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Antonie Pannekoek Archives

Leo Trotzky, unknown year; known for insults, slander, diffamation, distortion, and a lot of other sins; he got a bit to his senses when the Second World War broke out and he finally concluded that the Soviet Union couldn’t be defended any longer, nor parliamentarism or unionism, twenty years late.


Über die Politik der K.A.P.D. / Leo Trotzki, 1921


Über die Politik der k.a.p.d. / Leo Trotzki. – In: Die Kommunistische Internationale, 17 (1921), S. 184-202

Quelle der Transkription: Sozialistische Klassiker 2.0 .


Rede auf der Sitzung des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale am 24. November 1920

Eine Programmrede, wie Genosse Sinowjew meinte, kann ich aus dem Stegreif nicht halten. Ich werde mich auf kritische Bemerkungen zu der Programmrede beschränken müssen, die Genosse Gorter hier zur Belehrung der Kommunistischen Internationale gehalten hat. Ich muss einige Bemerkungen vorausschicken.

Genosse Gorter hat hier nicht einfach seinen besonderen Standpunkt formuliert, er hat uns, den Stiefsöhnen Osteuropas, im Namen Westeuropas die Leviten gelesen und uns aufgeklärt. Ich habe das Mandat des Genossen Gorter leider nicht gesehen und weiß nicht bestimmt, ob er tatsächlich von Westeuropa abgesandt worden ist, uns einen belehrenden Vortrag zu halten. Aber so weit ich zu urteilen vermag, ist die Rede des Genossen Gorter nichts anderes als eine Wiederholung jener Kritik, jener Anschuldigungen und Formulierungen, die er schon oft den programmatischen und taktischen Grundlagen der Kommunistischen Internationale entgegengesetzt hat. Letztere werden von uns – den östlichen Sozialisten – bekanntlich aber nicht allein, sondern zusammen mit unseren zahlreichen und sich immer weiter mehrenden europäischen Freunden und Gesinnungsgenossen formuliert. Andererseits vergessen wir nicht, daß Genosse Gorter im Namen einer sehr kleinen und wenig einflußreichen Gruppe der westeuropäischen Arbeiterbewegung spricht. Dies muss vor allem festgestellt erden, um Mißverständnissen vorzubeugen.

Wenn ich ebenso wie Gorter verfahren und revolutionär-politische Ansichten nach kulturell-nationalen Grenzpfählen abschätzen wollte, so würde ich vor allem behaupten, daß Gorter nicht eben besonders westeuropäisch, sondern eher … holländisch urteilt. Gorter spricht nicht im Namen von Westeuropa, sondern in erster Linie im Namen eines Teils der kleinen holländischen Partei, die Verdienste besitzt, aber bisher nicht die Möglichkeit gehabt hat, an der Spitze breiter Massen als führende revolutionäre Kraft zu wirken. Sie ist eher eine Propagandagruppe als eine Kampfpartei. Es gibt in dieser Gruppe Mitarbeiter, die wir sehr hoch schätzen, aber diese Mitarbeiter haben nur geringen Teil an der Sünde, die Genosse Gorter dem Genossen Sinowjew mit so viel Hochmut vorwarf (mit Bezug auf sein Auftreten in Halle): der „Jagd nach den Massen“. Eine Partei, die im Laufe von einigen Jahrzehnten 2000 Anhänger gewonnen hat, kann wirklich nicht der Jagd nach den Massen beschuldigt werden – zum mindesten nicht der erfolgreichen Jagd. Übrigens ergibt sich aus den Worten des Genossen Gorter selbst, daß unter diesen 2000 holländischen Kommunisten, die Genosse Gorter erzogen hat und mit denen zusammen er erzogen worden ist, keine Einmütigkeit in der Abschätzung der wichtigsten Ereignisse herrscht: Während des Krieges beschuldigte ein Teil den anderen, daß er die Entente unterstütze.

Holland ist ein schönes Land, aber vorläufig ist es noch kein Schauplatz jener mächtigen kommunistischen Schlachten, für und auf Grund derer sich der Gedanke der Kommunistischen Internationale bildet.

Gorter beschuldigte uns, daß wir zu russisch seien. Gewiß, niemand kann aus seiner eigenen Haut heraus. Aber wir glauben doch, daß Genosse Gorter die Frage viel zu geographisch anfaßt und sich politisch viel zu sehr den Opportunisten und gelben Sozialisten nähert, wenn er uns sagt: „Wenn die Chinesen euch Russen die Methoden und Formen des Kampfes vorschreiben wollten, so würdet ihr ihnen wahrscheinlich sagen, daß ihre Vorschläge allzu chinesisch klingen und für euch keine bindende Kraft haben können.“ Hier verfällt Genosse Gorter in eine außerordentliche nationale Beschränktheit. Von unserem Standpunkt aus ist die Weltwirtschaft ein organischer Einheitskomplex, auf Grund dessen sich die Weltrevolution des Proletariats entwickelt, und die Kommunistische Internationale orientiert sich nach dem ganzen Weltwirtschaftskomplex, den sie mit den wissenschaftlichen Methoden des Marxismus analysiert, unter Verwertung der ganzen in früheren Kämpfen gesammelten Erfahrung. Das schließt natürlich Besonderheiten der Entwicklung in den einzelnen Ländern, Besonderheiten einzelner Momente usw. nicht aus, sondern setzt sie vielmehr voraus. Aber um diese Besonderheiten richtig zu verstehen, muss man sie im internationalen Zusammenhang betrachten. Das tut Genosse Gorter nicht, und daraus resultieren seine starken Irrtümer.

