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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?


Massenaktion und Revolution [3] / Anton Pannekoek, 1912


Quelle:  Massenaktion und Revolution [3] / Von Ant[on]. Pannekoek. – In: Die neue Zeit, 30. Jg. (1911-1912), 2. Bd., Nr. 42, 19. Juli 1912, S. 585-593.


[Fortsetsung]

3. Die Aktion der Masse

In der „Neuen Zeit vom 13. bis 27. Oktober untersucht Genosse Kautsky in einer Artikelserie „Die Aktion der Masse“ dia Formen;Bedingungen und Wirkungen der Aktionen der großen Volksmasse. Obgleich diese Artikel zweifellos dadurch entstanden sind,-daß in den letzten Jahren in der Partei immer mehr von Massenaktionen die Rede war, muß doch von vornherein bemerkt werden, daß schon die Fragestellung hier nicht zu der wirklichen Frage paßt, um die es sich in der Praxis handelt. Kautsky betont am Anfang, daß er natürlich unter Massenaktion nicht versteht, daß die Aktionen der organisierten Arbeiterschaft durch das Wachstum ihrer Organisationen von selbst immer massenhafter werden, sondern das Auftreten der großen „unorganisierten, gelegentlich zusammenkommenden und dann wieder auseinandergehenden Volksmasse, der „Straße“ […]. Damit, daß man feststellt daß die politischen und ökonomischen Aktionen immer mehr zu Massenaktionen werden, ist keineswegs anerkannt, daß jene besondere Art der Massenaktion, die man kurz als Aktion der Straße bezeichnet, berufen ist, auch immer mehr eine große Rolle zu spielen.“ Für Kautsky gibt es also zwei Organisationsformen, die überaus verschieden sind. Einerseits die Form die bisherigen Arbeiterkampfes, wo eine kleine Kerntruppe des Volkes, die organisierte Arbeiterschaft, die Vielleicht nur ein Zehntel der ganzen besitzlosen Masse umfaßt, ihren politischen und gewerkschaftlichen Kampf führt. Andererseits die Aktion der großen unorganisierten Masse, der „Straße“ die aus irgend einem Anlaß sich erhebt und in die Geschichte eingreift. Für Kautsky handelt es sich um die Frage, ob das erste auch für die Zukunft die einzige Bewegungsform des Proletariats sein wird oder ob auch die zweite Form, die Aktion. der Masse, noch eine wichtige Rolle spielen wird.

Wo aber in den. Parteidiskussionen der letzten Jahre die Notwendigkeit, die Unvermeidlichkeit oder die Zweckmäßigkeit von Massenaktionen betont wurde, handelte es.sich nie um diesen Gegensatz Es bedeutete weder die bloße Festsetzung, daß unsere Kämpfe massenhafter werden, noch das Auftreten der unorganisierten Masse auf der politischen Bühne, sondern ein Drittes, eine bestimmte neue Form der Betätigung der organisierten Arbeiter. Die Entwicklung des modernen Kapitalismus hat dem Klassenbewußten Proletariat diese netten Aktionsformen aufgezwungen. Durch den Imperialismus mit großen Gefahren bedroht, im Kampfe um mehr Macht im Staate, um mehr Rechte, ist es genötigt,in der energischsten Weise seinen Willen gegen die anderen mächtigen Kräfte des Kapitalismus zur Geltung zu bringen – energischer, als durch die Reden seiner Vertreter im Parlament möglich ist. Es muß selbst auftreten, in den politischen Kampf eingreifen und durch den Druck seiner Massen Regierung und Bourgeoisie zu beeinflussen suchen. Wenn wir über Massenaktionen und deren Notwendigkeit reden, meinen wir damit eine außerparlamentarische politische Betätigung der organisierten Arbeiterklasse, wobei sie selbst unmittelbar durch ihr Auftreten statt durch Vertreter auf die Politik, einwirkt. Sie sind nicht gleichbedeutend mit Aktion der „Straße“ wenn auch Straßendemonstrationen eine ihrer Formen bilden, ist gerade ihre stärkste Form, der Massenstreit,bei leeren Straßen durchzuführen. Die gewerkschaftlichen Kämpfe, worin von vornherein die Massen selbst auftreten bilden, sobald die große politische Wirkungen erzeugen, von selbst einen Übergang zu diesen politischen Massenaktionen. In der praktischen Frage der Massenaktionen handelt es sich also einfach um eine Erweiterung des Betätigungsfeldes der proletarischen Organisationen.

