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Antonie Pannekoek Archives

Pressedienst

Quelle: a.a.a.p.


Pressedienst

Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland) : p.i.k.: Pressedienst der Internationalen Kommunisten-Holland, 1928-1933. – Transkribiert und herausgegeben für Rätekommunismus ; Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek; €15,80.


Die Umwälzungen in Deutschland


Quelle:  Pressedienst der g.i.k., Mai 1933, No. 2 (i.i.s.g. ); Transkribiert und herausgegeben für Rätekommunismus ; Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek.


[I.] Die Katastrophe der Sozialdemokratie

Die Nemesis (*) der Geschichte hat die deutsche Sozialdemokratie ereilt. Selten war der Zusammenbruch einer politischen Bewegung so verdient, so eine regelrechte Konsequenz ihrer Verbrechen wie hier. Was die deutsche Sozialdemokratie am Proletariat gesündigt hat, wird ihr jetzt von der Hitlerpartei heimgezahlt.

Wie weit sollen wir zurückgehen? Bis in die 90er Jahre, als mit der anfangenden Prosperität das Gift des Reformismus sich allmählich einschlich? Bis 1914, als in allen Ländern die Sozialdemokratie das Proletariat in das Joch des bürgerlichen Nationalismus und des Krieges spannte?

Fangen wir mit 1918 an, als der Zusammenbruch des deutschen Imperialismus die Macht für den Augenblick in die Hände der Arbeiter legte.

Sozialdemokratische Parteiführer traten im November 1918 als „Volkskommissäre“ an die Spitze der Regierung. Die Arbeiter erwarteten sozialistische Maßnahmen. Eine wirkliche Partei des proletarischen Klassenkampfes hätte als ihre Aufgabe gesehen: die noch unvollkommene Macht der Arbeiterklasse auszubauen und zu festigen zu einer starken Diktatur, die besitzende Klasse und die Offiziere zu entwaffnen, das Kapital mit kräftiger Hand anzufassen. Die Sozialdemokratie beeilte sich, durch Berufung einer „Nationalversammlung“ in Weimar die Macht in die Hände der Bourgeoisie zu spielen. Die Vorhut der Arbeiter, die die Massen zur Organisierung der proletarischen Revolution mitzureißen suchte, ließ sie durch die Generäle mithilfe der bewaffneten Bourgeoisie niederschlagen und festigte diesen Sieg durch die Ermordung der revolutionären Führer, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.

Als Regierung der neuen Republik schützte sie das deutsche Kapital, damit es sich wieder herstellte, und hielt bei auflodernden Bewegungen der Arbeiter die Masse in Ruhe, mit den Worten Eberts: Dies ist Sozialismus!

Sie ließ die Bourgeoisie ihre Macht festigen und ausbauen und wurde zum Dank, als sie nicht mehr nötig war, aus den Ministerposten beseitigt - was sie nicht davon abhielt, die neuen Regierungen nach Kräften zu unterstützen unter der Losung: Sonst kommt der Wolf, die Reaktion, der Faschismus.

Der kapitalistische Wolf wütete schon während dieser ganzen Zeit. Das Kapital handelte seiner Natur nach, so wie Kapital immer handelt.

Durch Schiebung und Spekulationen konzentrierte es allen Besitz in seiner Hand; durch Finanzoperationen, durch Inflation und Deflation expropriierte es die Mittelschichten und verelendete es das Kleinbürgertum. Durch extreme Rationalisierung der Industrie stieß es die Arbeiter massenhaft aufs Pflaster, so dass schon vor der Krise, als in der übrigen Welt noch Prosperität war, eine erschreckend hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland herrschte.

Der Groll der kleinbürgerlichen Massen richtete sich gegen das Regierungssystem - reaktionär und anti-kapitalistisch zugleich –, weil die sozialistische Partei als Sachwalter und Helfer des Großkapitals auftrat, fand er seinen Ausdruck in der emporkommenden nationalsozialistischen Bewegung.

In dieser Bewegung trafen mehrere Strömungen zusammen. Die abgebauten Offiziere der alten Armee, durch die erzwungene Armeebeschränkung stellenlos geworden, hassten die Republik als Verkörperung ihrer Niederlage und des Verlustes ihrer früheren Machtposition. Die akademische Intelligenz, Hüter der nationalstolzen Ideologie, sah sich durch den Zustrom republikanischer und jüdischer Kreise, denen sie oft an Eifer und intellektueller Begabung nicht gewachsen war, in ihrem Anrecht auf amtliche Stellen und freie Berufe bedroht. Zu ihnen stießen die untergehenden Mittelständler, die in dem „jüdischen“ Großkapital der Warenhäuser und Banken die Ursache ihres Niedergangs sahen.

Als dann 1929 die Weltkrise einsetzte, schwoll der Zustrom aller dieser vernichteten oder bedrohten Existenzen zu einer Flut an, die schließlich das ganze parlamentarische Regiment wegschwemmte.

Das wäre allerdings nicht möglich gewesen, wenn nicht zuletzt das Großkapital den Nationalsozialismus als Werkzeug in seinen Dienst genommen und ihn durch seine Unterstützung zur Macht gebracht hätte.

Nur durch die großen Subventionen seitens des Großkapitals war die riesige Entwicklung der Presse, der Propaganda und des Parteiapparates möglich, die diesen Aufschwung zuwege brachte. Das Kapital hatte vorher kein Interesse am Nationalsozialismus, da es unter den republikanischen Regierungen sich unbehindert bereichern und alle ihre Interessen zur Geltung bringen konnte.