Wenn er z.B. behauptet, in England stehe das Proletariat allein da, während ihm in Rußland die bäuerlichen Massen folgen, so ist diese pauschale Verallgemeinerung einseitig und daher falsch. Das englische Proletariat ist keineswegs so sehr isoliert, denn England ist ein Weltreich. Die englische Industrie und die Lage des englischen Kapitals hängen vollständig von den Kolonien ab; folglich ist auch der Kampf des englischen Proletariats abhängig vom Kampf der kolonialen Volksmassen Der Kampf des englischen Proletariats gegen das englische Kapital verlangt eine Orientierung auch bezüglich der Interessen und Stimmungen der Bauernschaft Indiens. Die englischen Proletarier können nicht endgültig siegen, bevor sich das indische Volk erhoben und das englische Proletariat dieser Erhebung ein Ziel und ein Programm gesetzt hat; und in Indien ist der Sieg nicht möglich ohne die Hilfe und Führung des englischen Proletariats. Da habt ihr die revolutionäre Arbeitsgemeinschaft des Proletariats und der Bauernschaft im Britischen Reiche.

Wir Russen stehen – sowohl in sozialer, als auch in geographischer Hinsicht auf der Grenzscheide zwischen den kolonisierenden und den kolonisierten Ländern. Wir sind kolonisiert worden in dem Sinne, daß wir die großen Fabriken in Petrograd, Moskau und im Süden vom europäischen und amerikanischen Kapital erhalten haben, das den Gewinn einstrich. Der Umstand, daß der russische Industriekapitalist für das Weltfinanzkapital ein Agent dritten Ranges war, verlieh dem Kampf des russischen Proletariats von Anfang an einen revolutionären internationalen Charakter. Der russische Arbeiter sah vor sich einerseits das vereinigte Geldkapital Rußlands, Frankreichs, Belgiens usw., andererseits die zurückgebliebenen Bauernmassen, die noch halbwegs in Hörigkeitsverhältnissen standen. Wir hatten also bei uns London und Indien zugleich. Das hat uns – bei all unserer Rückständigkeit – den europäischen und Weltaufgaben in ihrer entwickeltesten geschichtlichen Form näher gebracht.

Zu unserer Auffassung der Fragen des revolutionären Kampfes sind wir jedoch nicht nur auf Grund unserer nationalen Verhältnisse gelangt Die bolschewistische Partei war von ihren ersten Anfängen an nach den Lehren Marx aufgebaut, gesättigt mit der gesamten Erfahrung der letzten Jahrzehnte proletarischen Weltkampfes. Wir haben die Bedingungen eines eigenen Kampfes stets mit Hilfe der marxistischen Methode analysiert. Um uns von unserer russischen Rückständigkeit wenigstens teilweise reinzuwaschen, erlaube ich, daran zu erinnern, daß viele von uns jahrelang an der westeuropäischen Arbeiterbewegung teilgenommen haben. Von Führern der Kommunistischen Partei Rußlands hat die Mehrzahl in Deutschland, Österreich, Frankreich, England, Amerika gelebt und gekämpft und dort Hand in Hand mit den besten proletarischen Kämpfer gearbeitet. Nicht eine hausbackene russische Theorie hat uns geholfen, uns in unseren russischen Verhältnissen zurechtzufinden und sie mit dem Weg der Weltrevolution zu verknüpfen, sondern vor allem die Theorie des Marxismus; geholfen hat uns der Umstand, daß ganze Geschlechter der russischen Revolutionskämpfer die westeuropäische Revolutionsschule durchgemacht haben. Ich erlaube mir überdies, hinzuzufügen, daß, als Marx und Engels das Kommunistische Manifest schrieben, sie ebenfalls dem industriell zurückgebliebensten Lande Europas angehörten. Aber bewaffnet mit der von ihnen selbst geschaffenen Methode stützten sie sich bei der Bewertung der deutschen Verhältnisse auf die Analyse der Erfahrung der französischen Revolutionen und des englischen Kapitalismus.

Ich wiederhole nochmals: Wenn Genosse Gorter sagt, daß das Proletariat im Westen, im Gegensatz zu Rußland, völlig isoliert dastehen wird, so denkt er dabei zweifellos an den Unterschied der Lage der russischen und der westeuropäischen Bauernschaft. Aber gleichzeitig läßt er dabei einen nicht weniger wichtigen, sogar wichtigeren Umstand aus dem Auge – den internationalen Charakter der Revolution und die Weltverbindungen. Er faßt die Frage vom insularen englischen Standpunkt an, vergißt Asien und Afrika, vergißt die Verknüpfung der proletarischen Revolution des Westens mit den national-agrarischen Revolutionen des Ostens. Das ist die Achillesferse des Genossen Gorter.

