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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?


Massenaktion und Revolution [1-2] / Ant[on]. Pannekoek


Quelle:  Massenaktion und Revolution [1-2] / Ant[on]. Pannekoek. – In: Die Neue Zeit, 30. Jg. (1911-1912), 2. Bd., Nr. 41, 12. Juli 1912, S. 541-550


Die politische und gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre hat die Frage der Massenaktionen immer mehr in den Vordergrund geschoben. Aus den Lehren der russischen Revolution heraus wurden sie 1905 als Methode des Klassenkampfes von der Partei theoretisch anerkannt; in dem preußischen Wahlrechtskampf traten sie 1908 und 1910 auf einmal praktisch in großartiger Weise hervor; und seitdem bildeten sie, nur zeitweilig von den Bedürfnissen des Wahlkampfes zurückgedrängt, den Gegenstand eingehender Erorterungen und Diskussionen. Diese Entwicklung ist kein Zufall. Einerseits ist sie eine Wirkung der steigenden Macht des Proletariats, andererseits ist die eine notwendige Wirkung der neuen Erscheinungsform des Kapitalismus, die wir mit dem Namen Imperialismus bezeichnen.

Die Ursachen und die treibenden Kräfte des Imperialismus brauchen uns hier nicht zu beschäftigen; wir stellen bloß seine Erscheinungen und Wikungen zusammen: die Weltmachtpolitik, die Rüstungen, namentlich der Flottenbau, die Kolonialeroberungen, der wachsende Steuerdruck, die Kriegsgefahr, der zunehmende Geist der Gewalttätigkeit und des Herrentums bei der Bourgeoisie, die Reaktion im Innern, das Aufhören der Sozialreform, der Zusammenschluß des Unternehmertums, die Erschwerung des Gewerkschaftskampfes, die Teuerung. Das alles bringt die Arbeiterklasse in eine neue Kampfstellung. Früher konnte sie sich mitunter der Hoffnung hingeben, langsam aber stetig vorwärtszudringen, gewerkschaftlich durch Verbesserung der Arbeitsbedingungen, politisch durch Sozialreformen und Vermehrung ihrer politischen Rechte. Jetzt hat sie alle Kräfte anzustrengen, nicht in Lebenshaltung und Rechen von der erreichten Höhe zurückgeworfen zu werden. Ihr Angriff ist vor allem Verteitigung geworden. Damit wird der Klassenkampf schärfer und allgemeiner; statt der Verlockung einer besseren Lage wird immer mehr die bittere Notwendigkeit der Abwehr von Verschlechterungen zur treibenden Krafat des Kampfes. Mit neuen Gefahren und Katastrofen bedroht der Imperialismus die Volksmassen – die kleinbürgerlichen Klassen so gut wie die Arbeiter – und peitscht sie zum Wiederstand auf; die Steuern, die Teuerung, die Kriegsgefahr machen eine erbitterte Abwehr notwendig. Aber sie finden nur zum teil ihren Ursprung in Parlamentsbeschlüssen und können daher nur zum Teil im Parlament bekämpft werden. Die Massen selbst müssen auf den Plan treten, sich direkt geltend machen und einen Druck auf die herrschende Klasse ausüben. Zu diesem Müssen gesellt sich dan können durch die steigende Macht des Proletariats; zwischen der Ohnmacht des Parlamentes sowie underer Parlamantsfraktionen, diese Erscheinungen zu bekämpfen, und dem steigenden Machtsbewußtsein der Arbeiterklasse entsteht immer mehr ein Widerspruch. Daher sind die Massenaktionen eine naturliche Folge der imperialistischen Entwicklung des modernen kapitalismus und bilden immer mehr die notwendige Form des Kampfes gegen ihn.

Der Imperialismus und die Massenaktionen sind Neuerscheinungen, die erst allmählich in ihrem Wesen und ihrer Bedeutung erfaßt und geistig bewältigt werden können. Das ist nur auf dem Wege der Parteipolemik möglich, und mit ihnen beschäftigen sich auch die meisten Parteipolemiken der letzten Jahre. Sie bringen einen Umschwung in Denken und fühlen, eine neue Orientierung der Geister, die über den vor allem der parlamentarischen Kampftaktik entspringenden Gegensatz zwischen Radikalismus und Revisionismus hinausgeht. Sie trennen, zeitweilig oder dauernd, diejenigen, die bisher in engster Kampfgemeinschaft zusammenstanden und sich keines Gegensatz bewußt waren, erscheinen daher im ersten Auflodern als bedauenswerte peinliche Mißverständnisse, wodurch die Auseinandersetzungen eine besondere Schärfe bekommen. Um so mehr ist es zur Klärung der Differenzen nötig, auf die Grundlagen der Kampftaktik des Proletariats einzugehen. Wir werden dann weiter in polemischer Hinsicht vor allem an zwei Artikel Kautskys im vorige Jahre anknüpfen.