Diese Massenaktionen stehen in dem denkbar schärfsten Gegensatz zu den früheren Volksbewegungen aus der Geschichte, die Kautsky als Massenaktionen untersucht. Dort fanden sich die Massen für einen Augenblick zusammen, durch dieselbe große gesellschaftliche Kraft zum gemeinsamen Willen zusammengeballt; dann zerfiel die Masse wieder zu den zersplitterten Einzelindividuen von früher. Hier sind die Massen schon Vorher organisiert, ihre Aktion ist im Voraus überlegt und vorbereitet, und nach deren Abschluß bleibt die Organisation zusammen. Dort, bei den alten Massenaktionen, konnte das Ziel nur der Sturz eines verhaßten Regiments, also die augenblickliche Eroberung der Macht durch einen einzigen revolutionären Akt sein; weil aber, nachdem dieses Ziel erreicht war, die Masse wieder auseinanderfiel, fiel die Herrschaft doch wieder einer kleinen Gruppe zu, und wenn das Volk auch versuchte, seine Herrschaft durch das allgemeine Wahlrecht zu verankern, so war dadurch eine neue Klassenherrschaft doch nicht zu verhindern In unseren Massenaktionen handelt e sich nun allerdings auch um die Eroberung der Herrschaft, aber wir wissen, das sie nur durch eine hoch-organisierte, sozialistische Volksmasse möglich ist. Daher ist das unmittelbare Ziel unserer Aktionen immer nur eine bestimmte Reform oder Konzession, ein Schritt vorwärts im Zurückdrängen des Feindes, ein schritt aufwärts in dem Aufbau der eigenen Macht. Früher-konnte die Volksmacht nicht stetig und sicher aufgebaut werden; sie konnte nur während eines Augenblicke in plötzlichen, gewaltsamen Eruptionen emporschießen und eine drückende Herrschaft abwerfen; aber dann zerfloß sie wieder in nichts, und eine neue Herrschaft legte sich auf die machtlose Volksmasse. Die Beseitigung aller Klassenherrschaft, die wir ins Auge fassen, ist nur dadurch möglich, das seht eine bleibende Volksmacht allmählich und unerschütterlich aufgebaut wird, bis zu dem Grade, das sie die Staatsgewalt der Bourgeoisie durch ihre Wucht einfach zerdrückt und in nichts auslöst, Früher mußten die Volkserhebungen entweder das ganze Ziel erobern, oder sie waren gescheitert, wenn ihre Macht dazu nicht ausreichte. Unsere Massenaktionen können nicht scheitern; auch wenn das gesetzte Ziel nicht erreicht wird,sind sie nicht vergebens, und sogar zeitweilige Rückschlagen bauen andern künftigen siege mit. Die alten Massenaktionen umfaßten immer nur einen winzigen Teil der ganzen Bevölkerung: die Erhebung und Zusammenrottung eines Teiles der Volksklassen der Hauptstadt genügte oft, eine Regierung zu stürzen, und mehr war jedenfalls nicht zusammenzubekommen. Heute umfassen unsere Massenaktionen auch erst eine Minderheit; aber indem sie immer weitere Kreise der zuvor unbeteiligten Bevölkerung heranziehen und sie in unsere Armee einreihen, wächst aus der Gesamtheit der Massenaktionen schließlich die Aktion der großen ausgebeuteten Volksmasse auf, die jede Weitere Klassenherrschaft unmöglich macht.

Mit dieser scharfen Hervorhebung des Gegensatzes zwischen dem, was in der-Parteipraxis, und dem, was bei Kautsky unter Massenaktion verstanden wird, wird nun seine Untersuchung noch gar nicht überflüssig gemacht. Denn es ist nicht ausgeschlossen, das auch in Zukunft plötzliche gewaltige Erhebungen der millionenköpfigen unorganisierten Massen gegen eine Regierung losbrechen können. Kautsky weist – mit vollem Rechte – ausführlich nach, daß der Parlamentarismus und die Gewerkschaftsbewegung, anstatt direkte Massenaktionen überflüssig zu machen, vielmehr erst recht ihre Grundbedingungen verwirklichen. Teuerung,und-Krieg, die in der Vergangenheit so oft die Massen zu revolutionären Erhebungen aufpeitschten, tauchen auch jetzt wieder in greifbarer Nähe auf; Daher ist es für uns von allergrößter Wichtigkeit, die Natur, die Grundlagen und die Wirkungen solcher spontanen Massenaktionen möglichst an dem Tatsachenmaterial „der Geschichte zu studieren.

