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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Theorien über kapitalistischer Krisen und Imperialismus


Rudolf Goldscheid, Verelendungs- oder Meliorationstheorie? / Anton Pannekoek, 1906


Quelle:  Rudolf Goldscheid, Verelendungs- oder Meliorationstheorie? / A[nton]. Pannekoek. – In: Die Neue Zeit, 25. Jg. (1906-1907), 1. Bd., Nr. 5, 31. Oktober 1906, S. 174-176


Rudolf Goldscheid, Verelendungs- oder Meliorationstheorie? 1906, Verlag der „Sozialistischen Monatshefte“. 54 S. 8°.

Marx’ Lehre von der Notwendigkeit der Entwicklung zum Sozialismus, so fängt der Autor seine Betrachtungen an, ist einer doppelten Auslegung fähig, und daher stammen alle Kämpfe, die sich um den Revisionismus bewegen: man kann diese Notwendigkeit als eine Folge des ökonomischen Zusammenbruchs betrachten, aber auch als eine Folge der Empörung und der Auflehnung der Arbeiterklasse. „Was Marx unentschieden gelassen hat, ist nur das eine: er hat sich nicht darüber ausgesprochen, ob die Entwicklung zum Sozialismus in stärkerem Maße von den rein ökonomischen Tendenzen der kapitalistischen Wirtschaft, oder mehr von den psychologischen Gegentendenzen des Proletariats gefördert wird“ (S. 9). An anderer Stelle sagt er, Marx mache seine Gegners offerbar: „die kapitalistische Gesellschaftsordnung ist sowohl von der Scylla des ökonomischen Zusammenbruchs wie von der Charybdis des sich immer fester organisierenden Proletariats bedroht.“

Diese Gegenüberstellung von zwei Tatsachen, die in Wirklichkeit eine untrennbare Einheit bilden, zeigt, daß dem Autor der Kern der sozialistischen Auffassung völlig frend ist. Der ökonomische Zusammenbruch, das heißt die immer schärfer hervortretende Unhaltbarkeit und der sich durch die ökonomische Entwicklung immer mehr zuspitzende Widerspruch der kapitalistisch Produktion bringt die revolutionäre Arbeiterbewegung als eine notwendige Folge mit sich; und diese Arbeiterbewegung ist die wirkliche Kraft, die den Sozialismus bringen wird. Das Fehlen dieser notwendigen Verknüpfung der beiden Erscheinungen führt selbstverständlich zu sonderbaren Auffassungen von beiden. Der ökonomischen Zusammenbruch wird zu einem großen Kladderadatsch, einer „sozialen Katastrophe“, in der der Kapitalismus „an seinen eigenen Disharmonien platzt“, und die auch einen Teil des Proletariats „unter ihren Trümern begraben“ wird. Dem gegenüber tritt die revolutionäre Arbeiterbeweung in der Gestalt von „psychologischen Gegentendenzen“ auf, die der rein-ökonomischen Entwicklung des Kapitalismus entgegenwirken. Der Autor geht hier von dem bekannten, aus dem „Kapital“ hundertmal zitierten Satze aus, daß dem Kapitalismus die Tendenz innewohnt, die materielle Lage der Arbeiter infolge seiner ökonomischen Gesetze immer mehr zu verelenden, doch daß aus dieser Verelendung der Widerstand der Arbeiter erwächst, der bis zu einem gewissen Verelendung der Widerstand der Arbeiter erwächst, der bis zu einem gewissen Grade diese Tendenz zu heben und die materielle Lage der Arbeiter zu verbessern imstande ist. Diese Tatsache verallgemeinert Goldscheid in der Weise, daß in jeder Hinsicht den rein ökonomischen Tendezen des Kapitalismus durch die Empörung der kämpfenden Arbeiter entgegenwirkende Tendenzen erwachsen, denen der schöne Name von „Meliorationen“, zu deutsch „Verbesserungen“, gegeben wird. „Wer deshalb angesichts einer von Tag zu Tag sich steigernden Macht des organisieren Proletariats die Marxsche Konzentrations- und Akkumulationstheorie in ihren vollen Umfang aufrecht erhalten will, der begreift nicht, daß er damit an ein ganz hoffnungsloses Unternehmen herantritt“ (S. 11). „Die Meliorationstheorie besagt […] es wohnt der kapitalistischen Produktionsweise […] die Tendenz inne, die Arbeiter in immer größeren Massen zusammenzudrängen, ein immer intelligenteres Proletariat heranzuzüchten und so psychologische Gegenwirkungen zu entfesseln, die sowohl die Konzentrations- wie die Verelendungstendenz des Kapitalismus immer mehr underbinden“ (S. 13).

Die Arbeiterbewegung hat bis jetzt nie daran gedacht, die Konzentrationstendenz innerhalb des Kapitalismus zu hindern – abgesehen von dem Zerstören der ersten Maschinen zu Anfang der Großindustrie und von dem ein paarmal voorgekommenen zünftlerisch-geschränkten Widerstand englischer Gewerkschaften gegen neue Maschinen –, sie kann auch gar kein Interesse dafür empfinden, solange Herr Goldscheid sie nicht davon überzeugt hat, daß die schließlich in dem großen Kladderadatsch unter den Trümmern begraben werden wird. Je schneller die Akkumulation und Konzentration des Kapitals fortschreitet, um so schneller sind die Bedingungen des Sozialismus gegeben; nur der bei einer widerstandsunfähigen Arbeiterklasse damit Hand in Hand gehenden Verelendungstendenz muß sie mit aller Macht entgegenarbeiten. Wenn Herr Goldscheid daher in einer mächtigen Arbeiterklasse ein „konservierendes Element“ (S. 25) des Kapitalismus sieht, ist nicht nur der Ausdruck, sondern auch der Gedanke gerade so reaktionär wie Konfus.