I. Die Macht der Bourgeoisie und des Proletariats

Die Staatsgewalt ist das Organ der Gesellschaft, das über Recht und Gesetz gebietet. Die politische Herrschaft, die Verfügung über die Staatsgewalt, muß daher das Ziel jeder revolutionären Klasse sein. Die Eroberung der politischen Gewalt is die Vorbedingung des Sozialismus. Jetzt verfügt die Bourgeoisie über die Staatsgewalt und benutzt sie, Recht und Gesetz in ihrem kapitalistischen Interesse zu gestalten und zu erhalten. Sie wird aber immer mehr zu einer Minderheit, die noch dazu im steigenden Maße ihre ökonomische Bedeutung, ihre Wichtigkeit für den Produktionsprozeß einbüst. Die Arbeiterklasse bildet eine immerfort steigende Mehrheit der Bevölkerung, in deren Händen die wichtigste ökonomische Funktion liegt; darin liegt die Sicherheit, dß sie fähig sein wird, die politische Herrschaft zu erobern.

Die Bedingungen und Methoden dieser politischen Revolution gilt es näher zu betrachten. Weshalb hat die Arbeiterklasse, trotzdem sie durch Kopfzahl und ökonomische Wichtigkeit die Bourgeoisie an Macht überragt, noch immer nicht die Herrschaft erobern können? Wodurch hat fast immer während der Geschichte der Zivilisation eine kleine ausbeutende Minderheit über die große ausgebeutete Volksmassa herschen können? Weil hier noch viele andere Machtfaktoren in Frage kommen.

Der erste dieser Machtfaktoren ist die geistige Überlegenheit der herrschenden Minorität. Als Klasse, die vom Mehrwert lebt und die Leitung der Produktion in den Händen hat, verfügt sie über alle geistige Bildung, über alle Wissenschaft; durch ihren Weitblick, der das Ganze der Gesellschaft umfaßt, weiß sie, auch wenn sie von rebellischen Massen am schlimmsten bedroht wird, immer neue Hilfsquellen zu erschließen und bald durch Selbstbewußtsein und Ausdauer, bald durch verräterische Lücke die einfältigen Massen zu übertölpeln. Die Geschichte jedes Sklavenaufstandes im Altertum, jedes Bauernkrieges im Mittelalter bietet Beispiele davon. Geistige Macht ist die gewaltige Macht in der Menschenwelt. In der bürgerlichen Gesellschaft, wo eine gewisse geistige Bildung zum Gemeingut aller Klassen wird, tritt an die Stelle des Bildungsmonopols der Herrschenden Klasse ihre geistige Beherrschung der Volksmasse. Durch die Schule, die Kirche, die bürgerliche Presse verseucht sie noch immer große Massen des Proletariats mit bürgerlichen Auffassungen. Diese geistige Abhängigkeit von der Bourgeoisie ist eine Hauptursache der Schwäche des Proletariats.

Der zweite und wichtigste Machtsfaktor der herrschenden Klasse liegt daneben in ihrer straffen, festen Organisation. Eine gut organisierte kleine Zahl ist immer stärker als eine große unorganisierte Masse. Diese Organisation der herrschenden Klasse ist die Staatsgewalt. Sie tritt als die Gesamtheit der Beamten auf, die, überall als Behörden zwischen der Volksmassen zerstreut, von dem Zentralsitz der Regierung aus in einer bestimmten Weise geleitet wird. Die Einheitlichkeit des Willens, der von der Spitze ausgeht, bildet die innere Kraft und das Wesen dieser Organisation. Dadurch hat sie eine gewaltige moralische Überlegenheit, die sich in der Selbstsicherheit ihres Auftretens äußert, gegenüber den zusammenhanglosen Massen, von denen jeder etwas anderes will. Sie bildet gleichsam einen riesigen Polypen, der mit seinen vom Zentralgehirn aus bewegten feinsten Tantakeln in jeden Winkel des Landes eindringt, einen einheitlichen Organismus, dem gegenüber die anderen Menschen, mögen sie noch so zahlreich sein, nur machtlose Atome sind. Jeder einzelne, der sich nicht gehorsam fügt, wird von dem kunstvollen Mechanismus gleichsam automatisch ergriffen und zerdrückt; und dieses Bewußtsein hält die Massen in Respekt.