Die Art und Weise jedoch, wie Kautsky diese Untersuchung durchführt, muß ernste Bedenken erregen. Schon das Resultat läßt diesen Mangel erkennen. Was ist eigentlich das Resultat, das dem Leser des zweiten Artikel, worin das Auftreten der Masse in der Geschichte untersucht wird, als Gesamteindruck verbleibt? Die-Masse wirkt bisweilen revolutionär, aber sie wirkt auch reaktionär; sie wirkt zerstörend, bald nützlich, bald schädlich, bald bricht sie aus, wenn man es am wenigsten ertwartet, bald versagt sie völlig, wenn man auf ihr Auftreten rechnet.

Die Wirkungen und Erscheinungsformen den Massenaktion können also der mannigfaltigsten Art sein. Sie lassen sich schwer vorher ermessen, denn die Bedingungen, von denen sie abhängen, sind höchst komplizierten Natur. Sie wirken fast immer entweder überraschend, alle Erwartungen übertreffend, oder enttäuschend (S. 82).

Kurz, man kann eigentlich nichts davon sagen, aus nichts Bestimmtes rechnen, alles ist zufällig und unsicher. Das Resultat ist also kein Resultat; die Untersuchung ist, trotz der vielen guten und wertvollen Einzelbemerkungen, resultatlos geblieben. Woran liegt das? Wir können den Grund nicht besser angeben als durch das, ‚was wir vor sieben Jahren in einer Kritik der teleologischen Geschichtsauffassung ausführten („Neue Zeit“, XXII, 2, S. 423,Marxismus und Teleologie):

Nimmt man die Masse ganz im allgemeinen, das ganze Volk, so findet man, daß bei der gegenseitigen Aufhebung entgegengesetzter Auffassungen und Willen anscheinend nichts übrig bleibt als eine willenlose, launenhafte, zügellose, charakterlose, passive Masse, hin und her schwankend zwischen verschiedenen Antrieben, zwischen aufbäumendem Impuls und dumpfer Gleichgültigkeit – bekanntlich das Bild, indem die liberalen Schriftsteller am liebsten das Volk darstellen. In der Tat muß es den bürgerlichen Forschern scheinen, daß bei der unendlichen Verschiedenheit der Individuen Abstraktion vom Individuum zugleich Abstraktion ist von allein, was den Menschen zu einem wollenden, lebendigen Wesen macht, so das nur eine eigenschaftslose Masse bleibt. Denn zwischen der kleinsten Einheit, der Einzelperson, und dem ganz Allgemeinen, in dem alle Unterschiede aufgehoben sind, den inerten Masse, kennen sie kein Zwischenglied; sie kennen nicht die Klassen. Demgegenüber ist es die Kraft der sozialistischen Geschichtslehre, daß sie in die unendliche Verschiedenheit der Persönlichkeiten. Ordnung und System brachte durch die Verteilung der Gesellschaft in Klassen. In jeder Klasse findet man die Individuen beisammen, die ungefähr dieselben Interessen, denselben Willen, dieselben Ansichten haben, welche denen der anderen Klassen entgegengesetzt sind. Unterscheidet man in den geschichtlichen Massenbewegungen die besonderen Klassen, so tritt aus dem zuvor unentwirrbaren Nebelbild aus einmal ein übersichtlicher Kampf der Klassen klar hervor, mit seinen wechselnden Momenten von Angriff, Rückzug, Verteidigung, Sieg und Niederlage. Man vergleiche nur die Darstellungen die Marx von den Revolutionen von 1848 gegeben hat, mit denen bürgerlicher Autoren. Die Klasse ist das Allgemeine in der Gesellschaft, das zugleich einen besonderen Inhalt behalten hat; hebt man dieses Besondere auf, um zu einem schlechthin Allgemein-Menschlichen zu gelangen, so bleibt nichts Bestimmtes übrig. Eine Gesellschaftswissenschaft kann nur Inhalt haben, wenn sie sich mit den Klassen beschäftigt, wo die Zufälligkeit des Einzelindividuums aufgehoben ist und zugleich das Wesentliche des Menschen, ein gestimmtes, von anderen verschiedenes Wollen und Fühlen, in reiner, abstrakter Gestalt geblieben ist.

