Quelle: a.a.a.p.
Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland) : p.i.k.: Pressedienst der Internationalen Kommunisten-Holland, 1928-1933. – Transkribiert und herausgegeben für Rätekommunismus ; Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek; €15,80.
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Die Akkumulation des Kapitals in Sowjetrussland Unpassende Freude
Quelle: Pressedienst der g.i.k., Juli 1930, No. 2 (i.i.s.g. ); Transkribiert und herausgegeben für Rätekommunismus ; Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek.
Die russischen Staatslenker arbeiten fieberhaft an dem Ausbau der Staatsindustrie. Alle Industrien werden ausgebreitet und neue Betriebe errichtet. Obwohl die planmäßige Produktion des Fünf-Jahres-Plans mit einer Zunahme des in die Industrie gesteckten Kapitals um 29% rechnet, – verglichen mit dem letzten Jahr (1928=1929) – wird dieses Kapital tatsächlich um 85% vermehrt. (Entnommen aus der „ökonomischen Übersicht“ in dem Moskauer Bulletin der State Bank of the u.s.s.r vom 15. März 1930).
Die Sowjet-Staatsmänner jubeln!
Die III. Internationale jubelt über den schnellen Aufbau des Kommunismus.
Doch wer nicht blind geworden ist durch die servierten demagogischen Phrasen, der jubelt nicht. Nach dem Plan sollte das Industriekapital um 29% wachsen, und es zeigt sich, dass es 85 sind. Was bedeutet dies anders, als dass von einer planmäßigen Produktion in Wirklichkeit nicht die Rede sein kann? Was anders, als dass der russische Kommunismus die Produktionskräfte absolut nicht in der Hand hat, dass die Produktion vielmehr genauso hemmungslos verläuft wie im freien Kapitalismus?
Soziale Entartung
Ohne uns weiter mit den Ursachen dieser unsagbar schnellen Akkumulation aufzuhalten, wollen wir nachgehen, wie sie auf die Arbeiterklasse wirkt. Dies sind dann keinesfalls die Segnungen, wie die III. Internationale es den Arbeitern versucht weiszumachen.
Das ist leicht erklärlich.
Bei der schnellen Ausbreitung der Betriebe werden große Massen Arbeiter von den Fabriken aufgesogen. Die Anzahl der Industriearbeiter steigt; die Städte werden Bienenkörbe, wo kein Raum ist, die Arbeitsbienen zu bergen. Es entsteht ein Mangel an Wohnraum. Die Arbeitsverhältnisse spotten jeder Hygiene. Menschen leben wie Tiere.
Diese Erscheinungen müssen eintreten entsprechend den Akkumulationsgesetzen des Kapitals. Wir haben sie in allen Industrieländern wahrnehmen können, als dort die Entwicklung des Industriekapitals begann. Man lese zum Beispiel den 1. Band des Marx’schen „Kapitals“ oder „Die Lage der Arbeiterklasse in England“ von Friedrich Engels. Und wer das „Glück“ hatte, im Ruhrgebiet zu arbeiten, als dort die Industrie sich entfaltete, der weiß es aus eigener Erfahrung.
Dieselbe Erscheinung zeigt sich jetzt in Russland. Es sind keine „Missstände“ entstanden, weil der Kommunismus noch nicht vollendet ist, sondern es sind die gewöhnlichen Begleiterscheinungen einer schnellen Akkumulation des Industriekapitals.
Und hier zeigt sich dann zum zweiten Mal, dass von einem „planmäßigen“ Aufbau keine Rede ist. Oder erfolgt die Verschlechterung der Lebenslage der Arbeiter auch planmäßig?
Nein! Es zeigt sich nur, dass die Produktion nicht fußt auf dem Bedarf der arbeitenden Bevölkerung, sondern auf dem Erzielen von Gewinnen in den Betrieben. Das Kapital erhebt weiter seinen Tribut und verbreitet sein Elend, ohne sich viel daran zu stören, ob er sich in Händen von Privaten oder des Staates befindet.