Kommt aber der Geist der Rebellion über die Massen und schwindet die Ehrfurcht vor den hohen Behörden, tun die Atome sich zusammen in der Meinung, daß sie mit den paar Beamten leicht fertig werden, dann hat der Staat noch starkere materiell Gewaltmittel – Polizei und Armee. Sie bilden auch nur kleine Trupps, Minderheiten, aber mit Mordwaffen versehen und durch eine strenge militärische Disziplin zu festen, unanfreifbaren Körpern zusammengeschmiedet, die wie automatische Maschinen in der Hand der Befehlhaber wirken. Gegen ihre Kraft ist die Volksmasse, sogar wenn sie sich zu bewaffnen sucht, wehrlos.

Eine aufsteigende Klasse kann die Staatsgewalt erobern und behalten wegen ihre ökonomischen Wichtigkeit und Macht; so die Bourgeoisie als Leiter der kapitalistischen Produktion und Besitzer des Geldes. Je mehr aber ihre wirtschaftliche Funktion überflüssig wird und sie zur Schmarotzerklasse herabsinkt, um so mehr verschwindet dieser Faktor ihrer Macht. Dann geht auch ihr Ansehen und ihre geistige Überlegenheit verloren, und schließlich bleibt ihr als einzige Grundlage ihrer Herrschaft ihre Verfügung über die Staatsgewalt mit all ihren Machtmitteln. Will das Proletariat die Herrschaft erobern, so muß es die Staatsgewalt, die Festung besiegen, in der sich die besitzende Klasse verschanzt hat. Der Kampf des Proletariats ist nicht einfach ein Kampf gegen die Bourgeoisie um die Staatsgewalt als Objekt, sondern ein Kampf gegen die Staatsgewalt. Das Problem der sozialen Revolution lautet in kurzer Zusammenfassung: die Macht des Proletariats so hoch steigern, daß sie der Macht des Staates überlegen ist; und der Inhalt dieser Revolution ist die Vernichtung und Auflösung der Machtmittel des Staates durch die Machtmittel des Proletariats.

Die Macht des Proletariats besteht erstens aus einem von unserem Wirken unabhängigen Faktor, der oben schon erwähnt wurde: seine Kopfzahl und seiner wirtschaftlichen Bedeutung, die beide durch die ökonomische Entwicklung immerfort steigen und die Arbeiterklasse stets mehr zur maßgebenden Gesellschaftsklasse machen. Daneben stehen als die beiden großen Machtfaktoren, deren Steigerung das Ziel der ganzen Arbeiterbewegung ist: Wissen und Organisation. Das Wissen ist in seiner ersten, einfachsten Form Klassenbewußtsein, das sich allmählich steigert zur klaren Einsicht in das Wesen des politischen Kampfes und des Klassenkampfes überhaupt sowie in die Natur der kapitalistischen Entwicklung. Durch sein Klassenbewußtsein wird der Arbeiter aus der geistigen Abhängigkeit von der Bourgeoisie befreit, durch sein politisches und gesellschaftliches Wissen wird die geistige Überlegenheit der herrschenden Klasse gebrochen und bleibt ihr nur die brutale materielle Macht. Die Geschichte jedes Tages zeigt uns, in welchem Maße die Vorhut des Proletariats in dieser Hinsicht die herrschende Klasse schon überragt.

Die Organisation ist die Zusammenfügung der zuvor zersplitterten Individuen zu einer Einheit. Während zuvor der Wille jedes einzelnen unabhängig von alles anderen gerichtet ist, bedeutet die Organisation die Einheit, die gleiche Richtung aller Einzelwillen. Solange die Kräfte der einzelnen Atome nach allen Seiten gerichtet sind, heben sie sich genenseitig auf und ist ihr Gesammteffekt Null; werden sie alle gleich gerichtet, so steht die Gesammtmasse hinter dieser Kraft, hinter diesem gemeinsamen Willen. Das Bindemittel, das die Individuen zusammenhalt und sie zwingt, gemeinsam zu gehen, ist die Disziplin, die bewirkt, daß jeder sein Handeln nicht durch die eigene Einsicht, die eigene Neigung, das eigene Interesse, sondern durch Willen und Interesse der Gesammtheit bestimmen läßt. Die Gewohnheit, im organisierten Großbetrieb die eigene Tätigkeit einem Ganzen unterzuordnen, schafft in dem modernen Proletariat die Vorbedingungen zu solchen Organisation. Die Praxis des Klassenkampfes baut sie auf, macht ihren Umfang immer größer, ihren inneren Zusammenhalt, die Disziplin, immer fester. Die Organisation ist die mächtigste Waffe des Proletariats. Die gewaltige Macht, die die herrschende Minderheit durch ihre feste Organisation besitzt, kann nur durch die noch gewaltigere Macht der Organisation der Mehrheit besiegt werden.