Als aber die Weltkrise kam und sich immer mehr verschärfte, musste das Kapital um seine eigene Erhaltung kämpfen. Bankrott bedroht jedes Einzelkapital; für sie alle ist der gemeinsame Ausweg Verringerung aller Kosten, die die Produktion belasten, Herabsetzung der Löhne. Die Löhne wurden durch eine Tarifvertragsgesetzgebung geschützt; und so sehr dieser Schutz in der Praxis der Schiedsrichter immer wieder durchbrochen wurde, so wirkte er doch als ein Hemmnis für eine allgemeine Lohnreduktion. Dazu kam die Arbeitslosenunterstützung, übrigens zuerst durch die Arbeiter aus eigenen Mittel aufgebaut, musste auch dazu dienen, dem Kapital die notwendigen Arbeitskräfte für die nächste Prosperität zur Verfügung zu halten. Jetzt aber hat sich die Sache geändert.

Das deutsche Kapital sieht von dem alten Ehrgeiz ab, ein hochindustrielles Exportland für den Weltmarkt zu sein; es zieht sich in eine gewisse Autarkie zurück, wobei der innere Markt die Hauptsache und der industrielle Export Nebensache wird. Politisch wird es sich, und werden vor allem auch seine Freunde, die Junker, sich beruhigter fühlen, als dabei die rasche Zunahme des industriellen Proletariats in Deutschland gehemmt wird.

Also: das Kapital will die Kosten der Arbeitslosenunterstützung nicht mehr tragen, und wenn dabei die zu vielen, die überflüssigen Proletarier zugrunde gehen, um so besser.

Zu diesem Angriff auf das Proletariat braucht das Kapital Truppen. Die offizielle Wehrmacht des Staates, die Reichswehr und die Polizei, genügen nicht; sie bilden ein zu kleines Spezialkorps, das höchstens nachher als regulärer Kern dienen kann. Es braucht eine große, freiwillige Massenarmee. Und diese findet es im Nationalsozialismus. Hier wurden im allmählichen Aufbau die Anhänger gewonnen, durch die Ideologie des Nationalismus begeistert, die sich der festen Disziplin einer militärischen Organisation unterordnend, zur höchsten Kampfleidenschaft steigerte, voll von bürgerlichem Hass gegen den Arbeitersozialismus, den „Marxismus“, – Hitler konnte nicht ahnen, wie wenig die sozialdemokratische und die kommunistische Partei mit dem wirklichen Marxismus gemein hatten.

In ihnen hat das Kapital die Kampfbanden gefunden und weiter großgezogen, die es gegen die Arbeiterklasse brauchte: keine von der Staatsmacht eingezogene Soldaten, die auf die Dauer gegen das Volk unzuverlässig sind, sondern eine von Klassenhass erfüllte kleinbürgerliche Masse, zum Klassenkampf erzogen und bewaffnet.

Als dann die Wucht der Krise und die Macht der Propaganda den Nationalsozialismus zur mächtigsten Partei emporhob, hat das verbündete Großkapital und Junkertum seinen Führer zum Reichskanzler gemacht. Und sein erstes Werk war, die Sozialdemokratie und die kommunistische Partei niederzuschlagen.

Man hat sich gewundert, dass die Sozialdemokratie sich so ohne eine Spur des Widerstandes beseitigen ließ. Zwei Soldaten, so höhnte ein Gegner, genügten, um sie aus ihrer Machtposition, dem Polizeipräsidium Berlins, hinauszuwerfen. Sie, die Millionenpartei, die sich und anderen einredete, dass sie die Arbeiterklasse war oder wenigstens vertrat, deren Vorhut, deren Kampforganisation. Kein Arbeiter rührte eine Hand für sie, und sie versuchte nicht einmal, die Arbeiter dazu aufzurufen. Sie war nicht kampffähig, und sie wusste selbst, dass sie unfähig zum Kampf war. Sie war nur Fassade geworden, hinter der ein so morscher und verwitterter Bau stand, dass sie bei dem ersten Schlag des Gegners in Trümmer fiel.

Wie geprügelte Hunde saßen die Sozialdemokraten im Reichstag und wussten nichts vorzubringen, als dass sie doch nicht so schlecht seien - im nationalen Sinne - als man sie machte. Und als Hitler sie anherrschte: 14 Jahre sitzt ihr hier, und das deutsche Volk hat von eurem mysteriösen Sozialismus nie etwas gesehen – da traf er gerade den Nagel auf den Kopf. Nicht ihr Sozialismus, sondern ihr Mangel am Sozialismus war die Ursache des Sturzes.

Eine Niederlage an sich ist nicht schlimm; die Arbeiterklasse wird noch oft Niederlagen erleiden, wenn sie mit ungenügender Kraft den Kampf gegen das mächtigere Kapital aufnehmen muss, und solche Niederlagen sind Quelle späterer Siege. Aber dies war ein Zusammenbruch, kein Kampf, weil sie, die Sozialdemokratie, die Arbeiter nur wählen, aber nicht revolutionär kämpfen gelehrt hatte. Wie könnte sie auch - hatte sie ja selbst den revolutionären Kampf der Arbeiter niedergeschlagen für die Bourgeoisie. Der Untergang mag tragisch erscheinen, wenn man an Bebel und Liebknecht, an die vielen Kämpfer alter Zeit denkt, die in opfervoller Arbeit damals die Sozialdemokratie aufbauten.

Aber die Welt schreitet vorwärts, was der Vergangenheit ein Ideal, wird der Zukunft ein Hemmnis. Die Sozialdemokratie ist ein alter absterbender Ast am Baume der Arbeiterbewegung, und klein unter ihm, von ihm bisher bedrückt, sprießen die neuen Äste auf.


Redaktionelle Anmerkung

*) ausgleichende, vergeltende, strafende Gerechtigkeit (Duden).


Compiled by Vico, 20 August 2021