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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?


Massenaktion und Revolution [4, Schluß] / Anton Pannekoek, 1912


Quelle:  Massenaktion und Revolution [4, Schluß] / Von Ant[on]. Pannekoek.  – 4. Der Kampf gegen den Krieg.  – In: Die Neue Zeit, 30. Jg. (1911-1912), 2. Bd., Nr. 43, 26. Juli 1912, S. 609-616; korrigierter OCR.


[Fortsetsung]

Wir haben oben den Verfassungskampf als einen Kampf beschrieben, worin die Machtmittel der beiden Klassen sich aneinander messen, um sich gegenseitig zu schwächen. Aber es ist klar, daß das Objekt, die politischen Grundrechte, nur die äußere Form, nur den Anlaß bilden, während der wesentliche Inhalt des Kampfes darin besteht, daß die Klassen ihre Machtmittel gegeneinander ins Feld führen und jede die des Gegners zu vernichten sucht. Daher kann derselbe Kampf auch aus anderen Anlässen entbrennen; es ist nicht sicher, daß nur aus dem preußischen oder dem Reichstagswahlrecht diese großen Machtkämpfe entspringen werden, wenn auch selbstverständlich die Vernichtung der Macht der Bourgeoisie von selbst eine demokratische Verfassung mit sich bringt. Die imperialistische Entwicklung schafft immer neue Anlässe zu gewaltigen Empörungen der ausgebeuteten Klassen gegen die Kapitalherrschaft, worin ihre ganze Macht auseinanderplatzt. Der wichtigste dieser Anlässe ist die Kriegsgefahr.

Bisweilen begegnet man der Ansicht, es dürfe hier nicht einfach von einer Gefahr geredet werden. Die Kriege sind immer große weltumwälzende Kräfte,Wegbereiter der Revolutionen gewesen. Während sonst die Volksmasse noch lange geduldig die Kapitalherrschaft ertragen würde, ohne Energie sich dagegen aufzuraffen, weil es diese Herrschaft noch für unantastbar hält, peitscht ein Krieg, vor allem, wenn er ungünstig verläuft, sie zur Aktion auf, schwächt die Autorität des herrschenden Regiments, deckt seine Schwäche auf und läßt es leicht unter dem Ansturm der Massen zusammenbrechen. Das ist zweifellos richtig, und darin liegt der Grund, weshalb das Vorhandensein einer revolutionär gesinnten Arbeiterschaft in den letzten Jahrzehnten die stärkste Macht des Friedens bildete. Die Gleichgültigkeit und Teilnahmlosigkeit der Massen, diese stärksten Stutzen der Kapitalherrschaft, fallen in Kriegszeiten weg; die gesteigerte Leidenschaft wird sich in einem Proletariat, in dem die sozialistischen Lehren fest wurzeln, nicht in nationalistische Erregung, wie bei unaufgeklärten Massen, sondern in revolutionäre Entschlossenheit umsetzen und sich bei der ersten Gelegenheit gegen die Regierung wenden. Das weiß auch das Großkapital, und daher wird es sich hüten, einen europäischen Krieg, der zugleich eine europäische Revolution bedeutet, leichtfertig heraufzubeschwören. Daraus ergibt sich aber noch gar nicht, das wir im stillen einen Krieg herbeiwünschen müßten. Auch ohne Krieg wird das Proletariat imstande sein, in stetiger Steigerung seiner Aktionen die Kapitalherrschaft über den Haufen zu Werfen. Nur wer an der selbständigen Aktionsfähigkeit des Proletariat verzweifelt, kann in einem Krieg die notwendige Vorbedingung zur Revolution sehen.