Durch das stetige Wachstum dieser Faktoren: wirtschaftliche Bedeutung, Wissen und Organisation steigt die Macht des Proletariats über die Macht der herrschenden Klasse hinaus. (*) damit erst ist die Vorbedingung zur sozialen Revolution gegeben. Hier wird es nun klar, in welchem Sinne die Alte Idee einer raschen Eroberung der politischen Gewalt durch eine Minderheit eine Illusion war. Sie war nicht von vornherein ausgeschlossen und hätte dann die Entwicklung auch durch einen gewaltigen Ruck vowärtsbringen können; aber das Wesen der Revolution ist doch etwas ganz anderes. Die Revolution ist der Abschluß eines tief einschneidenden Umwandlungsprozesses, der den Charakter und das Wesen der ausgebeuteten Volksmasse völlig umwälzt. Aus einem zuvor zersplitterten Haufen von Individuen, unwissend, beschränkt, von denen jeder nur die eigenen Verhältnisse sieht, dem eigenen Interesse gehorcht, wird eine festgefügte Armee von weitblickendes Kämpfern, die sich vom Gesammtinteresse leiten lassen. Zuvor machtlos, gefügig, eine tote inerte Masse gegenüber der zielbewußten organisierte Herrschermacht, die sie zu ihren Zwecken in Bewegung setzt, wird sie zu einer organisierten Menschheit, fähig, mit bewußtem Willen das eigene Los zu bestimmen und der alten Herrschern trotzig entgegenzutreten. Aus einer passiven wird sie zu einer Aktiven Massen, zu einem Organismus mit eigenem Leben, mit eigener selbstgeschaffenen Zusammenfassung und Gliederung, mit eigenem Bewußtsein und eigenen Organen. Die Vernichtung der Kapitalherrschaft hat zur Grundbedingung, daß die proletarische Volksmasse fest organisiert und vom Geiste des Sozialismus erfühlt ist; ist diese Bedingung im genügenden Maße erfüllt, so ist die Kapitalherrschaft unmöglich geworden. Dieses Emporsteigen der Massen, ihre Organisation und Bewußtwerdung, bildet daher schon das Wesentliche, der Kern des Sozialismus. Die Herrschaft des Kapitalistischen Staates, der zuvor mit seiner Zwangsgewalt die freie Entwicklung der neuen lebendigen Organismus zu hemmen sucht, wird immer mehr zu einer toten Hülle, wie eine Eierschale um den junge Vogel – sie wird gesprengt. Mag diese Sprengung, die Eroverung der Herrschaft, auch ein noch so gewaltiges Stuck Arbeit und Kampf sein: das Wesentliche, worauf es ankommt, ihre Vorbedingung und Grundlage bildet das Wachstum des proletarischen Organismus, die Ausbildung der zum Siege nötigen Macht der Arbeiterklasse.

2. Die Eroberung der politischen Herrschaft

Die Illusion der parlamentarischen Eroberung der Herrschaft beruht auf dem Grundgedanken, daß vom Volke gewählte Parlament das wichtigste Organ der Gesetzgebung ist. Wenn Parlamentarismus und Demokratie herrschen, wenn das Parlament über die ganze Staatsgewalt und die Volksmehrheit über das Parlament gebieten, würde der politisch-parlamentarische Kampf, das heißt die allmähiche Gewinnung der Volksmehrheit durch Parlamentspraxis, Aufklärung und Wahlkampf, den geraden Weg zur eroberung der Staatsgewalt bilden. Aber diese Vorbedingungen fehlen; sie sind nirgens vorhanden und am wenigsten in Deutschland. Sie müssen erst durch Verfassungskämpfe, durch die Eroberung des demokratischen Wahlrechtes vor allem, hergestellt werden. Nach der formellen Seite hin besteht die Eroberung der politischen Herrschaft aus zwei Teilen: erstens der Herstellung der dazu nötigen verfassungsmäßigen Grundlagen, der Gewinnung politischer Rechte für die Masse, und zweitens der richtigen Ausnutzung dieser Rechte, der Gewinnung der Volksmehrheit für den Sozialismus. Wo die Demokratie schon herrst, is der Zweite Teil der wichtigste; wo aber umgekehrt große Massen schon gewonnen sind, aber die Rechte fehlen, wie hier in Deutschland, liegt der Schwerpunkt des Kampfes um die Herrschaft nicht in dem Kampfe mittels der vorhandenen Rechte, sondern in dem Kampfe um politische Rechte.

