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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?


Massenstreikdrohung und Massenstreikabsage / Anton Pannekoek, 1913


Quelle:  Massenstreikdrohung und Massenstreikabsage / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 268, 29. März 1913


Die Massenstreik ist die Kampfmethode des Proletariats, die seinem gesellschaftlichen Wesen am meisten angepaßt ist, die nur von ihm angewandt werden kann, in der die wesentlichen Elemente der proletarischen Kraft zum Ausdruck kommen, und die daher in der Eroberung der politischen Herrschaft eine äußerst wichtige Rolle spielen wird. Sie ist bisher nur erst einige Male mit mehr oder weniger Erfolg angewandt worden; daher gibt es kaum etwas Wichtigeres für die Arbeiter, als jede neue Erfahrung auf diesem Gebiete zu studieren und zu sehen, was sich aus ihr in bezug auf Aussichten, Vorbedingungen und Einzelheiten der Methode ableiten läßt.

Zwei Länder sollten in diesem Frühjahr der Schauplatz eines solchen Kampfes sein: Belgien und Ungarn; in beiden sollte der Massenstreik als Waffe in den Kampf für das allgemeine gleiche Wahlrecht dienen. In dem agrarischen Ungarn kämpft ein noch schwaches Proletariat, das sich erst in den Anfängen der Organisation und des politischen Bewußtwerdens befindet, einen heroischen Kampf gegen ein verrottetes, adliges Cliquenregiment, das durch ein unhaltbares Privilegienwahlrecht sein Herrschaft über die anderen Völker und Klassen aufrecht zu erhalten sucht. Im vorigen Jahre fanden schon scharfe und blutige Kämpfe statt, und weite Klassen der Bevölkerung, sogar ein Teil des niederen Adels, der die Opposition im Parlament bildet, treten, wenn auch nicht für das demokratische Wahlrecht, das die Arbeiter wünschen, so doch für eine Änderung des Wahlrechts ein. In dem großindustriellen Belgien war es die Wahlniederlage vom vorigen Jahre, die den Arbeitern einpaukte, daß nicht ein Wahlkartell mit den Liberalen, sondern nur die Wiederaufnahme des Wahlrechtskampfes ihnen die Erfülling ihrer sozialen Forderungen bringen könnte. Auf dem Kongreß der Arbeiterpartei wurde daher beschlossen, sich dafür zu rüsten und einen Massenstreik zur Eroberung des gleichen Wahlrechts vorzubereiten, dessen Datum nachher auf den 14. April, den Tag des Zusammentretens des Parlaments, festrgesetzt wurde.

Das besondere in diesem belgischen Wahlrechtsstreit lag in der langen, planmäßigen Vorbereitung. Gerade damit wurde der Beschluß auf dem Kongreß begrundet: Gegenüber dem Drängen der wallonischen Arbeiter, sofort loszuschlagen, wurde gesagt: wir sind jetzt noch nicht stark genug, also müssen wir zuerst rüsten. Worin soll das Rüsten bestehen? Der Massenstreik ist, wie hier kurz nach den belgischen Wahlen in einem Artikel „Die belgischen Lehren“ hervorgehoben wurde, ebenso wenig eind Wundermittel wie der Stimmzettel; er kann die volle Wucht der proletarischen Macht wirken lassen, wie keine andere Methode, aber er kann einen Mangel an wirklicher Macht nicht ersetzen. Die wirkliche Macht des Proletariats, namentlich die gewerkschaftliche Organisation und die politische Einsicht heben, darin muß das wirkliche Rüsten bestehen; aber das ist ein Prozeß von Jahren. Auf dem Kongreß wurde etwas anderes mit dem Rüsten gemeint: die technische Vorbereitung, in der Weise, daß eine kräftige Agitation entfaltet wird, und daß die Arbeiter sparen und sich Vorräte sammeln, um in der Streikzeit keine Not zu leiden. Nun bildete bekanntlich die Frage einer solchen technischen Vorbereitung einen Hauptpunkt der früheren internationalen und deutschen Parteitagsdiskussionen, und mit ihr beschäftigte sich die Opposition der Massenstreikgegner am meisten. Das schöne Bild eines revolutionären Massenstreits, das Jack London einmal ausmalte, wo die Arbeiter mit ihren gefüllten Speisekammern gemütlich streiten und die Kapitalisten, die für Geld nichts kriegen konnten, Strauchdiebe werden müssen, wird wohl bei keinem als das Bild einer möglichen Realität gelten. Ein politscher Massenstreik kann sich nicht durch viele Wochen hindurch verschleppen; meist bricht er aus irgend einem Anlaß bei einer gewaltigen Spannung der Erregung aus, und wenige Tage entscheiden über den Erfolg. Soviele Tagen wird der Mangel auszuhalten sein, und er bildet nicht die schlimmen Gefahr in Zeiten scharfer Klassenkonflikte. Man darf also annehmen, daß aus einer Vorbereitung in dem Sinne der Vorratssammlung – nicht die sonst fehlende Kraft eines Massenstreiks stammen kann. Immerhin verdient der belgische Kampf die größte Aufmerksamkeit als Experiment, das erkennen lassen kann, in welcher Hinsicht die planmäßige Vorbereitung die Kraft des Streiks stärken kann, oder ob dies dadurch wettgemacht wird, daß die Regierung sich gleichfalls vorbereitet und rüstet.