Wie die Akkumulation des Kapitals sich für die Arbeiterklasse auswirkt, ist deutlich zu sehen aus den regelmäßigen Beschwerden und Klagen der Arbeiterkorrespondenten in der Sowjetpresse.
Wir bringen zwei dieser Berichte aus Sa Industrialisaczin vom 8. Mai (zentrales Organ des Obersten Volkswirtschaftsrates in Moskau), die folgendermaßen lauten:
Das Donetz-Kohlengebiet
„Im Verlauf von sechs Monaten wurden im Donetz-Becken 195.000 Personen neu aufgenommen, aber 179.000 verzogen wieder. Hauptsächlich die Bergwerke von Stalino zeigten diese Erscheinung. Hier wurden im ersten Halbjahr 72.000 Arbeiter eingestellt und 68.000 entlassen. Wodurch ist diese große Fluktuation in den Schächten des Donetz-Beckens zu erklären? Die Wohnungs- und Lebensverhältnisse sind sehr schwierig. Jedes Jahr gibt das Donetz-Becken große Summen für Wohnungsbau aus, und trotzdem nimmt der Wohnraum per Kopf der Arbeiterbevölkerung nicht zu, sondern ab. Am 1. Oktober 1929 hatte das Donetz-Becken einen Wohnraum von 4,64 Quadratmeter per Kopf. Das Tempo des Wohnungsbaus ist im Donetz-Becken gegenüber der Zunahme der Bevölkerung deutlich zurückgeblieben. Wenn auch die Mittel, die für Wohnungsbau zur Verfügung gestellt werden, von Jahr zu Jahr zunehmen, so sind sie doch ungenügend. Die außergewöhnliche Überfüllung der Arbeiterwohnungen, vielfach auch das Fehlen jeder Wohngelegenheit, zwingen die Arbeiter, von dem einen nach dem anderen Schacht zu ziehen. Auch der Bau von Schulen befindet sich im Donetz-Becken in einem schwierigen Zustand. Die Arbeiter müssen ihre Kinder in andere Städte zur Schule senden. Die Versorgung der Arbeiter in den Bergwerken ist auch nicht geregelt. Das Genossenschaftswesen ist unzureichend. Kantinen sind bei weitem nicht auf allen Schächten. Vor allem für die Arbeiter, die auf weitab von den Dörfern gelegenen Schächten arbeiten, ist der Zustand schwierig. Die Wasserversorgung ist der Gegenstand scharfer Kritik von Seiten der Arbeiter. In vielen Bergwerken ist kein gesundes Trinkwasser, und die Arbeiter laufen ungewaschen und schmierig herum, weil nur wenige Bergwerke eine Badegelegenheit besitzen.“
Der zweite Bericht eines Arbeiterkorrespondenten lautet: Die Ural-Erzbergwerke
„Im ganzen Uralgebiet ist die Fluktuation der Arbeitskräfte außergewöhnlich groß. In den Erzbergwerken von Blagodati sind zu den 1300 Arbeitern im Laufe eines halben Jahres 1583 Arbeiter neu eingestellt, während 2174 die Entlassung nahmen. Die Wysogokorsk-Werke hatten in fünf Monaten eine Zufuhr von 1792 Arbeitern, während 2358 abzogen. Der Nishny-Tagil-Betrieb hatte im ersten Quartal eine Fluktuation von 30%. Um Fahrkarten muss man im Uralgebiet kämpfen, und die Eroberung eines Platzes in Eisenbahnwagen geschieht anarchisch wie bei der Flucht aus einem brennenden Gebäude. Die Wagen sind vollgepfropft und man kann, ebenso wie 1919, vielfach Passagiere auf den Wagendächern antreffen. Metallarbeiter, Bergarbeiter, Holzarbeiter laufen von Stadt zu Stadt […] Buchhalter, Beamte, Stenotypisten […], hunderte Proletarier wandern von Betrieb zu Betrieb, von Bergwerk zu Bergwerk. Die Ursachen dieser großen