerten. Die „Rädelsführer“ wurden sofort in Schutzhaft genommen.

Wir sehen: „anfangen“ heißt für den deutschen Arbeiter, sich für die Privatinitiative der kapitalistischen Produktion als Arbeitssklave zur Verfügung zu stellen. Und dieser Unantastbarkeit, nicht der Freiheit des Arbeiters, sondern des Unternehmers, entspricht es auch, wenn die Methoden nur eins erreichen: eine immer tiefer greifende Verschuldung. Auch hier ein Beispiel, wie wenig sich diese Arbeitsbeschaffung nach der Bedarfswirtschaft orientiert: Rüstungsfieber, Eisenbahn- und Straßenbauten, riesige Verkehrsanlagen, die an sich völlig unproduktiv sind und in jedem Sinne nur dazu dienen sollen, der Privatwirtschaft die Wege zu ebnen. Nur dass diese davon sehr wenig Gebrauch macht, und mühsam mit Steuergeschenken und sonstiger Belastung der Öffentlichkeit in Fahrt gebracht werden muss. Die kürzlich erfolgte Rede des Reichsfinanzministers gab einigermaßen Aufschluss über die finanzielle Seite: eine Verschuldung von 6 Milliarden, eine Vorwegnehme zukünftiger Einnahmen, von denen überhaupt noch nicht feststeht, ob und in welcher Höhe sie eingehen!!

Es ist nicht schwer, aus diesen Zusammenhängen abzuleiten, was es mit der Wirtschaftsbelebung auf sich hat. Ein Finanzieren ins Blaue hinein, eine krampfhafte Arbeitsbeschaffung, die sich lediglich im Bereiche der „öffentlichen Hand“ abspielt, denn die Unternehmer gedenken gar nicht daran das mitzumachen.

So bereitet sich eine Finanzkrise allerschlimmsten Ausmaßes vor. Das weiß das Ausland natürlich ganz genau und man versteht daher die deutsche Position in der Diskussion der Weltmächte. Die englischen und französischen Blätter behaupten, dass Schacht seinen Rücktritt angeboten habe, der aber abgelehnt sei. Weiter, dass der Reichsbankpräsident sich in einigen Wochen nach den Vereinigten Staaten begebe, um dort eine Rohstoffanleihe von 500 Millionen Dollars zu erbitten! Das wäre der Gipfelpunkt der Naivität! Die deutsche Presse verhält sich schweigend hierzu und darf keine Stellung nehmen, nicht einmal in Gestalt von Dementis. Die Situation des deutschen Kapitalismus, der einerseits von Steigerung der Produktion spricht und dazu ausländische Rohstoffe braucht, aber für seinen Export immer weniger Boden findet, ist international am Ende seines Lateins und seiner Devisen. Eine Anleihe in u.s.a. – noch dazu in solcher Höhe – ist eine reine Chimäre. Die Frage Inflation oder nicht bleibt durchaus offen, die wird nicht durch noch so energische Erklärungen Hitlers oder Schacht entschieden. Im Außenmarkt haben wir schon eine sehr wesentliche Inflation: Der Kurs der Reichsmark, Sperrmark usw., Werte von hunderten Millionen sind nach den letzten Reden Schachts erneut gesunken und haben eine Abwertung (Disagio) von 40% erhalten, d.h. das Disagio hat sich in den letzten 2½ Monaten verdoppelt.

(Aus: „Der Arbeiterkommunist“)


Compiled by Vico, 25 November 2020