Hinsichtlich der Gewerkschaften und Industrieverbände ist der Standpunkt des Genossen Gorter äußerst verworren. Zuweilen hat es den Anschein, als ob es bei ihm nur um den Wechsel der Organisationsformen gehe; In Wahrheit aber liegt die Sache viel tiefer. In der Rede des Genossen Gorter macht sich die Furcht vor der Masse bemerkbar. Dem Wesen seiner Anschauungen nach ist Genosse Gorter Pessimist, Er glaubt nicht an die proletarische Revolution. Nicht umsonst hat er mit solchem Hochmut von der Jagd der Kommunistischen Internationale nach den Massen gesprochen. Genosse Gorter spricht von der sozialen Revolution wie ein Solist, wie ein Lyriker; zur materiellen Grundlage der Revolution zur Arbeiterklasse hat er kein Vertrauen, Sein Standpunkt ist in höchstem Grade individualistisch und aristokratisch. Mit dem revolutionären Aristokratismus aber ist der Pessimismus unvermeidlich verbunden. Gorter sagt, wir Leute des Ostens wüßten nicht, wie sehr die Arbeiterklasse „verbürgerlicht“ sei, und daß daher die Erfassung der Massen um so gefährlicher sei, je erfolgreicher sie vor sich gehe. Das ist das wahre Leitmotiv seiner Rede: er glaubt nicht an die revolutionäre Gesinnung der Arbeiterklasse. Er erkennt nicht den Kern des Proletariats und sieht nur die Schale seiner privilegierten bürokratisierten Spitze.

Was beabsichtigt also Gorter? Was will er? Propaganda! Darin besteht eigentlich seine ganze Methode. Die Revolution, sagt Gorter, hängt nicht von der Not, nicht von den wirtschaftlichen Verhältnissen, sondern von der Erkenntnis der Massen ab; aber diese wird gebildet durch die Propaganda. Er versteht diese Propaganda in völlig idealistischem Sinne, ähnlich wie die Rationalisten und Aufklärer des 18. Jahrhunderts. – Wenn die Revolution nicht von den Lebensbedingungen der Massen abhängt, bzw. nicht so sehr von diesen Bedingungen als von der Propaganda: warum denn habt ihr sie in Holland nicht gemacht? Ihr wollt im Grunde genommen die aktive Entwicklung der Internationale durch die Methoden der propagandistischen Anwerbung einzelner Arbeiter ersetzen. Ihr wollt so etwas wie eine reine Internationale der Auserwählten haben: aber gerade eure holländische Erfahrung sollte euch sagen, daß sich bei einem solchen Verhalten der auserwähltesten Organisation die schärfsten Meinungsverschiedenheiten ergeben müssen.

Infolge seines idealistischen Standpunktes verfällt Gorter aus einem Widerspruch in den anderen. Er begann mit der Propaganda eines allumfassenden Mittels zur Erziehung der Massen und kam dann zur Behauptung, daß die Revolution „durch Taten und nicht durch Worte“ gemacht werde. Diese Rolle braucht er zur Bekämpfung des Parlamentarismus. Es entbehrt nicht eines gewissen Reizes, daß Genosse Gorter eine anderthalbstündige Rede halten musste, um zu beweisen, daß Revolutionen nicht durch Reden, sondern durch Taten vollbracht werden. Früher haben wir von ihm gehört, daß die Massen für die Aktion durch Propaganda, also doch durch Reden, vorbereitet werden können. Der Kern der Sache liegt aber darin, daß Genosse Gorter eine auserwählte Gruppe von Agitatoren, Propagandisten, Schriftstellern haben will, die sich nicht zu so vulgären Aktionen wie Parlamentswahlen oder Teilnahme am Leben der Gewerkschaften hergibt, sondern durch tadellose Reden und Artikel die Massen so lange „erzieht“, bis diese fähig werden, die kommunistische Revolution zu verwirklichen. Ich wiederhole, daß diese Vorstellung ganz von Individualismus durchtränkt ist.

Unbedingt falsch und durchaus antirevolutionär ist die Behauptung Gorters, daß die westeuropäische Arbeiterklasse ganz verbürgerlicht sei. Wenn dem so wäre, so wäre das gleichbedeutend mit einem Todesurteil für alle unsere Erwartungen und Hoffnungen. Die Macht des Kapitals, dem es gelungen ist, das Proletariat zu verbürgerlichen, durch die Propaganda einiger Auserwählter bekämpfen zu wollen, ist eine hoffnungslose Utopie. In Wirklichkeit sind nur die – wenn auch recht zahlreichen – Spitzen der Arbeiterklasse verbürgerlicht.

Nehmen wir die Gewerkschaften. Vor dem Kriege vereinigten sie 2 bis 3 Millionen Mitglieder in Deutschland und in England, etwa 300.000 in Frankreich usw. Jetzt umfassen sie etwa 8 bis 9 Millionen in Deutschland und England, in Frankreich über 2 Millionen usw. Wie können wir es denn versuchen, außerhalb dieser mächtigen Organisationen auf die Massen einzuwirken, in die durch die Erschütterungen des Krieges neue Millionen hineinströmten? Gorter weist darauf hin, daß mehr Arbeiter außerhalb der Gewerkschaften stehen als in den Gewerkschaften. Im allgemeinen ist das richtig. Aber auf welchem Wege hofft Gorter an diese zurückgebliebensten Schichten heranzukommen, die sich sogar unter dem Einfluß der gewaltigen Kriegserschütterungen dem organisierten Wirtschaftskampf der Arbeiterklasse nicht angeschlossen haben? Oder glaubt Gorter, daß in den Gewerkschaften nur die verbürgerlichten Proletarier zusammenströmen, die „reinen“ aber draußen geblieben sind? Das wäre naiv. Außer Hunderttausenden privilegierter und korrumpierter Arbeiter sind in die Gewerkschaften Millionen der kampffähigsten und einsichtigsten Elemente eingetreten, an denen vorbei wir keinen Weg zu den zurückgebliebenen bedrückten und unwissenden Schichten des Proletariats finden werden. Die Schaffung kommunistischer Zellen in den Gewerkschaften mehrt den Einfluß unserer Partei auf den aktivsten, einsichtigsten, somit uns zugänglichsten Teil der Arbeiterklasse. Wer das nicht begreift, wer außer der Schicht der Arbeiterbürokratie und -aristokratie nicht die proletarische Masse in den Gewerkschaften sieht, wer unter Ausschaltung der Gewerkschaften das Proletariat revolutionieren will, dem droht die Gefahr, ein Prediger in der Wüste zu bleiben.