Völkerwanderung der Arbeitskräfte liegen in der Buntscheckigkeit der Löhne und den unbefriedigenden Lebensverhältnissen. Die Betriebe versuchen also augenscheinlich einander die Arbeitskräfte wegzusaugen [eine charakteristische Akkumulationserscheinung – p.i.k.. Die zu späte Ausbezahlung der Löhne [Kreditnot – p.i.k.] in den Alapajewsk- und Kuschwabetrieben zwingt die Arbeiter, ihre Zuflucht in Tagil und Nadeshdinsk zu suchen, wo die Löhne zeitig ausbezahlt werden. In den Werken von Goroblagodatj, in Alapajewsk und Kuschwa ist keine Wohngelegenheit. In den Alapajewskbetrieben übernachten 30 Arbeiter auf dem Werk unter den Maschinen. Im Kuschwa-Betrieb müssen etwa 20 Arbeiter vier Kilometer laufen, um in der Station von Goroblagodatj schlafen zu können. In den Goroblagodatjbetrieben sind die Arbeiterherbergen zu 200-300% überlastet. Die Organisierung der Ernährung der Arbeiter ist so skandalös organisiert, dass in der Regel lange Reihen vor jeder Kantine stehen. In Tagil, Ruschwa, Blagodatj, Nadeshdinsk, in den Wysokorosk-Betrieben kann man nur Mittagessen bekommen, wenn man eineinhalb Stunden in der Reihe gestanden hat. Die Kantinen sind überlastet; es herrscht ein Chaos. Die Genossenschaften von Tagil arbeiten sehr schlecht. Die Kantine der Wysogorsk-Werke ist auf 800 Mann berechnet, wird aber von 1800 Mann gebraucht und nur durch fünf Mann bedient. Dieselbe Überlastung der Kantinen bei ungenügendem Personal trifft man in der ganzen Gegend an. In der Kantine der Abteilung Walzwerk des Nadeshdinsk-Betriebes sind nur 36 Teller und ein paar Löffel für 200 Besucher. 50 Arbeiter essen mit einem Löffel. Die Qualität des Essens ist unter aller Kritik.“
Diese Dokumente aus der russischen Presse reden eine deutliche Sprache. Sie beweisen, dass eine wilde Jagd der Akkumulation eingesetzt hat, während von einer planmäßigen Produktion keine Rede ist.
Der „Kommunismus“ marschiert! „Wir“ haben nicht mit 29%, sondern 85% akkumuliert!
Eine neue Staatsanleihe
Der Sowjetstaat hat eine neue inländische Anleihe ausgeschrieben, um die Schnelligkeit der Akkumulation noch weiter erhöhen zu können. Der Fünfjahrplan muss in vier Jahren ausgeführt werden. Die neue Anleihe heißt: „Der Fünfjahrplan in Vier-Jahren-Anleihe.“
Amsterdam, Juli 1930 – Das Gesetz über die Reform des Kreditwesens in Russland
Am 31. Januar 1930 wurde in Russland oben genanntes Gesetz angenommen, das als ein „Meilenstein in der sozialistischen Entwicklung der u.d.s.s.r.“ bezeichnet wird. Den Antrieb zu diesem Gesetz gab die Tatsache, dass es sich bei den heutigen Verhältnissen als unmöglich erwies, die Beschaffung von Krediten planmäßig zu vollziehen. Hinzu kommt noch, dass dieser Zustand des Kreditwesens ein ernstes Hindernis bei der planmäßigen Ordnung der ganzen Wirtschaftsebene ist.
Im Beginn, nach 1921, gehörte zwar der größte Teil der industriellen Betriebe zu den Staatsbetrieben, aber doch wirtschaftete jeder Betrieb auf eigene Faust und musste selber sehen, wie er zurechtkam. Jeder Betrieb musste seine eigenen Verbindungen mit dem übrigen Wirtschaftsleben suchen und regeln und tat dieses dann auch auf dem Markte.