Gerade umgekehrt liegt die Sache. Wir dürfen nicht allzu fest darauf rechnen, daß das Bewußtsein der revolutionären Gefahr bei den Regierenden den Krieg von uns fernhalten wird. Die imperialistische Beutelust und die sich daraus ergebenden Streitigkeiten können sie in einen Krieg hineinziehen, den sie gar nicht direkt gewollt haben. Und wenn in einem Lande die revolutionäre Bewegung so gefährlich geworden ist, daß sie in nächster Nähe die Herrschaft des Kapitals bedroht, dann hat es von einem Kriege nicht noch Schlimmeres zu befürchten und wird nur zu leicht versuchen, dadurch die Gefahr von sich abzulenken. Für die Arbeiterklasse bedeutet aber ein Krieg das schlimmste aller Übel. Ein Krieg in unserer modernen kapitalistischen Welt ist eine furchtbare Katastrophe, die in viel stärkerem Maße als alle früheren Kriege Wohlfahrt und Leben unzählbarer Massen vernichtet. Die Arbeiterklasse hat alle Leiden dieser Katastrophe auszukosten, und daher wird sie alles daransetzen müssen, den Krieg zu verhindern. Nicht die Frage: was wird nach dem Kriege? muß ihre Gedanken beherrschen, sondern die Frage: in welcher Weise wird es uns möglich sein, das Ausbrechen eines Krieges unmöglich zu machen?

Hier liegt eine der wichtigsten Taktikfragen der internationalen Sozialdemokratie vor, die schon manchen Kongreß beschäftigt und da die verschiedenste Beurteilung erfahren hat. Kautsky beschäftigt sich damit in seinem Maiartitel des vorigen Jahres: „Krieg und Frieden“ („Neue Zeit“, .XXIX, 2, S. 97). Er stellt sich dort die Frage, ob die Arbeiter durch einen Massenstreik („ein streit der Gesamtmasse der Arbeiter“) einen Krieg verhindern oder ihn im Keime ersticken können, und er antwortet: unter gewissen Verhältnissen ist das allerdings möglich; wo eine leichtfertige und dumme Regierung das einzige Moment zum Kriege bildet und keine feindliche Invasion droht – wie zum Beispiel im spanischen Kriege gegen Marokko – da kann der Sturz dieser Regierung durch einen Massenstreik zum Frieden führen – leider war das spanische Proletariat dazu zu schwach. Nun ist es klar,daß dieser Fall nur auf kapitalistisch sehr unentwickelte Verhältnisse paßt, wo nicht die Masse der Bourgeoisie, sondern nur eine kleine Gruppe an dem Kriegsabenteuer interessiert ist, also eine andere bürgerliche Partei fertig steht, die Stelle der gestürzten Regierung zu übernehmen, und das Proletariat schwach und ungefährlich ist. Wo das Proletariat stark genug ist einem Massenstreik von dieser Kraft durchzuführen, da fehlen in der Regel alle diese Bedingungen. Kautsky geht jedoch auf diese Klassenverhältnisse nicht ein, sondern stellt einen anderen Gegensatz auf:

“Ganz anders steht die Sache dort, wo eine Bevölkerung sich vom Nachbarn, ob mit Recht oder Unrecht, bedroht füllt wo sie in ihm und nicht in der eigenen Regierung die Kriegsursache erblickt, und wo der Nachbar nicht so ungefährlich ist wie etwa Marokko, das nie Spanien mit Krieg überziehen könnte, sondern wo die Gefahr seines Eindringens ins Land droht. Nichte fürchtet ein Volk mehr als eine feindliche Invasion. Die Schrecken des heutigen Krieges sind grauenvoll für jeden der Kriegführenden, und für den Sieger. Aber der werden doppelt und dreifach grauenvoll für den Schwächeren, in dessen Gebiet der Krieg hineingetragen wird. Der Gedanke, der Heute Franzosen und Engländer in gleichem Maße peinigt, das ist die Furcht von der Invasion des übermächtigen deutschen Nachbarn.
Ist es einmal so weit gekommen, daß die Bevölkerung nicht in den eigenen Regierung, sondern in der Bösartigkeit des Nachbarn die Kriegsursache erblickt – und welche Regierung versuchte es nicht, mit Hilfe ihrer Presse, ihrer Parlamentarier‚ ihrer Diplomaten der Masse der Bevölkerung diese Anschauung beizubringen! – kommt es unter solchen Umständen zum Kriege, dann entbrennt in de ganzen Bevölkerung auch einmütig das heiße Bedürfnis nach Sicherung der Grenze vor dem bösartigen Feinde, nach Schutz vor seiner Invasion. Da werden zunächst alle zu Patrioten, auch die international Gesinnten, und wenn einzelne den übermenschlichen Mut haben sollten, sich dagegen auflehnen und hindern zu wollen,daß das Militär zur Grenze eilt und aufs reichlichste mit Kriegsmaterial versehen wird‚ so brauchte die Regierung keinen Finger zu rühren, sie unschädlich zu machen. Die wütende Menge wurde sie selbst erschlagen.“(S. 104.)