Gorter betrachtet die Gewerkschaften und den Parlamentarismus als Faktoren, die außerhalb der geschichtlichen Entwicklung stehen, als ein- für allemal gegebene Größen. Da die Arbeit der Gewerkschaften und des Parlamentarismus nicht zur Revolution geführt hat, so schlägt Gorter vor, den Gewerkschaften und dem Parlamentarismus den Rücken zu kehren, und er merkt nicht, daß er damit bei den jetzigen Verhältnissen der Arbeiterklasse selbst den Rücken kehrt.

In der Tat, die Sozialdemokratie, mit der wir, bzw. die Kommunistische Internationale, gebrochen haben, war eine bestimmte Epoche in der Entwicklung der Arbeiterklasse, die Epoche nicht der Revolution, sondern der Reformation. Der künftige Geschichtsschreiber wird, wenn er den Entwicklungsgang der Bourgeoisie und des Proletariats vergleicht, sagen, daß auch die Arbeiterklasse ihre proletarische Reformation gehabt hat.

Was war das Wesen der letzteren? Die zu selbständigem geschichtlichen Handeln erwachte Bourgeoisie stellte sich nicht von Anfang an die Aufgabe, die Macht zu erobern, sondern versuchte im Rahmen der feudalen Gesellschaft sich bequemere und ihren Bedürfnissen besser angepaßte Lebensbedingungen zu sichern. Sie erweiterte für sich den Rahmen des feudalen Staates, veränderte ihn und verwandelte ihn in eine bürokratische Monarchie. Sie gab der Religion einen anderen Inhalt und individualisierte sie, d. h. paßte sie der bürgerlichen Eigenart an. In diesen Tendenzen drückte sich die relative geschichtliche Schwäche der aufkommenden Bourgeoisie aus. Nachdem sie sich diese Stellungen gesichert hatte, ging die Bourgeoisie zum Kampf um die Macht über. Die Sozialdemokratie erwies sich unfähig, aus der Erkenntnis des Marxismus zur sozialen Revolution zu gelangen. Die Sozialdemokratie beschränkte sich darauf, im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates für die Interessen der Arbeitermassen zu wirken Die Eroberung der Macht wurde zwar formell als Ziel aufgestellt; auf den praktischen Kampf der Sozialdemokratie übte es aber gar keinen Einfluß aus. Die Arbeit bestand nicht in einer revolutionären Ausnutzung des Parlamentarismus, sondern in einer Anpassung der Arbeiterklasse an die bürgerliche Demokratie. Diese Anpassung des seiner Kraft noch nicht hinreichend bewussten Proletariats an die sozialen, staatlichen und ideologischen Formen der bürgerlichen Gesellschaft war offenbar ein geschichtlich unvermeidlichem Vorgang, aber eben ein geschichtlicher, d. h. durch die bestimmten Verhältnisse der Epoche begrenzter Vorgang. Diese Epoche der proletarischen Reformation schuf einen besonderen Apparat der Arbeiterbürokratie mit besonderen Denkgewohnheiten, führte zu einer eigenen Routine, Kleinkrämerei, Anpassungspolitik, Kurzsichtigkeit.

Gorter identifiziert diesen bürokratischen Apparat mit den proletarischen Massen selbst. Daher die idealistischen Illusionen Gorters. Seine Denkweise ist nicht materialistisch, ist nicht historisch. Er erkennt nicht die Wechselbeziehungen zwischen der vergangenen Epoche und der jetzigen. Gorter erklärt: die Gewerkschaften haben bankrottiert, die Sozialdemokratie hat bankrottiert der Kommunismus hat bankrottiert, die Arbeiterklasse hat sich verbürgerlicht. Man muss von vorne anfangen, und zwar mit einer Gruppe von Auserwählten, die ohne Rücksicht auf alle alten Organisationsformen dem Proletariat die reine Wahrheit bringen, es von bürgerlichen Vorurteilen rein waschen und es endlich zur proletarischen Revolution vorbereiten werden. Wie ich bereits sagte, ist ein solcher idealistischer Hochmut die Kehrseite des tiefsten Skeptizismus.

Gorter beweist auch in bezug auf die Epoche, in der wir leben und speziell in bezug auf die deutsche Revolution, alle Besonderheiten seines antimaterialistischen, antidialektischen, antihistorischen Denkens. In Deutschland dauert die Revolution schon zwei Jahre. Wir beobachten in ihr den Wechsel bestimmter Gruppierungen, Stimmungen, Methoden usw. Dieser Wechsel zeigt eine planmäßige Entwicklung, die man voraussehen konnte und musste und die wir auf Grund unserer Analyse und Erfahrung vorausgesehen und vorausgesagt haben. Genosse Gorter aber kann nicht im entferntesten beweisen oder auch nur behaupten, daß sich der von ihm vertretene Standpunkt in Deutschland systematisch und planmäßig entwickelt durch die Erfahrungen der Revolution bereichert, einen immer stärkeren Einfluß auf die Entwicklung der Revolution ausübt.