Er versah sich auf dem Markt mit den benötigten Materialien zur Produktion und brachte auch sein fertiges Produkt auf den Markt. Dadurch verkauften auch die verschiedenen Staatsbetriebe ihre Produkte aneinander. Der Gewinn des Betriebes wurde dann in den meisten Fällen derartig verteilt, dass 60% in die Staatskasse flossen, während der Rest zur Verfügung des Betriebs stand als Reservefonds, um eventuelle Verluste zu decken, für Betriebsausbreitung und für den Gewinnanteil der „Spezialisten“ (Diese haben auch jetzt noch Anteil am Gewinn). Siehe: Pollock, „Die planwirtschaftlichen Versuche in Sowjetrußland“ (*)). Der Staatsbetrieb arbeitete demnach genauso wie jede kapitalistische Unternehmung auch, nur wurde der Gewinn nicht in der Form von Dividenden an die Inhaber von Aktien ausbezahlt, sondern floss in die Staatskasse.
Eine der Schwierigkeiten, womit die Betriebe zu kämpfen hatten (und noch haben), ist die Distribution ihres Produkts. Die Distribution geschah (auch jetzt noch) durch den inländischen Markt, wodurch ein ansehnlicher Teil ihres flüssigen Kapitals in Vorräten festgelegt wurde. Nun überwand man diese Schwierigkeit ebenso wie die gewöhnlichen Betriebe in allen kapitalistischen Ländern es tun, indem die Staatsbetriebe diese Güter bei staatlichen oder privaten Kreditbanken „beliehen“. Natürlich mussten sie für diese Kredite den üblichen Zins bezahlen.
Die zweite Schwierigkeit bei der Distribution ist, dass die Käufer die gekauften Waren niemals direkt bezahlen konnten, sondern ihre Zahlung gewöhnlich erst dann erfolgt, wenn sie selber schon einen Teil der Waren verkauft haben. Der Käufer bezahlt darum mit einem Wechsel, der nach ein bis drei Monaten oder noch längerer Zeit bezahlbar ist. Doch der Betrieb kann vielfach nicht so lange auf das Geld warten und verkauft darum diesen Wechsel an eine Bank, natürlich mit einem gewissen Verlust. Jedenfalls hat aber dann der Betrieb direkt flüssige Mittel in der Hand.
Diesen Zustand schildert das offizielle Organ der russischen Staatsbank (Economic survey of the state bank of the u.s.s.r., 1. März 1930): „Mit der Wiederherstellung des Bankkredits im Jahre 1922-1923 war die Struktur der Kreditinstitute, ihre Statuten, Funktionen und die Form ihrer Operationen gegründet auf Prinzipien, so wie sie in kapitalistischen Ländern gebräuchlich sind. […] Die Tatsache, dass die Kreditoperationen der Sowjet-Banken auf denselben Grundlagen wie die der kapitalistischen Banken geführt werden, ist verschuldet durch den allgemeinen ökonomischen Zustand, der bis jetzt herrschte, vor allem durch die bestehenden Formen des Warenabsatzes und durch die Landwirtschaft. Unter der n.e.p. nahm der private Handel während einer Anzahl von Jahren einen ansehnlichen Platz im Handel des Landes ein. Der private Handel wurde sowohl in Hinsicht auf seinen „inneren“ Warenumsatz als auch dort, wo er in Kontakt mit dem sozialistischen Handel kam, durch die elementaren Gesetze des Marktes beherrscht. Die elementaren Faktoren des Geld- und Warenumsatzes spielten keine geringe Rolle im Wirtschaftsleben des Landes.“
Der Inhalt des neuen Gesetzes
Das neue Gesetz zur Reform des Kreditwesens soll eine gründliche Veränderung in der Form der Distribution der Güter zustande bringen, indem das Kreditwesen rationalisiert und eine planmäßige Kreditbeschaffung dadurch ermöglicht werden soll. Als wichtige Maßregeln hierfür gelten:
1. Staatsbetriebe und genossenschaftliche Einrichtungen dürfen nur bei der Staatsbank Kredite aufnehmen.
2. Staatsbetriebe und genossenschaftliche Einrichtungen dürfen einander nichts mehr auf Kredit liefern. Sie müssen direkt in vorhandenem „Geld“ bezahlen. Der Wechsel wird abgeschafft.