Unter den Schülern von Marx hat keiner die Bedeutung dieser marxistischen Theorie als Rüstzeug für den Forscher der Geschichte so schlagend bewiesen wie gerade Kautsky in seinen historischen Schriften; die glänzende Klarheit, die er überall bringt, stammt wesentlich daher, daß er überall zu den Klassen, ihrer Lage, ihren Interessen und Anschauungen durchdringt und daraus ihre Taten erklärt. Hier aber hat er das marxistische Rüstzeug zu Hanse gelassen, und dadurch kommt er zu keinem Resultat. Nirgends in seiner historischen Darlegung ist von dem besonderen Klassencharakter der Massen die Rede; im Anschluß an und in Polemik mit Le Bon und Kropotkin wird nur das unwesentliche psychologische Moment beleuchtet, aber das wesentliche, das wirtschaftliche Moment, woraus gerade die Verschiedenheiten in Form und Ziel der Massenbewegungen entspringen, bleibt unberücksichtigt. Die Aktion des Lumpenproletariats, das nur plündern und zerstören kann ohne eigene Ziele, die Aktion der Kleinbürger, die in Paris auf die Barrikaden stiegen, die Aktion moderner Lohnarbeiter, die durch einen Massenstreik politische Reformen erzwingen, die Aktion der Bauern in ökonomisch zurückgebliebenen Ländern – wie 1808 in Spanien oder Tirol – gegen die künstliche Aufpfropfung moderner Gesetze, sie sind alle verschieden und können in der Eigenart ihrer Methoden und Wirkungen nur durch eine Betrachtung der Klassenlage und der Klassenempfindungen begriffen werden. Wirft man sie aber alle als „Aktion der Masse“ unterschiedslos zusammen, so kann daraus; nur ein Kuddelmuddel entstehen der gerade das Gegenteil von Klarheit bringt. Die Darstellung des spanischen Guerillakriegs als eine reaktionäre Massenaktion, die an stelle der nützlichen Franzosen das „reaktionäre Geschmeiß“ von „Pfaffen, Junkern und Höflingen“ wieder aus Ruder brachte, mag in den Tagen des Kampfes gegen den schwarzblauen Block sehr sympathisch berühren, aber entspricht doch nicht der sonstigen historischen Methode Kautskys. Wenn er auf die Junischlacht als warnendes Beispiel einer von der Regierung provozierten und im Blute erstickten Massenaktion hinweist, zu Nutz und Frommen der heutigen Generation, so fehlt dabei die wesentliche Tatsache, daß hier zwei Massen,eine bürgerliche und eine proletarische, einander gegenüberstanden. So muß jedes historische Ereignis in eine falsche Beleuchtung kommen, wenn man versucht, es unter Vernachlässigung seines wesentlichen besonderen Charakters unter dem inhaltslos-allgemeinen Begriff der Massenaktion unterzubringen.

Dieser Mangel wirkt auch nach, wo im dritten Artikel „die historischen Wandlungen der Massenaktionen“ betrachtet werden. Hier, wo es sich um die Bedingungen und Wirkungen proletarischer Massenbewegungen handelt, bietet Kautsky wieder eine Fülle von wertvollen und wichtigen Darlegungen; aber trotzdem fordert die allgemeine Grundlage seiner Ausführungen zur Kritik heraus. Kautsky sieht, daß die modernen Massenaktionen einen anderen Charakter tragen werden als die alten; aber er sucht den Grund des Unterschieds vor allem in der Organisation und der Aufklärung.

Aber wie machtvoll man sich auch die Massenaktionen vorstellen mag, die aus dieser Situation entspringen können, sie werden nicht mehr völlig den Charakter tragen, den sie ehedem hatten. Die vierzig Jahre politischer Volksrechte und proletarischer Organisation können nicht spurlos vorübergegangen sein. Die Zahl der organisierten und aufgeklärten Elemente in der Masse ist zu groß geworden, als das sie sich nicht auch bei spontanen Ausbrüchen geltend machen müßte, wie plötzlich diese auch kommen mögen, wie gewaltig die Erregung, der sie entspringen, wie sehr auch jede planmäßige Leitung bei ihnen ausgeschaltet sein mag (S. 115).