Genosse Gorter spricht mit der höchsten Verachtung von Spaltung in der u.s.p.d.. Für ihn ist das eine für echte Revolutionäre keiner Aufmerksamkeit würdige Episode unter Opportunisten und kleinbürgerlichen Schwätzern. Aber dadurch wird nur die ganze Oberflächlichkeit des Standpunkts des Genossen Gorter bewiesen. Denn die Kommunistische Internationale hat bereits in der Periode ihres Entstehens, vor ihrer formalen Gründung, durch ihre theoretischen Vertreter die Unausbleiblichkeit sowohl des Anwachsens der Unabhängigen Partei, als auch ihre spätere Umformung und Spaltung vorausgesehen. Für uns ist diese Spaltung keine Bagatelle, sondern höchst bedeutsame Etappe in der revolutionären Entwicklung des deutschen Proletariats. Wir haben sie zu Beginn der Revolution vorausgesagt, haben sie angestrebt, haben sie Hand in Hand mit den deutschen Kommunisten vorbereitet. Jetzt haben wir sie erreicht. Die Schaffung einer Vereinigten Kommunistischen Partei in Deutschland ist keine leere Phrase, sondern geschichtliches Ereignis von größter Wichtigkeit. Auch an dieser historischen Tatsache hat sich, abgesehen von allem anderen, wieder die Richtigkeit unserer historischen Prognose und unserer Taktik gezeigt. Genosse Gorter mit seinen propagandistischen, rationalistischen Reden sollte es sich zehnmal überlegen, ehe er den Bannstrahl gegen eine Richtung schleudert, die mit der Entwicklung der Revolution wächst, die ihr Morgen und Übermorgen selbst voraussieht, sich klare Ziele steckt und sie zu erreichen versteht.

Kehren wir zum Parlamentarismus zurück. Gorter sagt uns: „Ihr Orientalen seid nicht erfahren in den Fragen der bürgerlich-demokratischen Politik und Kultur und gebt euch keine Rechenschaft darüber, was Parlament und Parlamentarismus für die Arbeiterbewegung bedeutet.“ Und um unserer wenigstens teilweisen Erleuchtung willen erklärt uns Genosse Gorter den verderblichen Einfluß des parlamentarischen Reformismus. Wenn der beschränkte Verstand der Orientalen überhaupt nicht fähig ist, sich in diesen Fragen zu orientieren, so hat es ja gar keinen Zweck, mit uns zu reden. Aber ich befürchte sehr, daß aus dem Genossen Gorter keineswegs die letzte Weisheit des westeuropäischen revolutionären Gedankens spricht, sondern nur die konservative Beschränktheit eines pessimistischen Individualismus, der nicht an die proletarische Revolution glaubt. Auch das Kommunistische Manifest schien seinerzeit, ja selbst gegenwärtig, vielen französischen und britischen „Sozialisten“ ein Produkt der deutschen kulturellen und politischen Rückständigkeit zu sein. Nein, das Breitengrad-Argument kann uns nicht überzeugen. Obgleich wir gegenwärtig unter dem Breitengrad von Moskau diskutieren, so betrachten wir uns doch als Teilhaber an den Welterfahrungen der Arbeiterklasse, wir kennen – und nicht nur aus Büchern – die Epoche des Kampfes des Reformismus und Marxismus in der internationalen Arbeiterbewegung, haben den sozialdemokratischen Parlamentarismus in einer Reihe von Ländern nahe und kritisch beobachtet und haben uns über seinen Platz in der Entwicklung der Arbeiterklasse genügend Klarheit erworben.

Gorter sagt, in den Herzen der Arbeiter sitze die Hochschätzung des Parlamentarismus zu tief. Das ist richtig. Man muss aber hinzufügen, daß diese Hochschätzung durch eine mystische Angst vor dem Parlamentarismus in den Herzen einiger Ideologen ergänzt wird. Gorter glaubt, wenn er einen Kilometer weit am Parlamentsgebäude vorbeigeht, so wird die Hochachtung der Arbeiter vor dem Parlamentarismus geringer oder verschwinden. Eine solche Taktik beruht auf idealistischem Aberglauben und nicht auf Realitäten. Der kommunistische Standpunkt betrachtet den Parlamentarismus im Zusammenhang mit allen politischen Beziehungen und fetischiert den Parlamentarismus weder mit einem Plus- noch mit einem Minuszeichen. Das Parlament ist ein Mittel zur politischen Täuschung und Einschläferung der Massen, zur Verbreitung von Vorurteilen, zur Unterstützung der Illusionen der politischen Demokratie usw. usw. Das ist alles unbestreitbar. Aber steht das Parlament in dieser Hinsicht vereinzelt da? Wird durch die Zeitungen, vor allem die sozialdemokratischen, kein kleinbürgerliches Gift verbreitet? Sollten wir da nicht vielleicht auch auf die Presse als Werkzeug zur kommunistischen Aufklärung der Massen verzichten? Oder vielleicht wird man die bloße Tatsache, daß die Gruppe des Genossen Gorter dem Parlament den Rücken kehrt, den Parlamentarismus kompromittieren? Wenn dem so wäre, so würde das bedeuten, daß in den Augen der Massen die von der Gruppe Gorters vertretene Idee der kommunistischen Revolution höher steht als alles andere. Dann aber würde das Proletariat selbstverständlich das Parlament mühelos auseinander treiben und die Macht in seine Hand nehmen. Das ist doch aber nicht der Fall. Gorter selbst leugnet ja nicht nur nicht die Achtung und Kriecherei der Massen vor dem Parlament. sondern übertreibt sie sogar bis zur Karikatur. Aber welche Schlüsse zieht er daraus? Man müsse die “Reinheit” der eigenen Gruppe – d.h. Sekte – bewahren. Letzten Endes können die Argumente Gorters gegen den Parlamentarismus ebenso gegen alle Formen und Methoden des Klassenkampfes des Proletariats gerichtet werden, denn alle diese Formen und Methoden haben sich als tief durchseucht von Opportunismus, Reformismus und Nationalismus erwiesen. Indem Gorter die Ausnutzung der Gewerkschaften und des Parlamentarismus bekämpft, ignoriert er den Unterschied zwischen der Kommunistischen und Zweiten Internationale, zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie und macht sich vor allem nicht den Unterschied klar zwischen zwei grundverschiedenen Geschichtsepochen.