Das erste Resultat der beiden Massenstreikdrohungen war im hohen Maße enttäuschend. In Belgien ein Zuruckweichen von wertlosen Vermittlungen, das durch den Osterkongreß wieder rückgängig gemacht werden mußste – was der inneren Kraft der Bewegung natürlich nicht zum Vorteil gereichte. Und in Ungarn sogar ein völliges Fiasko: gegenüber den Vorbereitungen der Regierung, die die Bewegung mit blutiger Gewalt niederzuschlagen drohte, gab die Parteileitung den geplanten Massenstreik auf, als die parlamentarische Opposition, auf deren Hilfe sie gerechnet hatte, völlig versagte und die Arbeiter im letzten Augenblicke im Stich ließ. Der Grund dieser Massenstreikablage war in beiden Fällen genau derselbe; bei beiden tritt, in Ungarn offen und jedem sichtbar, in Begien leicht unter der Oberfläche erkennbar, dieselbe gemeinsame Schwäche der Bewegung hervor: das Bündnis mit der bürgerlichen Opposition. Wenn diese Bundesgenossen, oder die Rücksicht auf sie, die Taktik bestimmen, ist die Angriffskraft des Massensteiks gelämt. Denn der Massenstreik ist eine spezifisch proletarische Waffe, die auch den fortschittlichsten Bürgerlichen nicht recht geheuer ist, und die sie daher am liebsten hintertreiben möchten.

Soll deas bedeuten, daß wir in dem Wahlrechtskampfe nicht mit Teilen der bürgerlichen Klasse zusammenarbeiten sollen, und daß ihre Stellung völlig bedeutungslos ist? Nicht mit Unrecht ist oft darauf hingewiesen worden, daß in den beiden großen erfolgreichen politischen Streikbewegungen, in Belgien 1893 und in Rußland 1905, breite bürgerliche Schichten mit dem Massenstreik sympathisierten. In diesen großen Grundfragen bildet die herrschende Klasse mit ihrem Anhang nie eine geschlossene reaktionäre Masse; sie zerfallt immer in zwei Richtungen, deren eine das Proletariat gewaltsam niederwerfen, die andere es mit Konzessionen, am liebsten Scheinkonzessionen, entwaffnen, einlullen und schw"chen will. Obgleich Bürgerliche der letzten Art also oft für dieselbe Forderungen kämpfen wie die Arbeiter, so taugen sie doch nicht als Bundesgenossen für uns; denn während unsere Taktik in diesem kampfe darauf gerichtet ist, die Kraft und die Macht des Proletariats zu steugern, müssen sie Kampfmethoden befürworten, die das Selbstvertrauen der Arbeiter lähmen und ihre Kraft schwächen. Und da der Massenstreik gerade den stärksten Ausdruck des Selbstvertrauens und der Selbsthilfe der Arbeiter bildet, die ganze bürgerliche Ordnung antastet und der Klassengegensatz verschärft, je werden sie ihn möglichst zu hintertreiben suchen – es sei denn im äußersten Notfalle, um eine allzu starrsinnige und unhaltbare Regierung zur Räson zu bringen, wobei dann sofort nach Erreichung des Zieles ihre erste Sorge ist, den Übermut der Arbeiter wieder einzudämmen. Ihre politiker werden den Führer der Arbeiterbewegung, ihren Freunden, klarzumachen suchen, daß durch einen Massenstreik die gemeinsame Sache nur gteschädigt, die Sympathie weiter Kreise nur verscherzt werden kann, und daß man mit honig meht Fliegen fängt dals mit Essig. Und so werden die Führer hin- und herschwanken, zwischen der Rücksicht auf diese politischen Freunde und der Rücksicht auf die Massen, die zum Kampfe drängen.

Die bürgerlichen Wahlrechtsfreunde, die den scharfen Zusammenstoß der Klassen durch Vermittlung abzuwenden suchen, sins uns am nützlichsten, wenn sie auf der Anderen Seite auf die Regierung einwirken und die bestizenden Klasse spalten und unsicher machen. Sie schaden uns, wenn sie zuerst in der Armee des Angriffs mitmarchieren, mitreden, und diese dann spalten und unsicher machen. Sie schwächen immer die Seite, wo sie zuerst stehen. Wenn eine Wahlrechtsbewegung siegreich vordringt, so zeigt sich das darin, daß Teile der Bourgeoisie sich ihr anschließen und de Geschlossenheit des Widerstandes brechen. Wenn umgekeht ein festes politisches Bundnis zwischen der bürgerlichen Opposition und dem Proletariat entsteht, kann es die Kraft der Bewegung nur verderben, und läuft die frohe Kampfansage, wie es in Ungarn der Fall war und in Belgien einen Augenblick drohte, in einen bösen Rückzug aus.

Die dummdreiste Hinterlist der Regierung ist so wenig wie die Vermittlungsversuche der Liberalen imstande gewesen, die belgischen Arbeiter von dem Kampfe zurückzuhalten. Natürlich können sie sich nicht der Illusion hingeben, mit einem Schlage Alles zu erreichen; aber zweifellos bedeutet der Streik am 14. April die Eröffnung einer kräftigen Kampfperiode, der erste Schritt auf einem neuen Wege, der das belgische Proletariat zu immer größerer Macht und zur Erreichnung seines Kampfzieles führen wird.


Compiled by Vico, 4 September 2020