Hier wird also der hauptsächlichste Gegensatz zwischen den früheren und den heutigen und künftigen Massenaktionen völlig außer acht gelassen: die ganz andere Klassenzusammensetzung der modernen Massen. Auch die unorganisierten Massen von heute müssen ganz anders auftreten als die Volksmassen von früher, denn sie unterscheiden sich von ihnen als proletarische von bürgerlichen Massen. Die historischen Massenbewegungen waren Aktionen bürgerlicher Massen; Handwerker, Bauern und kleinbürgerlich empfindende Arbeiter der Kleinbetriebe traten darin auf. Weil diese Klassen durch die Natur ihrer Wirtschaft individualistisch waren, deshalb mußte die Masse sofort wieder in Einheiten auseinanderfallen, sobald die Aktion vorüber war. Heute bestehen die großen aktionsfähigen Massen vorwiegend aus Proletariern, aus.Arbeitern im Dienste des Großkapitals, die einen ganz anderen Klassencharakter aufweisen und in ihrem Denken, Fühlen und Sein völlig von dem alten Kleinbürgertum verschieden sind.

Gegen diese Verschiedenheit im Grundcharakter wird der Gegensatz zwischen organisierten und unorganisierten Massen zwar nicht bedeutungslos – denn Schulung und Erfahrung machen bei gleich veranlagten Mitgliedern der Arbeiterklasse viel aus –, aber doch zu einer Nebensache. Wiederholt ist schon darauf hingewiesen, das nicht alle Arbeiterschichten in demselben Maße organisierbar sind. Gerade die Arbeiter in den kapitalistisch höchstentwickelten und konzentrierten Betrieben, in der kartellierten schweren Industrie, in dem Eisenbahnbetrieb, teilweise auch in den Bergwerken; bieten der gewerkschaftlichen Organisation viel größere Schwierigkeiten als die weniger konzentrierte Großindustrie. Die Ursache liegt aus der Hand: die Macht des Kapitals – oder des Staates als Unternehmer – tritt ihnen gegenüber so ungeheuer groß und erdrückend auf, daß Widerstand auch mittels der Organisation aussichtslos erscheint. Diese Massen sind in ihrem tiefsten Wesen so proletarisch wie keine andere; die Arbeit im Kapitaldienst hat ihnen eine instinktive Disziplin eingepaukt. Ihre Kämpfe trugen bisher den Charakter spontaner Ausbrüche; aber darin zeigten sie eine erstaunliche Disziplin und Solidarität und eine unerschütterliche Festigkeit im Kampfe, wovon namentlich in Amerika in den letzten Jahren die Ausstände der unorganisierten Massen im Dienste der Trusts schöne Beispiele zeigten. Zwar fehlt ihnen .die Erfahrung, die Ausdauer, die Einsicht, die erst in einer längeren Kampfpraxis erworben werden können. Aber in ihnen steckt nichts von dem alten Individualismus des unorganisierten Kleinbürgertums. Ihre Klassenlage bewirkt, daß sie blitzschnell die Lehren der Organisation und des sozialistischen Klassenkampfes erfassen und anzuwenden wissen. Wenn man sie als nicht oder schwer organisierbar bezeichnet, so bezieht sich das nur auf die Form der heutigen gesellschaftlichen Organisation, nicht auf Kampfdisziplin und Organisationsgeist, nicht auf die Fähigkeit, sich an den proletarischen Massenaktionen zu beteiligen. Sobald durch irgend ein Ereignis die Macht des Kapitals nicht mehr überwältigend und unantastbar erscheint, werden sie in den Kampf treten, und es ist gar nicht ausgeschlossen. daß sie in den Massenaktionen eine noch größere Rolle spielen, noch wertvollere Bataillone bilden werden als die Masse der jetzt Organisierten.