3. Der Wechsel wird ersetzt durch einen Kredit auf die Staatsbank. Wer Waren kaufen muss, kann dafür einen Kredit von der Staatsbank bekommen und nicht mehr von den Verkäufern so wie früher. (Weiter soll das neue Gesetz die Grundlage dafür legen, dass die Staatsbank zum zentralen Girokontor wird, welches die gesamte Güterbewegung in der Sowjetunion registriert. Wir lassen diesen Punkt aber im Augenblick ruhen.)
Wie es wuchs
Der neue Zustand, wie er jetzt durchgeführt werden muss, ist nach Aussicht des genannten Blattes der Staatsbank im praktischen Leben bereits vorgebildet. In Wirklichkeit wird durch das neue Gesetz ein Zustand verallgemeinert, der in dem Verkehr zwischen den Staatsbetrieben bereits ziemlich allgemeine Gültigkeit hatte, während die Maßregeln jetzt für „bindend“ erklärt werden, um den chaotischen Zustand aufzuheben und die Form der Distribution zu normalisieren. Das Wachsen des neuen Zustandes bedeutet in Wirklichkeit (wenigstens nach der State Bank of the u.s.s.r.), dass der Markt im Laufe der Jahre stets mehr ausgeschaltet wurde, indem die Genossenschaften, im wahren Sinne des Wortes, angekuppelt wurden. Anstelle des Marktes traten die direkten Lieferkontrakte der Genossenschaften mit den Betrieben.
„Der Handelskredit war ein Hilfsmittel für die Industrie in den ersten Jahren der n.e.p., um die Verfügung über die produzierten Güter zu erleichtern. Doch Schritt für Schritt zog sich das System der Handelsbeziehungen, das auf der Grundlage der kapitalistischen Praxis aufgebaut war, vor dem Vorwärtsdringen der planmäßigen Distribution der Waren zurück. Das allgemeine Kontraktsystem zwischen den Industrien und den Genossenschaften bestritten bald vollkommen die Distribution der verfertigten Konsumtionsgüter und hoben die Notwendigkeit der Beschaffung von Waren auf Kredit als Mittel, sie dem Verbraucher zuzubringen, auf. Die Verkäufe und der Verbrauchermarkt wurden befreit von den Faktoren und Stimmungen, die die Marktfluktuationen zum Vorschein bringen. Das hob seinerseits die Notwendigkeit der fortwährenden Anpassung an die veränderten Stimmungen des Marktes auf. Der Plan nahm den Platz der Handelskredite als Regulator der Güterdistribution ein.“
Die Preislinien in Russland
Trotz alledem müssen wir am Ende feststellen, dass die Russen auf dem Gebiet der Ökonomie eine außergewöhnlich reiche Phantasie besitzen, denn diese Anschauungen werden keineswegs durch die Praxis gestützt. Wenn man den Verlauf der Warenpreise (Klein- und Großhandelspreise) in Russland nachgeht, kommt man zu dem Schluss, dass die Preisschwankungen bei der „planmäßigen“ Produktion sicher nicht geringer sind als zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika, die es ohne Plan machen und vollkommen auf den Markt angewiesen sind. Ehrlich gesagt hätten wir nichts anderes erwartet, weil die berühmten „Faktoren und Stimmungen“, die Marktfluktuationen zum Vorschein rufen, nur eine der Ausdrucksform der Akkumulation des Kapitals sind. Sie finden ihre Ursache in der Produktion um den Profit. Auch die beste Organisation des Kreditwesens kann daran nichts verändern.