Diese Verhältnisse sind natürlich nicht zufällig da, das Feheln der verfassungsmäßigen Grundlagen einer Volksherrschaft in einem Lande mit hochentwickelter Arbeitrbewegung ist die notwendige Form der Kapitalherrschaft. Es drückt aus, daß die tatsächliche Macht in den Händen der besitzenden Klasse liegt. Solange diese Macht ungebrochen dasteht, kan die Bougeoisie uns nicht selbst die formellen Mittel bieten, sie friedlich hinauszumanöverieren. Sie muß geschlagen, ihre Macht muß gebrochen werden. Die Verfassung drückt das Verhältnis der Macht der Klassen aus; aber diese Macht muß sich im Kampfe bewähren. Eine Änderung in der Abgrenzung der verfassungsmäßigen Rechte der Klassen ist nur dadurch möglich, daß die Machtmittel der kämpfenden Klassen sich entgegentreten und sich aneinander messen. Was nach der formellen Seite ein Kampf um die wichtigen politischen Rechte ist, is in seinem tiefsten Wesen, in Wirklichkeit ein Aufeinanderprallen, der ganzen Macht der beiden Klassen, ein Kampf ihrer stärksten Machtsmmittel, die einander zu schwächen und schließlisch zu vernichten suchen. Mag der Kampf abwechselnd Siege und Niederlagen, Zugeständnisse oder Reaktionsperioden bringen, er kann nur ein Ende finden, wenn der eine der kämpfenden Gegner besiegt am Boden liegt, wenn seine Machtmittel vernichtet sind und die politische Herrschaft dem Sieger in die Hände fällt.

In dem bisherigen Kampfe hat noch keine der beiden Klassen ihre stärksten Machtmittel ins Feld führen können. Die herrschende Klasse hat zu ihrem großen Verdruß ihre stärkste Waffe, ihre Militärmacht, in dem parlamentarischen Kampfe nie anwenden können, und tatenlos mußte sie zusehen, ohne es verhindern zu können, wie das Proletariat seine Macht stetig steigerte. Darin liegt die historische Bedeutung der parlamentatischen Kampfmethode während der Zeit, als das Proletariat, noch schwach, im ersten Aufstieg begriffen war. Aber auch das Proletariat hat dabei seine stärksten Machtmittel noch nicht in Anwendung gebracht; nur seine Kopfzahl und seine politische Einsicht kamen dabei zur Geltung; aber weder seine Wichtigkeit im Produktionsprozeß noch keine gewaltige Organisationsmacht – die nur im Gewerkschaftskampf, nicht im politischen Kampfe gegen den Staat gebraucht wurd – traten dabei in Wirksamkeit. Die bisherigen Kämpfe sind im Grunde nur Vorpostengefechte gewesen, während die Hauptmacht beiderseits in Reserve blieb. In den kommenden Kämpfen um die Herrschaft werden beide Klassen ihre schärfsten Waffen, ihre stärksten Machtmittel anwenden müssen: ohne daß diese sich aneinander messen, ist keine entscheidende Verschiebung der Machtsverhältnisse möglich. Die herrschende Klasse wird versuchen, mit blutiger Gewalt die Arbeiterbewegung niederzuschlagen. Das Proletariat wird zu Anwendung von Massenaktionen greifen, von der einfachsten Form der Versammlungen zu Straßendemonstrationen und zu der mächtigsten Form der Massenstreiks fortschreitend.

Diese Massenaktionen setzen schon eine starke Machtsausbildung des Proletariats voraus; sie sind erst auf einer hohen Stufe der Entwicklung möglich, den sie stellen Ansprüche an die geistigen und moralische Qualitäten, an Wissen und Disziplin der Arbeiter, die erst die Frucht langer politischer und gewerkschaftlicher Kämpfe sein können. Sollen Massenaktionen mit Erfolg durchgeführt werden können, so müssen die Arbeiter über so viel politische und gesellschaftliche Einsicht verfügen, daß sie selbst die Vorbedingungen, die Wirkungen, die Gefahren solcher Kämpfe, ihres Anfanges und Abbruchs erkennen und beurteilen können. Wenn die besitzende Klasse ihre Herrschaftsmittel rücksichtlos ausnutzt, durch Lahmlegung der Presse, Verbot von Versammlungen, Verhaftung der Kampfleitung eine regelmäßige Verständigung der Arbeiter unmöglich macht, sie durch Belagerungszustand einzuschüchtern, durch falsche Nachrichten zu entmutigen sucht – dann hängt es ab von der klaren Einsicht und festen Disziplin des Proletariats, von seinem Selbstvertrauen, seine Solidarität und seine Begeisterung für die große gemeinsame Sache, ob und in welchem Maße sie damit Erfolg haben kann. Die mit autoritärer Gewalt auftretende Macht des Bourgeoisstaats und die Macht der revolutionären Tugenden der rebellischen Arbeitermassen messen sich da aneinander, wer sich als die stärkere erweist.