Übrigens erkennt Gorter selbst an, daß vor der Revolution die Parlamentsreden Liebknechts große Bedeutung gehabt haben. Aber, sagt er, nach dem Beginn der Revolution verliert der Parlamentarismus jeden Sinn. Leider erläutert Genosse Gorter nicht, von welcher Revolution er spricht. Liebknecht hielt seine Reden im Reichstag vor der bürgerlichen Revolution. Jetzt hat Deutschland eine bürgerliche Regierung, und das Land geht seiner proletarischen Revolution entgegen. In Frankreich ist die bürgerliche Revolution schon längst abgeschlossen, die proletarische Revolution aber ist noch immer nicht da, und es gibt keine bestimmten Anhaltspunkte dafür, daß sie morgen, in einer Woche oder selbst in einem Jahr eintreten wird. Gorter erkennt an, daß die Ausnutzung des Parlamentarismus vor der Revolution zulässig und nützlich ist. Vortrefflich! – Aber noch sind ja weder Deutschland, noch Frankreich und England, wie leider überhaupt alle zivilisierten Länder der Welt gar nicht in die proletarische Revolution eingetreten. Wir erleben jetzt eine Epoche der Vorbereitung dieser Revolution. Wenn die Parlamentsreden Liebknechts in der Periode vor der Revolution eine revolutionäre Bedeutung haben konnten, warum lehnt Gorter dann den Parlamentarismus für die jetzige vorbereitende Epoche ab? Oder hat er den Unterschied zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Revolution in Deutschland übersehen? Hier hat Genosse Gorter ganz offenbar nicht zu Ende gedacht, und das verwickelt ihn in Widersprüche. Er ist augenscheinlich der Ansicht, da Deutschland „überhaupt“ in die Periode der Revolution eingetreten sei, so müsse man „überhaupt“ auf den Parlamentarismus verzichten. Aber wie steht es dann mit Frankreich? Nur idealistische Vorurteile können uns den Verzicht auf die Parlamentstribüne diktieren, die wir gerade dazu ausnutzen können und müssen, um den Aberglauben der Arbeiterschaft an den Parlamentarismus und die bürgerliche Demokratie zu brechen.

Es ist sehr wohl möglich, daß jedes parlamentarische Wort Liebknechts im vorrevolutionären Deutschland bedeutend mehr Zuhörer gefunden hat als es jetzt finden würde. Ich erkenne überhaupt voll und ganz an, daß in der Epoche der herannahenden Revolution Parlamentsreden, selbst die revolutionärsten, keine solche Wirkung tun können, wie sie es vor einigen Jahren im Augenblick der höchsten Herrschaft des Militarismus getan haben oder hätten tun können. Wir behaupten durchaus nicht, daß der Parlamentarismus immer und überall dieselbe Bedeutung hat. Im Gegenteil: der Parlamentarismus und seine Stellung im Kampf des Proletariats müssen vom Standpunkt der konkreten örtlichen und zeitlichen Verhältnisse bewertet werden. Aber eben deshalb ist die Verneinung des Parlamentarismus in Bausch und Bogen der reinste Aberglaube. Letzten Endes kommt eine solche Verneinung der Angst eines tugendhaften Menschen gleich, der nicht auf die Straße hinausgeht, weil er sich fürchtet, seine Tugend irgendwelchen Versuchungen auszusetzen. Wenn ich ein Revolutionär und Kommunist bin, der unter der Leitung und Kontrolle einer zentralisierten proletarischen Partei arbeitet, so kann ich in einer gewerkschaftlichen Organisation, an der Front, in einer Zeitung, auf den Barrikaden, im Parlament wirken, – ich bleibe dennoch, was ich sein muss, – kein Parlamentarier, kein Zeitungsschreiber, kein Gewerkschafter, sondern ein revolutionärer Kommunist, der alle Wege, Mittel und Methoden benutzt, um der sozialen Revolution zum Siege zu verhelfen.