Hätten wir nicht in der Betrachtung über die Aktion der Masse eine andere Probe dieser Art Geschichte Betrachtung kennen gelernt‚ so könnte man kaum glauben, daß diese Sätze aus der Feder Kautskys stammen. Die mächtigste Realität des gesellschaftlichen Lebens, die Grundtatsache sozialistischer Einsicht, die Existenz der Klassen mit ihren besonderen entgegengesetzten Interessen und Anschauungen ist hier vollkommen verschwunden. Zwischen Proletariern, Kapitalisten, Kleinbürgern gibt es keine Unterschiede; sie sind alle zusammen zu einer „ganzen Bevölkerung“ geworden, die „einmütig“ gegen den bösartigen Feind zusammensteht. Und nicht nur das instinktive Klassenempfinden, sondern auch die jahrzehntelang eingeprägten Lehren des Sozialismus sind in nichts aufgelöst; die Sozialdemokraten – die hier mit dem verschämten Ausdruck „international Gesinnten“ angedeutet werden – sind alle mit nur wenig Ausnahmen zu Patrioten geworden. Alles, was sie bisher über die Kapitalinteressen als Ursache der Kriege wußten, ist vergessen. Die Sozialdemokratische Presse, die ihre mehr als eine Million Leser über die Triebkräfte der Kriege aufklärt, scheint plötzlich verschwunden zu sein oder ihren Einfluß wie durch einen Zauberschlag völlig eingebüßt zu haben. Die sozialdemokratischen Arbeiter, die in den Großstädten die Mehrheit der Bevölkerung bilden, sind zu einer „Menge“ geworden, die wütend diejenigen erschlägt‚ die sich dem Kriege zu widerstehen wagen. So überflüssig es ist, nachzuweisen, daß diese ganze Darstellung mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat, so wichtig ist es, zu untersuchen, wie sie möglich ist, aus welcher Grundlage sie entspringt.

Sie entspringt einer Auffassung des Krieges, die die früheren Verhältnisse und Wirkungen der Kriege spiegelt, aber zu den modernen Verhältnissen nicht mehr paßt. Seit dem letzten großen europäischen Krieg hat sich die Struktur der Gesellschaft völlig umgewandelt. Zur Zeit des Deutsch-Französischen Krieges war Deutschland so gut wie Frankreich ein Agrarland, mit nur einigen Industriebezirken darin zerstreut; Bauernwirtschaft und Kleinbürgertum beherrschten den Charakter des Volkes. Die Wirkungen des Krieges, wie sie in den Köpfen der Menschen noch immer leben, in allen Schilderungen wiederkehren und auch Kautskys Darstellung beherrschen, sind ihre Wirkungen auf Bauernwirtschaft und Kleinbürgertum. Für diese Klassen besteht der schrecken des Krieges, außer der Lebensgefahr der Dienstpflichtigen, vor allem in der feindlichen Invasion, die ihre Felder zertritt, ihre Häuser verwüstet, ihnen die schwersten Lasten und Kontributionen auferlegt und damit ihre mühsam erarbeitete Wohlfahrt vernichtet. Die Gegenden, wo der Krieg sich abspielt, werden in der schlimmsten Weise heimgesucht; wo aber der Krieg nicht hinkommt, da hat man relativ wenig zu leiden. Das wirtschaftliche Leben spielt sich dort in der üblichen Weise ab; Frauen, Jugendliche und Greise können zur Not auch den Acker bestellen,und nur der Verlust oder die Verkrüppelung der in den Krieg Gezogenen kann einzelne Familien auch wirtschaftlich schwer treffen.