Wir müssen darauf gefaßt sein, daß der Staat vor solchen äußersten Maßnahmen nicht zurückschreckt. Ob in Afgriff oder Verteitigung, immer will das Proletariat, wenn est zu diesen Waffen greift, auf die Staatsgewalt einwirken, sie direkt beeinflussen, einen moralischen Druck auf sie ausüben, ihr seinen Willen aufzwingen. Die Möglichkeit dazu beruht auf der Tatsache, daß die Staatsgewalt in hohem Maße von dem ungestörten Fortgang des Wirtschaftslebens abhängig ist. Wird der regelmäßige Fortgang des Produktionsprozesses durch Massenstreiks gestört, so werden an den Staat auf einmal ungewöhnlich schwierige Anspruche gestellt. Er soll „die Ordnung“ wieder herstellen, aber wie? Er kann vielleicht verhindern, daß die Massen demonstrieren, aber er kann nicht zwingen, wieder an die Arbeit zu gehen; er kann höchstens probieren, sie zu demoralisieren. Werden vor diesen neuen Aufgaben, gegenüber der Furcht und der Aufregung der besitzenden Klasse, die die Regierung zum Einschreiten oder zum Nachgeben auffordern, die Behörden kopflos, fehlt ihnen der feste einheitliche Wille, so ist die innere Kraft des Staates, seine Selbstsicherheit, seine Autorität, die Quelle seiner Macht angetastet. Noch schlimmer steht es, wenn Verkehrssteiks hinzukommen, die die Verbindung der lokalen Behörden mit der Zentralgewalt stören und damit die ganze Organisation in ihre einzelnen Glieder auflösen, den riesigen Polypen in sich machtlos krummende Glieder zerstückeln – wie es in den Oktoberstreiks in der russischen Revolution einen Augenblick der Fall war.

Bald wird die Regierung es mit Gewalt versuchen, und dann liegt es an der proletarischen Entschlossenheit, ob es hilft; bald wird sie mit Nachgiebigkeit und Zusagen die Massen zu beschwichtigen suchen – dann hat der Kampf der Massen ganz oder teilweise zum Siege geführt. Naturlich ist damit die Geschichte nicht aus. Ist ein wichtiges Recht errungen, so kann eine Ruhezeit eintreten, worin es bis zur Grenze seiner Leistungsfähigkeit ausgenutzt wird. Aber dann muß immer wieder der Kampf aufs neue entflammen; die Regierung kann nicht ruhig politische Rechte gewähren, die den Massen eine entscheidende Machtstellung geben, oder sie wird versuchen sie nachher wieder zu nehmen, andererseits können die Massen nicht aufhören, bis sie die Schlüssel zur Staatsmacht in Händen haben. Immer aufs neue geht der Kampf also wieder los, stellt sich Organisationsmacht gegen Organisationsmacht, immer wieder muß die Staatsgewalt sich der auflösenden, zerrüttenden Wirkung der Massenaktionen aussetzen. Der Kampf hört erst auf, wenn als Endresultat die völlige Zerstörung der staatlichen Organisation eingetreten ist. Die Organisation der Mehrheit hat dann ihre Überlegenheit dadurch erwiesen, daß sie die Organisation der herrschenden Minderheit vernichtet hat.

Dieses Ziel kann aber nur dadurch erreicht werden, daß die Massenkämpfe zugleich das Proletariat selbst aufs tiefste beeinflussen und umwandeln. Ähnlich wie die bisherigen politischen und gewerkschaftlichen kämpfe steigern sie die Macht des Proletariats, nur in viel umfassendere, gewaltiger und gründlicherer Weise. Wenn Massenaktionen auftreten, die das ganze gesellschaftliche Leben aufs tiefste erschüttern, so werden alle Geister aufgerüttelt; mit Spannung und Aufmerksamkeit verfolgen auch diejenigen der raschen Lauf der Ereignisse, die sich sonst, alle fünf Jahre einmal, auf das Abgeben eines Wahlzettels beschränken. Und bei den Beteiligten selbst, genötigt, mit schärfsten Intensität ihren ganzen Sinn auf die politische Situation zu richten, die ihr Handeln bestimmt, wird die klare gesellschaftliche Einsicht, der politische Weitblick in solchen Zeiten politischer Krise in einigen Tagen mehr geschärft als sonst in Jahren. Die hohen Anforderungen, die diese Kämpfe stellen, erzeugen selbst, durch die Praxis des Kampfes, durch die Erfahrungen von Sieg und Niederlage, die Mittel, ihnen zu genügen. Mit der Entwicklung der Kämpfe steigt die Reife des Proletariat, die es zu weiteren, schwierigeren Kämpfen befähigt.