Damit schließt sich die Aktion der unorganisierten Masse von selbst an die anfangs von uns betrachtete Aktion der organisierten Massen an. Die Massenaktionen, die die organisierte Arbeiterschaft beschließt, ziehen rasch Weitere Kreise des Proletariats heran. und damit steigern sie sich allmählich zu Aktionen der ganzen proletarischen Klasse. Der heute oft so groß erscheinende Gegensatz zwischen Organisierten und Unorganisierten geht dabei verloren; nicht aus dem Grunde, weil letztere sich nun alle in die Kaders, der bestehenden Organisationen aufnehmen lassen – denn es ist gar nicht sicher, daß diese in der heutigen Form ruhig bestehen bleiben können – sondern in dem Sinne, daß in diesen Kampfformen alle in derselben Weise ihre Disziplin, ihre Solidarität, ihre sozialistische Einsicht, ihre Hingabe an ihre Klasse betätigen können. Die Aufgabe der Sozialdemokratie – in der Gestalt der heutigen Parteiorganisation oder in Welchem sonstigen Organ sie sich verkörpert – ist es, als der geistige Ausdruck dessen, was in dieser Masse lebt‚ ihre Aktion zu leiten und einheitlich zu gestalten.

Ganz anders sieht das Bild aus, daß man aus Kautskys Darlegung gewinnt. Anknüpfend an das Resultat seiner historischen Untersuchung, daß man von einer Massenaktion nichts Bestimmtes sagen kann, sieht er auch in den künftigen Massenaktionen gewaltige Eruptionen, die, völlig unberechenbar, über uns hereinbrechen wie eine Naturkatastrophe, zum Beispiel ein Erdbeben. Bis dahin hat die Arbeiterbewegung ihre bisherige Praxis einfach weiter zu verfolgen; die Wahlen, die Streiks, die parlamentarische Arbeit, die Aufklärung, es geht alles in der alten Weise in allmählich steigendem Umfang Weiter, ohne etwas Wesentliches an der Welt zu ändern – bis auf einmal durch einen äußeren Anlaß geweckt, eine gewaltige Massenerhebung emporsteigt und vielleicht das herrschende Regiment niederwirft. Genau nach dem alten Master der bürgerlichen Revolutionen; nur mit dem Unterschied, daß jetzt die Parteiorganisation fertig steht, die Herrschaft in die Hand zu nehmen und die Früchte des Sieges festzulegen und, statt die Kastanien, die die Massen aus dem Feuer holte, als neue Herrschende Schicht selbst zu verzehren, sie zu einem Gericht für alle bereitet. Es ist dieselbe Theorie, die während der Massenstreikdebatte vor zwei Jahren von Kautsky vertreten wurde – die Theorie des Massenstreiks als eines einmaligen revolutionären Aktes‚ dazu bestimmt, die kapitalistische Herrschaft mit einem Schlage niederzuwerfen –, die hier in neuer Form auftritt. Es ist die Theorie des Aktionslosen Abwartens – Aktionslos nichts in dem Sinne, daß nicht in der üblichen Weise parlamentarisch und gewerkschaftlich weitergearbeitet wird. sondern in dem Sinne, daß man-die großen Massenaktionen wie Naturereignisse passiv an sich; herankommen laßt, statt sie jedesmal in dem richtigen Moment aktiv zu veranstalten und weiterzutreiben. Es ist die Theorie, die zu der Massenaktionen abholden Praxis der Parteileitung gehört‚ und aus ihr läßt sich die oft-kritisierte Praxis der Parteileitung erst logisch verstehen, während der großen Momente, als die Aktion des Proletariats geboten war, untätig zu bleiben und zur Zeit des Wahlrechtskampfes den Straßendemonstrationen möglichst rasch ein Ende zu bereiten. damit wieder Ruhe herrsche. Im Gegensatz zu unserer Lehre der revolutionären Aktivität des Proletariats‚ das in einer Periode steigender Massenaktionen seine Herrschaft aufbaut und die Macht des Klassenstaats immer mehr abträgt, erwartet diese Theorie des passiven Radikalismus keinen Umschwung von der bewußten Tätigkeit des Proletariats. Er stimmt mit dem Revisionismus dahin überein, daß unsere bewußte Tätigkeit sich in dem parlamentarischen und gewerkschaftlichen Kampf erschöpft. und daher ist es nicht sonderbar‚ daß seine Praxis nur allzuoft – wie neulich bei dem Stichwahlabkommen – eine Annäherung an die Revisionistische Taktik aufweist. Von dem Revisionismus unterscheidet er sich dadurch‚ daß jener von solcher Tätigkeit selbst den Umschwung‚ den Übergang zum Sozialismus erwartet und sie daher aus Reformen zuspitzt, während er diese Erwartung nicht teilt, sondern revolutionäre Ausbrüche voraussieht als Katastrophen. Die ohne unseren Willen und unser Zutun wie aus einer anderen Welt plötzlich hereinbrechen und dem Kapitalismus den Garaus machen. Es ist „die alte bewährte Taktik“ in ihrer negativen Seite zum System erhoben. Es ist die Katastrophentheorie in der Form, wie wir sie bisher nur als bürgerliches Mißverständnis kannten, zur Parteilehre avanciert.