So war es noch in 1870. Heute liegt die Sache für die Großstaaten, vor allem Deutschland, ganz anders. Der hochentwickelte Kapitalismus hat das Wirtschaftsleben zu einem verschlungenen kunstvollen Organismus gemacht. Worin jeder Teil aufs engste mit dem Ganzen zusammenhängt. Die Zeit, daß Dorf und Kleinstadt fast unabhängig von der übrigen Welt sich selbst genügten, ist vorbei; Bauern und Kleinbürger sind in den Kreis der kapitalistischen Warenproduktion gezogen. Jede Störung dieses empfindlichen Produktionsmechanismus zieht die große Masse der Bevölkerung in Mitleidenschaft. Damit sind die Wirkungen des Krieges, seine Wirkungen für das Proletariat und für alle, die vom Kapitalismus abhängig sind, ganz anderer Natur geworden als die alte traditionelle. Seine Schrecken bestehen nicht mehr in einigen verwüsteten Feldern und verbrannten Dörfern, sondern in der Stillsetzung des ganzen ökonomischen Lebens. Ein europäischer Krieg, sei es ein Landkrieg, der mehrere Millionen junger Männer auf die Schlachtfelder ruft, oder ein Seekrieg, der den Handel und damit die Zufuhr von Rohstoffen und Lebensmitteln für die Industrie hemmt, bedeutet eine ökonomische Krise von ungeheurer Wucht, eine Katastrophe, die bis in die entferntesten Landesteile die Quellen des Lebens der weitesten Volkskreise verschüttet; unser hochentwickelter Gesellschaftsorganismus wird gelähmt, während zugleich ungeheure Massen waffentragender Männer mit den modernen vollkommenen Kriegswaffen einander gleichsam maschinenmäßig vernichten. In dieser Krise werden Kapitalwerte vernichtet, gegen die der Wert der verbrannten Häuser und der zertretenen Fluren Bagatellen sind und die vielleicht die direkten Kriegskosten übertreffen. Der Schrecken eines solchen Krieges ist nicht beschränkt und kaum konzentriert auf die Gebiete, wo die Schlachten geschlagen werden, sondern erstreckt sich auf das ganze Land. Auch wenn der Feind draußen bleibt, ist die Katastrophe in eigenen Lande nicht Weniger groß. Für ein modernes kapitalistisches Land ist nicht die Invasion des Feindes, sondern der Krieg selbst das große Unglück, das in erster Linie die proletarischen Massen, die am meisten durch die Krise zu leiden haben, zur Gegenaktion aufpeitscht. Das Ziel dieser Aktion, das die Massen zur höchsten Leidenschaft aufrüttelt, ist nicht den Feind fernhalten, wie in der alten Bauernzeit, sondern den Kriegsverhindern.

Dieses Ziel ist für die Arbeiterbewegung auch immer maßgebend gewesen; auf den internationalen Kongressen handelte es sich nie um die Frage, ob man den Krieg zu verhindern suchen oder als gute Patrioten zu den Grenzen eilen sollte, sondern darum, in welcher Weise der Krieg am besten zu verhindern sei. In der Betrachtung der dazu bestimmten Aktionen herrscht aber nur allzuoft eine mechanische Auffassung, als könne man sie im voraus beschließen, zur gegebenen Zeit in Wirkung setzen und wie am Schnürchen ablaufen lassen. Die Sozialdemokratie erscheint dabei, statt als der Ausdruck der durch die tiefsten Klasseninteressen ausgepeitschten Leidenschaft der proletarischen Massen, als „sechste Großmacht“, die wie eine riesige Geheimgesellschaft in dem Augenblick, wenn die Kanonen losgehen sollen, auf den Plan tritt und durch ihre klug erdachten Manöver die militärischen Operationen der anderen Großmächte zu vereiteln sucht. Diese mechanische Auffassung liegt der früher von den Anarchisten verfochtenen und neuerdings in Kopenhagen von den Franzosen und Engländern wieder vertretenen Idee zugrunde, durch einen Streik der Transportarbeiter und der Munitionsfabriken der Kriegslüsternen Regierung einen bösen Streich zu spielen. Mit vollem Rechte wendet sich Kautsky gegen diese Idee und betont, daß nur eine Aktion der ganzen Klasse auf die Regierung einwirken kann.

