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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?


Gegen den Massenstreik


Quelle:  Gegen den Massenstreiks / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 336, 18. Juli 1914.


Daß die politische Situation sich in Deutschland verschärft, dafür ist der neueste Versuch, gegen die Genossin Luxemburg und eine Anzahl Berliner Genossen Anlage wegen der Berliner Massenstreikresolution zu erheben, ein bezeichnendes Symptom. So hahnebuchen die Argumentation ist, so daß man zunächst an einen Scherz glauben möchte, si ist der Versuch selbst doch als politische Erscheinung durchaus ernst zu nehmen. Solche Dinge werden nicht mit dem Maße der Logik, sondern des politischen Bedürfnisses gemessen; logisch hatten die Attentate von 1878 auch nichts mit der Sozialdemokratie zu tun, aber Bismarcks Politik brauchte ein Ausnahmegesetz. Die Tatsache, daß man von oben gegen den Massenstreik vorgehen will, beweist, daß der Gedanke des Massenstreiks jetzt anfängt, die regierenden Gewalten ernsthaft zu beunruhigen.

Dennoch kann man nicht behaupten, daß in der Haltung des Proletariats Anlaß zu dieser Unruhe liegt. Seit 1905, dem ersten Jenaer Parteitag, haben die deutschen Arbeiter wiederholt erklärt, daß sie den Massenstreik als eine notwendige und unentbehrliche Waffe in den kommenden großen Kämpfen betrachten; eine andere Not als in den Beschlüssen von Jena I und Magdeburg klingt auch in der Berliner Resolution nicht hervor. Weshalb fühlt die regierende Kaste sich denn jetzt auf einmal so beunruhigt? Das macht ihr böses Gewissen. Sie weiß, daß der von ihr vorbereitete und in die Wege geleitete Raub und Koalitions- und Streikrechts die Arbeiterklasse zu einem verzweifelten Widerstand aufrütteln muß. Zwar fühlt sie sich stark, mittels der gewaltigen Machtsmittel des Staates jeden Versuch des gewaltsamen Widerstandes in Blut zu ersticken. Aber dann klingt ihr auf einmal wie eine unheimliche Drohung das Wort Massenstreik in Ohr: Wenn sie an die ungeheuren Wirkungen des Massenstreiks in den Nachbarländern denkt und an die riesige Organisation der deutschen Arbeiter, die hier einen Massenstreik zu einer noch größeren gestellschaftlichen Erschütterung machen muß – dann fühlt sie, daß das Proletariat noch eine Waffe besitzt, deren Kraft sie zwar nicht scharf erkennen kann, die aber deshalb nur um so unheimlicher erscheint, und gegen die sie machtlos ist. Aber ist sie wirklich machtlos? Hat sie nicht Polizei und Gerichte? Daher das läppische Bestreben, die Wortführer des Massenstreiks hinter Schloß und Riegel zu sperren.

Das Proletariat wird den Versuch, die Revolution polizeilich zu verbieten, mit heiterer Ruhe aufnehmen. Auch wenn irgend ein Gesetz gegen den Massenstreik ausgebrütet werden sollte – wie so ein Ding auch beschaffen sein mag – könnte es nichts an der vorhandenen Sachlage ändern. Es wurde nur unsere Erkenntnis der Formen und Bedingungen, die für den Ausbruch solcher Kämpfe in Deutschland maßgebend sind, noch etwas schärfer unterstreichen.

Es ist schon oft darauf hingewiesen, daß die hochentwickelte Organisation des deutschen Proletariats den Massenstreik ihre besondere Form und ihren Charakter geben wird. Daraus wird oft gefolgert, daß ein politischer Streik hier nur als Beschluß der Partei- und Gewerkschaftsinstanzen möglich ist, die im voraus alle Umstände gehörig abwächen, die vorhandenen Fonds berechnen und danach ihre Beschlusse fassen. So wie es Genosse Leinert auf dem Magdeburger Parteitage ausdrückte: „Wann der Massenstreik begonnen werden soll, das bestimmen die Leiter der Organisationen, das wissen der Parteivorstand und die Generalkommission […]“ Es ist auch nur allzu natürlich, daß in manchen Gewerkschaftsleiter, dessen ganze Praxis sich mit Organisation und Organisationsbeschlüssen befast, die Auffassung leben muß, daß große Kämpfe nur als nüchtern-klug erwogene Feldzüge erfahrener Führer gemacht werden können, die die Massen nach irgend einer höheren Strategie dirigieren. Wäre diese Auffassung richtig, dann wäre es in der Tat eine kluger Schachzug der Regierung, wenn sie durch das Strafbarstellen einer solchen Vorbereitung den Ganzen Massenstreik zu verhindern suchte. Daß ihr in Wirklichkeit ein solches Gesetz nichts helfen würde, zeigt eine nähere Betrachtung der Voraussetzungen eines Massenstreiks.