Schließlich das letzte Kapitel Gorters: „Die Masse und die Führer“. In dieser Frage drückt sich der Idealismus und Formalismus des Genossen Gorter nicht weniger deutlich aus als in den anderen Fragen. „Jagt den großen Massen nicht nach“, belehrt uns Genosse Gorter. „Es ist besser, eine kleine Anzahl, dafür aber vollwertiger Genossen zu haben.“

In dieser Form ist dieses Rezept inhaltslos. Erstens sehen wir am Beispiel Hollands und auch anderwärts, daß eine kleine, streng konservierte Mitgliederzahl eine Organisation keineswegs vor ideellen Abirrungen bewahrt, ja in gewissem Sinne solche fördert, da eine sektenartige Organisation nicht die nötige Standfestigkeit haben kann. Zweitens aber – und dies ist die Hauptsache – darf man nicht vergessen, daß unser Ziel die Revolution ist. Die Revolution aber kann nur von einer Massenorganisation geleitet werden. Der Kampf Gorters gegen den „Führerkultus“ hat einen rein idealistischen, fast theoretischen Charakter, wobei er sich auf Schritt und Tritt in Widersprüche verwickelt. Wir brauchen keine Führer, sagt er, das Schwergewicht muss bei den Massen liegen. Andererseits aber warnt er uns: buhlt nicht um die Massen. Die Verbindung zwischen Partei und Klasse wird Gorters Auffassung nach bestimmt durch die Wechselbeziehungen zwischen einer kleinen Propagandagesellschaft und dem von Bürgerlichkeit angesteckten Proletariat. Aber gerade in solchen Organisationen, wo die Furcht vor den Massen herrscht, wo man zu ihnen kein Vertrauen hat, wo man durch individuelle Propaganda werben will, wo nicht der Klassenkampf, sondern eine idealistische Aufklärung die Basis der Arbeit ist, gerade dort müssen die Führer eine unverhältnismäßig große Rolle spielen. Ich brauche hierfür keine Beispiele zu nennen; Genosse Gorter wird ihrer nicht wenige finden. (Zwischenruf: k.p.d.) Die Geschichte der k.p.d. ist noch zu jung. Sie hat bisher die Massen noch zu wenig geführt, als daß man die Wechselbeziehungen zwischen Massen und Führer erfahrungsmäßig und irgendwie vollständig bestimmen könnte. Erst jetzt nach der Spaltung der u.s.p., die durch die Arbeit der k.p.d. erzielt wurde (trotz ihrer unstreitigen einzelnen Fehler, die Ihr so stark betont), erst jetzt beginnt eine neue Epoche im Leben des deutschen Proletariats und des deutschen Kommunismus. Die Erziehung der Massen und die Auswahl der Führer, die Entwicklung der Selbstbetätigung der Massen und die Einführung einer entsprechenden Kontrolle über die Führer, – das sind alles, miteinander verknüpfte und gegenseitig bedingte Erscheinungen und Vorgänge. Ich kenne kein Rezept, mit dessen Hilfe man künstlich das Schwergewicht von den Führern auf die Massen verlegen könnte. Gorter verweist auf die Propaganda der Auserwählten. Lassen wir das für einen Augenblick gelten. Aber bevor diese Propaganda sich der Massen bemächtigt hat und sie emporhebt, wird das Schwergewicht des Handelns offenbar bei denen liegen, die die Propaganda führen, d. h. bei den Initiatoren oder Führern. Auf Schritt und Tritt kann man verfolgen, daß sich hinter dem sogenannten Kampf gegen die Führer die demagogische Bekämpfung der Ideen und Methoden verbirgt, die von den betreffenden Führern vertreten werden. Wenn diese Ideen und Methoden richtig sind, so ist der Einfluß dieser Führer gleichbedeutend mit dem Einfluß richtiger Methoden und Ideen. Im Namen der Masse treten meistens diejenigen auf, die es nicht verstehen, sich der Masse zu bemächtigen. Überhaupt wird das Verhältnis zwischen den Führern und der Masse durch das kulturelle und politische Niveau der Arbeiterklasse bedingt; es ist abhängig davon, ob sie revolutionäre Traditionen hat und an Massenaktionen gewöhnt ist, und eine wie große Schicht des Proletariats die Schule der Klassenorganisation und der marxistischen Erziehung durchgemacht hat. Ein selbständiges Problem der Führer und Massen gibt es nicht. Indem die kommunistische Partei das Feld ihres ideellen Einflusses erweitert, in alle Kreise des Lebens und Kampfes der Arbeiterklasse eindringt, immer breitere Massen in den aktiven Kampf unter der Fahne der revolutionären Umwälzung hineinzieht, – erweitert und vertieft sie dadurch die Selbstbetätigung der Arbeitermassen, und während sie die Rolle der Führer keineswegs verringert sondern ihnen eine nie dagewesene historische Macht verleiht, verknüpft sie dennoch diese Rolle enger mit der Selbstbetätigung der Massen und stellt die Führer unter organisierte und bewusste Kontrolle kämpfender Massen.