Aber auch in seinen eigenen Betrachtungen blickt dieselbe mechanische Auffassung durch, indem er herauszufinden sucht, unter welchen äußeren Bedingungen ein Massenstreik zur Verhinderung des Krieges sein Ziel erreichen oder nicht erreichen kann. Das Proletariat soll also zu entscheiden haben; entweder die Sache liegt günstig für uns, wir machen den Massenstreik und verderben der Regierung ihr Konzept – oder die Verhältnisse liegen für eine solche Aktion ungünstig; dann machen wir nichts, dann tun wir ähnlich wie die Berliner im November l848, die die gewalttätigen Pläne der Reaktion schlau zuschanden machten, indem sie widerstandslos die Truppen einziehen und sich entwaffnen ließen. Dann legen wir also den Regierungen nichts in den Weg und lassen uns willig zur Grenze schicken. Nun mag sich so der Vorgang abspielen in irgend einer Theorie oder in den Köpfen von Führern, die glauben, daß ihre Weisheit dazu berufen ist, das Proletariat vor Dummheiten zu bewahren. Aber in der Wirklichkeit des Klassenkampfes, wo der leidenschaftliche Wille der Massen sich geltend macht, kann es sich nicht um eine solche Wahl handeln. In einem hochkapitalistischen Lande, wo die proletarische Masse ihre Macht als die große Volksmacht fühlt, wird sie, wenn sie die schlimmste Katastrophe über sich hereinbrechen sieht, einfach auftreten müssen. Sie muß den Versuch machen, mit allen Mitteln den Krieg zu verhindern; wollte sie da schlau der Entscheidung ausweichen, so: wäre das eine kampflose Übergabe und schlimmer als eine Niederlage; und erst wenn sie bei diesem Versuch geschlagen und niedergeworfen wird, kann sie ihre Schwäche anerkennen.

Selbstverständlich handelt es sich nicht darum, ob das gut und empfehlenswert ist oder nicht. Nicht wie die Arbeiter handeln sollen‚ sondern wie sie handeln werden, ist der Gegenstand dieser Erörterung. Die Beschlüsse und Resolutionen von Vorständen bureaukratischen Körperschaften oder gar der Organisationen selbst sind dafür nicht maßgebend, sondern die tiefen Wirkungen, die die Ereignisse auf die Massen ausüben. Wenn wir oben von „müssen“ reden, bedeutet das nicht, daß es nach unserer Meinung nicht anders sein darf, sondern daß sich das mit Naturnotwendigkeit durchsetzen wird. In gewöhnlichen Zeiten steckt in den Parteianschauungen immer ein Stück Tradition, „die wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden lastet“. Kriegszeiten sind ähnlich wie Revolutionszeiten Zeiten der höchsten geistigen Spannung; dann wird der Schlendrian des Alltags gebrochen, und die gewohnheitsmäßigen Gedanken verlieren ihre Kraft gegen die Klasseninteressen, die in urwüchsiger Klarheit den gewaltsam aufgerüttelten Massen zum Bewußtsein kommen. Neben diesen spontan aus der gewaltigen Wirkung der großen Umwälzungen hervorkommenden neuen Auffassungen und Zielen verblassen die überlieferten Parteiprogramme, und die Parteien und Gruppen kommen oft ganz umgewandelt aus dem Schmelztiegel solcher kritischen Perioden hervor. Ein lehrreiches Beispiel dafür bietet die Wirkung des Kriege von 1866 auf die deutsche Bourgeoisie; sie erkannte da, daß das schöne Fortschrittsprogramm ihren tiefsten Klasseninteressen nicht entsprach; ein Teil der Wähler ließ die liberalen Parlamentarier, ein Teil der Parlamentarier ließ das Programm im Stich und bekannte sich zum Nationalismus und zur Regierungsreaktion.