Die „psychologischen Gegentendenzen“ (man wird jetzt diesen Ausdruck für die aus der Arbeiterbewegung erwachsenden Tendenzen verstehen) bringen nach Goldscheid einen ganz anderen Kapitalismus zustande als den früheren, den Marx allein kannte. War dieser eine qualvolle Stätte der Verelendung und des Grauens, so zeigt jener, „der durch die Arbeiterklasse wesentlich mitbestimmte Kapitalismus“, ein blühendes Gemälde von allerhand Meliorationen. Zwar wir nicht ganz klar, was der Verfasser mit diesen Meliorationen meint; er spricht S. 34 von der physischen, der geistigen, der ökonomischen un der politischen Melioration, und versteht darunter also wohl nicht bloß die Verbesserung der Lebenslage und die Linderung des kapitalistischen Elends, sondern auch die revolutionäre Geidtesverfassung und die Organisation und politische Macht der Arbeiterklasse. Diese Mächte des Umsturzes, die dem Kapitalismus einmal den Garaus machen werden, als eine „Verbesserung der kapitalistischen Produktionsweise“, als eine „Verminderung der Zusammenbruchsgefahr“ zu feiern, wird doch manchen etwas zu starker Tabak sein, der bedenkt, daß der Schließliche Zusammenbruch des Kapitalismus in dem Sinne einer Katastrophe ja nichts anderes ist als die politische Katastrophe für die Kapitalisten, das heißt die Besitzergreifung der Staatsgewalt durch die Arbeiterklasse.

Es spielt aber hier in konfuser Weise der Gedanke mit unter, daß die jetzige Organisation der Arbeiterklasse ihr einen direkten politischen und ökonomischen Einfluß verleihe, da die herrschenden Klassen mit ihr zu rechnen haben. Allerdings ist dies wahr, aber in ganz anderem Sinne, als der Verfasser meint. Der Kapitalismus wird in der Tat jetzt durch die Arbeiter mitbestimmt; die gewaltige Macht des Sozialismus übt eine bedeutende politische Wirkung aus, aber von einem gewissen Punkt an in der Weise, daß er die Kapitalisten und ihren Staat immer feindseliger gegen alle Konzessionen and die Arbeiterklasse macht. Man braucht nur an die Stagnation der Arbeiterschutzgesetzgebung, an die traurige Rückhändigkeit der Gesetzesbestimmungen über Arbeitszeit und an die Aussperrungswit der Kapitalisten bei geringen Lohn differenzen denken, in denen die Frucht der herrscher hindurchblickt, die Verbesserung ihrer Lebenslage werde die Entwicklung, die Zuversicht und also die Kampfestüchtigkeit der Arbeiter erhöhen – um zu verstehen, was in Wirklichkeit der durch die Arbeiterklasse mitbestimmte Kapitalismus bedeutet. Die kapitalisten ertragen keine Teilung der Macht, keinen Einfluß der Arbeiterklasse, und um diesen zu verhindern, widersetzen sie sich jetzt sogar geringfügigen Verbesserungen, gegen die sie vom rein geschäftlichen Standpunkt aus nichts einzuwenden hätten.

Auf den angeführten Grundgedanken baut dann der Autor praktische Konzequenzen auf, die sich mit den Konzequenzen des Revisionismus decken. Wir sollen uns mit der Ethik befassen, „heute […] ist bis zu einem gewissen Grade der Tag der Ethik gekommen“ – daß die Ethik schon seit Marx eine hervorragende Rolle in unserer Theorie und unserer Praxis spielt, und von Anfang her eine neue Ethik in tiefsten Innern mit dem ganzen Marxismus verwoben war, hat Goldscheid wohl nicht bemerkt – „Revolutionärer Idealismus“, „Willenstheoretische Kritik“, „Ökonomischer Idealismus“ bilder die Stichwörter, nach denen der Marxismus ausgebessert werden soll. „Marx und Engels […] unterließen es, die kontinuierliche Rückwirkung des menschlichen Denkens und Wollens auf das ökonomische Sein mit in Betracht zu ziehen.“ Hiernach sind Goldscheids Geisterverfassung und Kentnisse des Marxismus zu beurteilen. Zum Schluß stellt er die „praktische“ Forderung: man soll „weite bürgerliche Kreise“ durch „die starke suggestive Kraft“ unserer Bewegung in die Reihen der Arbeiterschaft treiben, weil sie doch schon durch den Luxus der höchsten Klassen relativ verelenden und dadurch rebellisch werden.

Wie es bei solchen Verbesserungen des Marxismus üblich ist, steht die Überhebung, womit unsere großen Vorkämpfer geschulmeistert und kritisiert werden, in direktem Verhältnis zu der Verständlosigkeit, der ihre Lehren hier begegnen. Die Broschure wird angekündigt als erstes Stück einer Serie,die den pomphaften Titel „Probleme des Marxismus“ trägt. Est ist also noch eine Fortsetzung dieser Art Literatur zu erwarten, wenn der Autor nich noch rechtzeitig einsieht, daß Probleme des Marxismus nicht gelöst werden können von Leuten, denen der Marxismus selbst ein Problem ist.

A. Pannekoek.


Compiled by Vico, 21 July 2020