Zum Schlüsse führt Kautsky aus:

„Wenn wir für die nächste Zeit die politische und soziale Situation schwanger mit Katastrophen sehen. entspringt dies aus unserer Auffassung dieser besonderen Situation, nicht aus einer allgemeinen Theorie. Geht aber aus der Besonderheit der Situation die Notwendigkeit einer besonderen, einer neuen Taktik hervor? Einige unserer Freunde behaupten das. Sie wollen unsere Taktik revidieren. Eingehender ließe sich darüber erst reden, wenn sie mit bestimmten Vorschlägen aufträten. Das ist bis heute nicht geschehen. Vor allem müßte man wissen, ob man neue taktische Grundsätze oder neue taktische Maßnahmen verlangt […]“ (S. 116).

Darauf ist einfach zu erwidern, daß wie keine Vorschläge zu machen brauchen. Die Taktik, die wir als richtig betrachten, ist schon die Taktik der Partei; ohne daß dazu Vorschläge nötig waren, hat sie sich praktisch durchgesetzt in den Massendemonstrationen. Theoretisch hat die Partei sie schon anerkannt in der Jenaer Resolution, wo vom Massenstreik als Mittel zur Eroberung neuer politischer Rechte geredet wird. Das soll nicht besagen, das wir mit der Praxis der letzten Jahre in jeder Hinsicht zufrieden sind; aber man kann doch nicht als eine neue Taktik vorschlagen, daß die Parteileitung es nicht als ihre Aufgabe ansehen soll, Massenaktionen des Proletariats möglichst zu dämpfen oder Diskussionen über die Taktik zu verbieten; Wenn wir mitunter über eine neue Taktik reden, so nicht in dem Sinne von neu vorzuschlagenden Grundsätzen oder Maßnahmen – daß gehandelt wird, wie die Situation jedesmal erheischt, setzen wir als selbstverständlich voraus – sondern-um klare theoretische Einsicht zu bringen über das‚ was sich tatsächlich vollzieht. Die Taktik des Proletariats wälzt sich schon um, oder besser noch. erweitert sich, indem sie neue mächtigere Kampfmittel in sich aufnimmt; unsere Aufgabe als Partei ist es‚ in den Massen ein klares Bewußtsein dieser Tatsache zu wecken, ihrer Ursachen wie auch ihrer weitesten Konsequenzen. Wir müssen Aufklärung darüber verbreiten, daß die Situation. die aus der Zunahme der Massenkämpfe entsteht, nicht eine zufällige ist, von der sich nichts sagen läßt sondern die bleibende und normale Situation der letzten Periode der Kapitalismus. Wir müssen darauf hinweisen, daß die bisherigen Massenaktionen nur den Anfang einer Periode revolutionärer Klassenkämpfe bilden, in denen das Proletariat statt passiv zu Warten, bis Katastrophen von außen die Welt erschüttern, selbst im stetigen Angriff und Vorwärtsdrängen. in schwerer opfervoller Arbeit seine Macht und seine Freiheit aufbauen muß. Das ist die „neue Taktik“, die man auch mit vollem Rechte die naturgemäße Fortsetzung der alten Taktik nach ihrer positiven Seite nennen könnte.

[Schluß folgt]


Anmerkungen

*) Wie diese Faktoren durch die parlamentarischen und gewerkschaftlichen Kämpfe stetig wachsen, lassen wir hier beiseite und verweisen dazu auf unsere Schrift: „Die taktische Differenzen in der Arbeiterbewegung“, wo gerade dies ausführlich behandelt worden ist.


Compiled by Vico, 11 February 2021