Das soll nicht besagen, daß die Beschlüsse der Partei etwas Gleichgültiges wären. Sie gebieten zwar nicht über die Zukunft und drücken bloß aus, mit welcher Klarheit die Partei die Zukunft erkennt. Aber je besser die Partei den unvermeidlichen Entwicklungsgang und ihre eigenen Ausgaben darin durchschaut, um so erfolgreicher und geschlossener werden die proletarischen Aktionen sein. Die Aufgabe der Partei ist es, die Aktion der proletarischen Massen einheitlich zu gestalten, indem in ihr zum klaren Bewußtsein kommt, was die Massen leidenschaftlich bewegt, indem sie richtig erkennt, was in jedem Augenblick nötig ist, sich an die Spitze stellt und damit der Aktion eine gewaltige Stoßkraft gibt. Würde sie dieser Aufgabe nicht gerecht werden, so könnte sie zwar Ausbrüche der Masse, die über sie hinweggehen würde, nicht verhindern, aber durch den Konflikt zwischen Parteidisziplin und proletarischer Kampfenergie, durch den Mangel an Einheit zwischen Leitung und Massen würden die Aktionen verwirrt, zerfahren, zersplitter werden und außerordentlich an Kraft und Wirkung einbüßen. Parteibeschlüsse, Programme und Resolutionen bestimmen die geschichtliche Entwicklung nicht, sondern werden durch unsere Einsicht in die unvermeidliche geschichtliche Entwicklung bestimmt – diese Wahrheit muß immer denjenigen vorgehalten werden‚die glauben daß die Partei eine revolutionäre Bewegung entweder machen oder verhindern könne, namentlich den bürgerlichen Gegnern, die mit großem Geschrei die Sozialdemokratie denunzieren, als habe sie die Pläne zur Verhinderung eines Krieges gleichsam wie eine Mobilisationsorder fertig in einer geheimen Schublade liegen. Aber dabei darf nicht übersehen werden, daß die Partei mit ihren Beschlüssen, ihrer Natur nach, zugleich einen lebendigen aktiven Teil der geschichtlichen Entwicklung bildet, daß sie gar nichts anderes sein kann als die Kerntruppe jeder proletarischen Aktien und daher mit Recht den ganzen Haß auf sich zieht, womit die Verteidiger des Kapitalismus jede revolutionäre Bewegung verfolgen.

Von verschiedenen Seiten – von den eigenen Wortführern zur Verteidigung gegen nationalistische Angriffe, von ausländischen Genossen als Tadel – ist oft als besonders wichtig die Tatsache hervorgehoben worden, daß die deutsche Arbeiterschaft es bisher abgelehnt hat, sich für bestimmte Mittel zur Verhinderung des Krieges auszusprechen. Man kann demgegenüber auf die Stuttgarter Resolution hinweisen, die die Anwendung aller Zweckdienlichen Mittel offen läßt. Aber auch sonst wäre es unrichtig, darauf ein allzu großes Gewicht zu legen. Mehr als von den Beschlüssen der Partei hängt hier von dem Geiste ab,der die Massen erfüllt. Der bisherige zurückhaltende Standpunkt entsprach nun allerdings dem bisherigen Geiste der Massen, die instinktiv empfanden, daß sie einem Kampfe gegen die ganze Macht des stärksten Militärstaats nicht gewachsen waren. Aber mit dem stetigen Steigen der proletarischen Macht muß einmal ein Umschwung eintreten, dessen Anzeichen jetzt schon wiederholt zutage traten. Eine Arbeiterklasse, die vierzig Jahre intensiver grundsätzlicher sozialistischer Aufklärung durchgemacht hat, wird sich nicht mehr mit dem Gefühl vollkommener Machtlosigkeit aus die Schlachtfelder schleppen lassen. Das deutsche Proletariat, das an Organisationsmacht voransteht in. der Welt, kann den Machinationen des internationalen Großkapitals gegenüber weder tatenlos in Ruhe verharren, noch sich auf angebliche Friedenstendenzen der bürgerlichen Welt verlassen. Es wird nicht anders können als eingreifen, sobald die Kriegsgefahr aufkommt, und seine Macht den Machtmitteln der Regierung gegenüberstellen.