Das gilt nicht nur für die politische Einsicht, sondern auch für die Organisation. Allerdings wird oft das Gegenteil behauptet. Vielfach herrscht die Furcht, in dieses gefährliche Kämpfen könne die Organisation des Proletariats, sein wichtigstes Machtmittel, vernichtet werden; und auf diesem Gedanken beruht vor allem die Abneigung gegen die Anwendung des Massenstreiks bei denjenigen, deren ganzes Wirken sich auf die Leitung der heutigen großen proletarischen Organisation bezieht. Sie fürchten, daß beim Zusammenstoß zwischen den proletarischen Organisationen und der staatlichen Organisation erstere als die schwächere notwendig den kürzeren ziehen müssen. Denn der Staat besitzt noch die Macht, die Arbeiterorganisationen, die sich erfrechen, gegen ihn den Kampf zu beginnen, einfach aufzulösen, ihre Tätigkeit zu vernichten, die Kassen zu beschlagnahmen, die Führer einzusperren; und er wird sich sicher nicht durch rechtliche oder moralische Bedenken davon abhalten lassen. Aber solche Gewalttatte werden ihm doch nichts helfen; er kann damit nur die äußere Form zertrümmern, aber nicht das innere Wesen treffen. Die Organisation des Proletariats, die wir als sein wichtigstes Machtmittel bezeichnen, ist nicht zu verwechseln mit der Form der heutigen Organisationen und Verbände, worin sie sich unter den Formen der heutigen Organisationen und Verbände, worin sie sich unter den Verhältnissen einer noch festen bürgerlichen Ordnung äußert. Das Wesen dieser Organisation ist etwas Geistiges, ist die völlige Umwälzung des Charakters der Proletarier. Mag die herrschende Klasse durch die skrupellose Anwendung ihrer gesetzgeberischen und Polizeigewalt die Organisationen scheinbar vernichten: damit werden die Arbeiter nicht auf einmal wieder die alten individualistischen Menschen, die nur durch die eigene Laune, das eigene Interesse bewegt werden. In ihnen bleibt derselbe Geist, dieselbe Disziplin, derselbe Zusammenhalt, dieselbe Solidarität, dieselbe Gewohnheit des organisierten Handelns lebendig wie zuvor, und dieser Geist wird sich neue Formen der Betätigung schaffen. Mag ein solcher Gewaltakt auch schwer treffen, die wesentliche Macht des Proletariats wird dadurch nicht berührt, sowenig wie der Sozialismus durch das Sozialistengesetz getroffen werden konnte, das die regelmäßige Vereins- und Agitationsform verhinderte.

Umgekehrt wird die Organisation durch die Massenkämpfe in hohem Maße gestärkt werden. Hunderttausende von Arbeitern, die uns jetzt noch aus Gleichgultigkeit, aus Furcht oder Mangel an Glauben an unsere Sache fern bleiben, werden dann aufgerüttelt und beteilichen sich an dem Kampfe. Während in dem träge fließenden Laufe der Geschichte der bisherigen Alltagskämpfe ideologische Differenzen eine große Rolle spielen und die Arbeiter spalten, bricht sich in revolutionären Zeiten, wo der Kampf schärfere Formen annimmt und rasche Entscheidungen bringt, das urwüchsige Klassenempfinden unwiderstehlig Bahn – wenn nicht auf den ersten Schlag, dan um so sicherer nachher. Und zugleich wird die innere Festigkeit der Organisation gehoben werden; durch die Anforderungen derartiger Schwerer Kämpfe auf die härteste Probe gestellt, wird die Disziplin auch fest wie Stahl werden, weil sie es werden muß. Durch diese Kämpfe selbst wird die jetzt noch ungenügende Macht des Proletariats so hoch gesteigert werden, als zur herrschaft über die Gesellschaft nötig ist.