Gorter sagt, man dürfe die Revolution nicht eher beginnen, als bis die Führer das geistige Niveau der Arbeiterklasse so gehoben haben, daß sie ihre historische Aufgabe endgültig begreift. Aber das ist doch der reinste Idealismus! Als ob der Moment des Eintretens der Revolution wirklich nur vom Grade der Aufklärung der Arbeiterklasse abhängt, und nicht von einer ganzen Reihe anderer Faktoren, innerer wie internationaler, wirtschaftlicher wie politischer, speziell aber vom Einfluß der Not der am meisten verelendeten werktätigen Massen, denn die Not bleibt – mit Erlaubnis des Genossen Gorter – die wichtigste Triebfeder der proletarischen Revolution. Es ist sehr wohl möglich, daß bei einer weiteren Verschlechterung der Wirtschaftslage Europas und Hollands die Revolution in einem Augenblick ausbricht, wo die Kommunistische Partei Hollands immer noch eine numerisch kleine Gruppe darstellen wird. Die in den Revolutionsstrudel hineingezogenen holländischen Arbeiter werden dann nicht fragen, ob sie nicht warten müssten, bis die Kommunistische Partei Zeit gehabt hätte, sie für eine völlig bewusste und planmäßige Teilnahme an den Ereignissen vorzubereiten. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß England in die Epoche der proletarischen Revolution eintreten wird, wenn es erst eine verhältnismäßig nur wenig zahlreiche kommunistische Partei besitzt. Da ist nichts zu machen; denn die Propagierung der Ideen des Kommunismus ist nicht der einzige Faktor der Geschichte. Daraus folgt nur, daß die Arbeiterklasse Englands – wenn sie durch große historische Geschehnisse schon in der allernächsten Periode in die offene proletarische Revolution hineingezogen wird – sich im Prozess ihres Kampfes um die Macht und sogleich nach der Eroberung der Macht ihre Massenpartei schaffen, sie erweitern und festigen muss; in der ersten Periode aber wird die wenig zahlreiche kommunistische Partei, ohne sich von der allgemeinen Bewegung zu trennen und unter Berücksichtigung des vorhandenen Niveaus der Einsicht und Organisiertheit des Proletariats, danach streben müssen, in die sich faktisch entwickelnde Revolution das Maximum kommunistischer Erkenntnis hineinzutragen.

Kehren wir zu Deutschland zurück. Als die jetzige Epoche begann, stand an der Spitze des deutschen Proletariats noch keine schlagfertige Parteiorganisation. Die Arbeiterklasse war genötigt, ihre wahrhaft revolutionäre Partei im Verlauf des offenen Kampfes aufzubauen. Daher kommt es, daß der Kampf des deutschen Proletariats einen so unsicheren und zögernden Charakter trägt und mit so großen Opfern verbunden ist, Was sehen wir in Deutschland? Eine Reihe von Vorstößen und Rückzugsmanövern, Erhebungen und Niederlagen, wiederholtes Übergehen vom Angriff zur Verteidigung, kritische Selbstanalyse, Selbstreinigung, Spaltungen, Umwertung der Führer und Methoden, neue Spaltungen und Vereinigungen. In diesem Schmelztiegel des Kampfes, auf Grund der gemachten revolutionären Erfahrung wird eine echte kommunistische Partei herausgebildet. Das herablassende Verhalten zu diesem Prozess als einer Balgerei der „Führer“, als zu Familiengezänk der Opportunisten unter sich usw. zeugt nur von einer außerordentlichen Kurzsichtigkeit, um nicht zu sagen Blindheit. Wenn man sieht‚ wie die deutsche Arbeiterklasse sich von ihren “Führern” Scheidemann, Ebert usw. zum Ruhme des Imperialismus knebeln ließ, wie die breiten Massen dann mit ihren imperialistischen Führern brachen und – auf der Suche nach einer neuen Orientierung – zeitweilige Bedingungen für den Einfluß der Kautsky und Hilferding geschaffen haben, wie dann der beste und kampffähigste Teil dieser Massen die Kommunistische Partei geschaffen hat, die anfangs wenig zahlreich war, aber fest und mit Recht auf die weitere Revolutionierung der proletarischen Massen rechnete, wenn man weiter die schichtweise Teilung der Unabhängigen Partei und die faktische Spaltung unter den opportunistischen Führern, zwischen der Arbeiterdemokratie und den revolutionären Massen, die den besten Teil der Führer mit sich ziehen, beobachtet, wenn man diesen Prozess in seinem ganzen Umfang nicht vom Standpunkt eines Pedanten, sondern von dem eines materialistisch denkenden Revolutionärs einschätzt, dann sagt man sich hier, im Rahmen der Vereinigten Kommunistischen Partei, wird unter neuen Verhältnissen eine Grundlage für die wahre Entwicklung der revolutionären Partei des Proletariats geschaffen. Wenn Genosse Gorter das nicht einsieht, so ist ihm nicht zu helfen. Wenn die von ihm hier vertretene k.a.p.d., in der es zweifellos eine große Anzahl vortrefflicher revolutionärer Arbeiter gibt, – wenn diese wenig zahlreiche Organisation sich fürchtet, in die v.k.p. einzutreten, die nicht durch oberflächliche Rekrutierung, sondern in den Qualen der Revolution, nach durchgemachtem, tiefgehendem Kampf, nach Spaltungen und Reinigungen geschaffen wurde, so bedeutet diese Furcht nur, daß die Führer der k.a.p.d. in ihr vorläufig noch eine zu große Rolle spielen und die von ihnen geführten Arbeiter mit jenem Mißtrauen gegen die proletarischen Massen anstecken, von dem die Rede des Genossen Gorter erfüllt war.

L. Trotzki.


Compiled by Vico, 3 March 2023