Welche Formen diese Aktionen annehmen werden, hängt wesentlich von den Verhältnissen, von der Größe der Gefahr und den Aktionen des Feindes, der regierenden Klasse ab. Sie schließt in ihrer einfachsten Form an die Tatsache an, daß das Kapital sich vor allem durch Rücksicht auf das Proletariat vom Kriege abhalten läßt. Ist das Proletariat machtlos, gleichgültig, regt es sich nicht, so dünkt der Bourgeoisie diese Gefahr nicht groß und wird sie leichter einen Krieg wagen. Die Protestaktionen des Proletariats tragen daher in ihrer ersten Form den Charakter einer Warnung, damit die herrschende Klasse sich der Gefahr bewußt und zur Vorsicht gemahnt wird. Gegen die Kriegshetze der interessierten kapitalistischen Kreise muß es durch internationale Demonstrationen einen Druck auf die Regierungen ausüben, um sie einzuschüchtern. Je drohender aber die Kriegsgefahr wird, um so nachdrücklicher müssen die weitesten Volkskreise aufgerüttelt werden, um so energischer und schärfer werden die Demonstrationen sich gestalten, vor allem wenn von der gegnerischen Seite versucht wird, sie gewaltsam zu unterdrücken. Weil es sich dabei um eine Lebensfrage des Proletariats handelt, wird es schließlich auch zu den allerstärksten Mitteln, wie zum Beispiel Massenstreiks, greifen müssen. So entwickelt sich der Kampf zwischen dem Kriegswillen der Bourgeoisie und dem Friedenswillen des Proletariats zu einem Stuck gewaltigen Klassenkampfes, für das alles gilt, was zuvor über die Bedingungen und Wirkungen der Massenaktionen zur Eroberung eines demokratischen Wahlrechts gesagt wurde. Die Aktionen gegen den Krieg werden die weitesten Kreise aufklären, sie mobilisieren und in den Kampf ziehen, die Macht des Kapitals schwächen, die Macht des Proletariats steigern. Die Verhinderung des Krieges, die in der mechanischen Auffassung als ein im voraus klug erwogener Plan erschien, kann in einem Ernstfall nur das schließliche Resultat eines sich von Aktion zu Aktion zur höchsten Intensität steigernden Klassenkampfes sein, aus dem die Macht der Staatsgewalt aufs empfindlichste geschwächt, die Macht des Proletariats aufs höchste gesteigert herauskommt.

Kautsky stellt den Gegensatz auf: nur wenn wir herrschen, ist die Kriegsgefahr beseitigt; solange der Kapitalismus herrscht, wird ein Krieg nicht absolut zu verhindern sein. In dieser scharfen Gegenüberstellung zweier Gesellschaftsformen, die unvermittelt, gleichsam durch einen plötzlichen Umschlag ineinander übergehen, übersieht Kautsky den Prozeß der Revolution, worin durch das aktive Auftreten des Proletariats die eigene Macht allmählich aufgebaut wird, die Herrschaft des Kapitals stückweise abbröckelt. Daher stellen wir gegenüber seinem Gegensatz den dritten Fall der „umwälzenden Praxis“: gerade der Kampf um den Krieg, der unvermeidliche Versuch des Proletariats, den Krieg zu verhindern, wird zu einer Episode in dem Prozeß der Revolution, zu einem wesentlichen Teil der proletarischen Kampfes zur Eroberung der Herrschaft.


Compiled by Vico, 15 February 2021