Wird aber nicht die herrschende Klasse durch Anwendung ihres schärfsten Kampfmittels, der blutigen Gewalt, imstande sein, der Arbeitern in solchen Massenkämpfen eine sichere Niederlage zu bereiten? Die Wahlrechtsdemonstrationen im Frühjahr 1910 haben gezeigt, daß sie vor der Anwendung solcher Gewalt nicht zurückschreckt. Aber dabei hat sich zugleich gezeigt, daß der Schutsmannfäbel gegen eine eine entschlossene Volksmasse machtlos ist. Er mag einzelne Personen schwer treffen, aber das Ziel solcher Gewalt, die Masse so weit einzuschüchtern, daß die von ihrem Vorhaben, der Demonstration, Abstand nahm, konnte er gegen die Entschlossenheit, die Begeisterung und die Disziplin der hunderttausendköpfigen Masse nicht erreichen.

Allerdings sieht es anders aus, wenn das Militär gegen die Volksmassen aufgeboten wird; gegen die Salven seiner schwerbewaffneten Linien kann eine Volksmasse ihre Demonstrationen nicht durchführen. Damit ist aber die herrschenden Klasse nicht geholfen. Denn die Armee besteht aus den Söhnen des Volkes und in steigendem Maße aus jungen Proletariern, die schon von Faterhaus etwas Klassenbewußtsein mitbekommen haben. Das bedeutet nicht, daß die sofort als Masse in den Händen der Bourgeoisie versagt; die eiserne Disziplin wird gleichsam mechanisch alle anderen Erwägungen zurückdrängen. Was aber für die alten Söldnerheere schon einigermaßen galt, daß sie sich auf die Dauer nicht gegen das Volk verwenden ließen, gilt für die modernen Volksheere in noch viel höherem Maße. Gegen eine solche Verwendung hält auch eine eiserne Disziplin schließlich nicht stand. Nichts zerrüttet die Disziplin so sicher wie die wiederholte, ein paarmal von der Tat gefolgte Zumutung, als das Volk, auf die eigenen Klassengenossen zu schießen, wenn sie bloß friedlich sich versammeln oder herumziehen wollen. Gerade um für den Fall einer Revolution die Disziplin der Armee unangetastet zu halten, hat die Junkerregierung in Deutschland bisher möglichst vermieden, das Militär bei Streiks zu verwenden. Das ist klug erdacht, bringt ihr aber doch keine Rettung. Die Reaktionäre, die immer zu einer „militärischen Lösung“ der Arbeiterfrage hetzen, ahnen nicht, daß sie damit nur ihren eigenen Untergang beschleunigen. Ist die Regierung genötigt, das Militär gegen die Massenaktionen des Proletariats zu verwenden, so verliert diese Masse immer mehr ihre innere Kraft. Sie ist wie ein glänzendes Schwert, das Respekt gebietet und schwere Wunden schlagen kann, aber, sobald es gebraucht wird, anfängt, untauglich zu werden. Und geht ihr diese Masse verloren, dann ist der herschenden Klasse das letzte, stärkste Machtmittel aus der Hand gefallen, und sie steht wehrlos da.

Die soziale Revolution ist der Prozeß der allmählichen Stufenweisen Auflösung aller Machtmittel der herrschenden Klasse und namentlich des Staates, der Prozeß des stetigen Aufbaus der Macht des Proletariats bis zur höchsten Vollendung. Zu Anfang dieser Periode muß das Proletariat schon ein ziemlich hohes Maß von klassenbewußter Einsicht, geistiger Macht und fester Organisation erreicht haben, um zu den folgenden schwereren Kämpfen fähig zu sein; aber doch ist das alles noch unvollkommen. Das Ansehen des Staates und der herrschenden Klasse ist dann bei den Massen, die sie als Feinde erkennen, schon in die Brüche gegangen, aber ihre materielle Macht steht noch ungebrochen da. Am Schlusse des Revolutionsprozesses ist von dieser Macht nicht mehr übrig; das ganze arbeitende Volk steht als hochorganisierte, das eigene Los mit klarem Bewußtsein bestimmende, zum herrschen fähige Masse da und kann daran gehen, die Organisation der Produktion in die Hand zu nehmen.

[Fortsetzung folgt]


Anmerkungen

*) Wie diese Faktoren durch die parlamentarischen und gewerkschaftlichen Kämpfe stetig wachsen, lassen wir hier beiseite und verweisen dazu auf unsere Schrift: „Die taktische Differenzen in der Arbeiterbewegung“, wo gerade dies ausführlich behandelt worden ist.


Compiled by Vico, 17 January 2021, finished 4 February 2021