Ein Massenstreik, ruhig vorbereitet, unter voller Berücksichtigung und mit allen Hilfsmitteln gewerkschaftlicher Kampfmethoden von den Arbeitern in einmütiger Disziplin durchgeführt, ist sicher denkbar und hat in anderen Ländern auch schon wiederholt stattgefunden. Aber dabei haben sich and die Grenzen seiner Macht gezeigt. Daß der Massenstreik nicht ein einfaches mechanisches Mittel ist, Bourgeoisie und Regierung auf die Knie zu zwingen, hat vor allem der große Kampf in Schweden 1908 gezeigt. Trotzdem die Arbeiter energisch und geschlossen in den Streik traten, hielt die bürgerliche Gesellschaft ruhig aus; die Zeitungen erschienen, die Straßenbahnen und Droschken fuhren, die Gasversorgung erlitt keinen Abbruch, alles, weil aus der besitzenden Klasse selbst, aus Kleinbürgertum und Angestellten, genügend Freiwillige sich anboten; nur Frachtverkehr und Industrie ruhten, wodurch von selbst der Eisenbahnverkehr eingeschränkt wurde. Die Bourgeoisie stand geschlossen and der Seite der Unternehmer, und nach fünf schweren Wochen mußten die Arbeiter den Kampf erfolglos abbrechen, ohne daß die Regierung mit militärischer Gewalt einzugreifen brauchte. Es war ein reiner Gewerkschaftskampf – zur Abwehr der Aussperrungstaktik des Unternehmertums – in einem ökonomisch erst schwach entwickeltem Lande; weil keine revolutionäre Situation vorhanden war, die starke Leidenschaften in der ganzen Bevölkerung auslösen könnte, empfangen die anderen Schichten den Streik bloß als eine empörende Belästigung.

Auch eine Flinte ist eine Waffe und mit Flinten sind Regierungen gestürzt und Revolutionen gemacht. Aber nicht mit ihnen allein; die Waffe in der Hand des Volkes genügt nicht, sie ist ein toter Mechanismus und war oft machtlos. Was ihr Kraft verleiht, ist der gesteigerte Wille, das Machtgefühl der Massen und ihre revolutionäre Energie. So steht es auch mit der Waffe der Massenstreiks. Was ihm im richtigen Augenblick Erfolg gibt, ist die Stimmung und die Kraft des Menschen, die die Massen führen – die Erbitterung, der gehobene Mut, der keine Gefahren achtet, die Begeisterung und die Enschlossenheit, die zu jedem Opfer bereit sind, die gespannte elektrische Atmosphäre, die die geistigen und seelischen Kräfte des Einzelnen verhundertfacht, ihn über die Kleinheit des Alltags emporhebt und die Gleichgültigen mitreißt, das Gefühl, daß große Dinge geschehen werden. Das ist es, was man zusammen eine „revolutionäre Situation“ nennt. Ist eine solche Situation durch vorhergehende Ereignisse oder Aktionen entstanden, und bricht dann ein Massenstreik aus, dann erst kann die Frage eintreten, daß die Autorität der herrschenden Gewalt so stark erschüttert wird, daß Nachgeben in dem Streitpunkt, der Anlaß des Kampfes war, ihr als bester oder einziger Ausweg erscheint.

In Deutschland würde, durch die scharfe Zuspitzung der Klassengegensätze, derselbe politische Streik, der in anderen Ländern als einfache Kampf um eine Reform geführt wurde, rasch zu einer revolutionären Situation fuhren – das ist der Sinn des Satzes, daß in Deutschland der Massenstreik die Revolution bedeute, des Satzes, der so oft im Sinne eines großen kunftigen Kladderadatsches misverstanden wird. Daher würde ihm die herrschende Klasse sofort mit der größten Schärfe entgegentreten; deshalb ist er hier in der ruhigen Weise wie in Belgien und Schweden nicht möglich – auch ohne ein spezielles Gesetz würde die Regierung um Mittel zum Einscheiten nicht verlegen sein. Und gerade deshalb ist der Massenstreik hier nur als höchste Steigerung einer Aktion möglich, die die Massen schon stark in Bewegung brachte. Ob er dann durch einen Beschluß von Kongressen oder führenden Körperschaften herbeigeführt wird, die dann einfach unter dem Druck der Massenbewegung handeln, oder ob die Massen, z.B. durch eine blutige Unterdrückungstat der Regierung aufgepeitscht, gruppenweise spontan beschließen und losbrechen, wird von den Verhältnissen abhängen. Aber jedenfalls haben irgend welche neue Gesetze darauf nicht den geringsten Einfluß. Denn auch jetzt weiß jedermann, daß die herrschende Klasse mit allen ihr gut dünkenden Gewaltsmitteln gegen die Führer und Teilnehmer der Bewegung vorgehen wird. Und so wenig die vorhandenen Strafbestimmungen gegen die großen Ausbrüche revolutionären Klassenkampfes vermögen, so wenig werden neu zu schaffende Gesetze diesen Gang der Entwicklung aufhalten können.


Compiled by Vico, 15 January 2021