Aber dergleichen Überlegungen haben für diejenigen, die der marxistischen Werttheorie mit Misstrauen begegnen, wenig Wert, so dass wir die Praxis sprechen lassen wollen. Darum haben wir eine kleine Grafik vom Verlauf der Warenpreise in Russland zusammengestellt, die die durchschnittlichen Preise per Jahr wiedergibt (siehe Grafik).
Bis 1926 sehen wir sowohl für den Großhandel als auch für den Kleinhandel eine schnelle Steigerung der Preise. Dann tritt plötzlich eine große Preissenkung ein, die durch das Ausbrechen einer ökonomischen Krise verursacht wird. (die Zahl der Arbeitslosen stieg auf 2,1 Millionen, die Überbevölkerung auf dem Lande nicht gerechnet (nach den Angaben des Instituts für Konjunkturforschung in Moskau, siehe Seite 176, „Planwirtschaftliche Versuche“).
Ebenso wie in allen jung-kapitalistischen Ländern wurde die Krise schnell überwunden und eine neue Produktionsperiode setzte ein, die aber auch wieder mit einer andauernden Steigerung der Warenpreise gepaart ging.
Wenn nun auch vielleicht das Anziehen der Preise während der Periode bis 1926 keine Verwunderung erregen mag, weil der private Handel damals noch so einflussreich war und die „elementaren Faktoren des Geld- und Warenumsatzes keine geringe Rolle im Wirtschaftsleben des Landes“ spielten. Für die Periode bis 1930 aber fallen diese Hindernisse größtenteils weg. Der private Handel wurde zurückgedrängt, sodass er nahezu ganz auf Staats- oder Semi-Staatsorgane überging, während der freie Markt weichen musste vor der direkten Ankoppelung der Genossenschaften an die Industrie.
Die Preislinien, die Geltung haben für die „planmäßige“ Periode, haben sich an alledem absolut nicht gestört. Die Verdrängung des privaten Handels und der Produktion nach Lieferungskontrakten konnte selbst nicht verhindern, dass das letzte Quartal von 1929 eine scharfe Steigerung der Kleinhandelspreise zeigt, während die Großhandelspreise in diesem Quartal nur wenig anzogen (das Letztere kommt durch den geringen Unterschied nicht in unserer Grafik zum Ausdruck).
Nach der Einführung des neuen Gesetzes
Die Frage ist nun, ob mit der Organisation des Kreditwesens nicht auch eine Veränderung zum Guten eintreten werde. Wir sagen: Nein.
Die Erscheinungen der Preisvariationen finden ihren Grund nicht in einer schlechten Organisation des Kredits oder dem Bestehen oder auch Nichtbestehen einer planmäßigen Produktion, sondern in der Akkumulation des Kapitals. Weil die Produktionsmittel und die Arbeitskraft in Russland im Kapitalverhältnis erscheinen, bewegt das Wirtschaftsleben sich in sogenannten Konjunkturperioden, das heißt, es geht von einer Krisis zur anderen. Das Ende einer Akkumulationsperiode wird abgeschlossen von einer Krise, um nachdem wieder eine neue Akkumulationsperiode zu beginnen.
Die Preislinien in unserer Grafik lassen uns ernsthaft vermuten, dass Russland wieder dicht vor einer Krise steht. Das neu durchzuführende Gesetz über die Kreditbeschaffung kann hier schließlich als hemmender Faktor auftreten, weil die so genannten „Zirkulationskosten“ merkbar erniedrigt werden und die Betriebe über größere Kapitalien Verfügung bekommen. Dieser Umstand kann die Krise noch etwas hinausschieben.
(Die Zitate in diesem Artikel sind entnommen aus Economic survey of the State Bank of the u.s.s.r. vom 1. März 1930. Die Zahlen für die Preislinie aus der Ausgabe vom 31. Januar 1930.)
Redaktionelle Anmerkungen
*) Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion, 1917-1927 / Friedrich Pollock. – Leipzig : C.L. Hirschfeld, 1929 (PDF-Datei).
Compiled by Vico, 17 August 2021
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