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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?


Die Schwierigkeiten des Massenstreiks


Quelle:  Die Schwierigkeiten des Massenstreiks / A[nton] P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 289, 23. August 1913


Die modernen Arbeiterbewegung unterscheidet sich von früheren sozialen Bewegungen dadurch, daß sie in viel höherem Maße klarheit über ihr eigenes Wesen, über Ursache und Ziel ihres Kampfes besitzt. Die Menschen werden immer instinktiv durch gewaltige soziale Kräfte, die aus der wirtschaftliche Entwicklung aufwachen, bewegt und zum Handeln getrieben, – das gilt für uns genau so wie für frühere Geschlechter. Aber während wir diese mächtigen Wirkungen mit Herz und Seele erleiden und ihnen mit Willen und Tat folgen müssen, begreifen wir sie zugleich mit unserem Kopfe. In den Sozialdemokratie, in ihrer Theorie und ihrer Taktik ist dieses Selbstbewußtsein der Arbeiterbewegung verwirklicht. Die großen Zusammenstöße der Klassen kommen ihr nicht unerwartet, wie vom Himmel gefallene Katastrophen, sondern die Sozialdemokratie sieht sie voraus; ihre Aufgabe ist es, die Bedingungen und Umstände dieser Kämpfe so vie; wie möglich im voraus zu erkennen und die Massen darauf vorzubereiten. Daher kann sie sich auch nicht mit dem allgemeinen Erkenntnis zufrieden geben, daß Massenstreiks einmal als gewaltige Konflikte zwischen Kapital und Arbeit losbrechen werden, sondern sie muß sich der Schwierigkeiten und der Gefahren, die diese Konflikte mit sich bringen, möglichst klar bewußt werden.

In der Regel wurden diese Schwierigkeiten und Gefahren vor allem von der Gegnern des Massenstreiks hervorgehoben. Der ausgesprochene oder unausgesprochenen Sinn dieses Hinweises war dann, daß man vorerst, oder auf lange Zeit, oder überhaupt nicht an Massenstreiks denken dürfe. Natürlich ist dieser Schluß falsch; fur eine Arbeiterbewegung, die sich gegen eine Übermacht von Feinden emporkämpfen muß, können weder Schwierigkeiten noch Gefahren einen Grund bieten, vom Kampfe zu lassen, – ganz abgesehen davon, daß diese Kämpfe doch kommen, weil sie notwendig und unvermeidlich sind. Deshalb kann es uns gar nicht einfallen, den Gegnern des Massenstreiks gegenüber die Schwierigkeiten zu verneinen und die Gefahren zu leugnen, als bedürfe es nur der kühnen Tat, um auf einmal alle Gespenster und Sorgen zu beseitigingen. Im Gegenteil, es muß unseren Aufgabe sein, das, was in diesen Warnungen begründet ist, hervorzuheben und zu prüfen damit sie auf das richtige Maß zurückgeführt werden. Dann wird sich zugleich herausstellen, in welcher Weise die Praxis, die kühne Tat, die Schwierigkeiten löst: nicht mit einem Schlag, sondern durch den Prozeß des Werdens.

Die Einwände, die gegen den Massenstreik erhoben werden, lassen sich in zwei Worten zusammenfassen: wir sind zu schwach, und der Feind ist zu stark. Das erste macht die Sache schwierig, das zweite macht sie gefährlich. Lassen wir den letzten Einwand, der das ganze Wesen des Kampfes zwischen den Machtmitteln des Staates und der Organisation des Proletariats berührt, vorerst beiseite und behandeln wir zunächts den ersten. Unsere Partei hat erst ein Drittel aller Wähler hinter sich, und die gewerkschaftlichen Organisationen umfassen noch gar nicht die Hälfte aller Lohnarbeiter; daneben sind viele Arbeiter in gegnerischen Verbänden, in christlichen oder gelben Vereinen organisiert, und diese werden alles tun, unsere Aktionen zu verhindern. Von einer Stillsetzung alles gesellschaftlichen Lebens kann unter solchen Umständen keine Rede sein. Das ist alles richtig: es bedeutet aber nicht, daß Massenstreiks überhaupt unmöglich sind, sondern nur, daß die Idee eines Massenstreiks, der, wenn er einmal losbricht, auf einmal wie ein Lauffeuer das ganze Proletariaat mitreitzt und die ganze kapitalistische Herrschaft in einem einzigen Ringen auf Leben und Tot niederwirft, eine unhaltbare Phantasie ist. Es bedeutet nicht, daß der Gedanke an einen Massenstreik als unausführbar überhaupt aufzuzeigen ist, sondern stellt erst die Frage, wie die Praxis des Massenstreiks im Prozeß der Entwicklung diese Hemmnisse beseitigen wird.

Zunächst ist da zu bemerken, daß es gar nicht nötig ist, daß das ganze gesellschaftliche Leben still liegt. Bei dem Massenstreik handelt es sich um eine politische Demonstration, die einen Druck auf die herrschende Klasse ausüben will, einen Druck, der je nachdem von einer sanften Mahnung bis zu dem „Knie auf die Brust“ gehen kann. Eine Arbeitsniederlegung, auch nur von 2 Millionen organisierter oder rot wählender Arbeiter würde, trotzdem nicht alles stillgelegt wird, doch schon eine gewaltige demonstrative Bedeutung haben. Will man einwenden, daß die Reichstagswahl schon eine solche Demonstration viel größerer Massen bildet, und doch nicht viel gewirkt hat, so ist zu erwidern, daß in einer Streikdemonstration eine viel größere Energie des Willens und der Kampfbereitschaft zutage tritt, als in dem meist völligt gefahrlosen Einstecken eines Zettels, das nur eine Gesinnung demonstriert. Einem solchem Demonstrationsstreik, der in geeigneten Momenten von der Partei zu veranstalten ist, steht keine Schwierigkeit im Wege.

Aber er bereitet zugleich durch seine Einwirkung auf die übrigen Arbeiter größere und kräftigere Aktionen vor. Genossin Luxemburg und andere haben wiederholt auf die Bedeutung der unorganisierten Massen bei den künftigen Massenaktionen hingewiesen, und dazu die Beispiele aus der russischen Revolution und aus amerikanischen Arbeiterkämpfen herangezogen. Das bedeutet nicht, daß wir das russische Muster einfach auf Deutschland übertragen; wir wissen ganz gut, daß der große Unterschied darin besteht, daß in Rußland die Massen den Kampf ohne vorhergebende Organisation führen mußten, während hier in Deutschland eine große Organisationsmacht, eine millionenköpfige Armee von Männern, die die Organisation als eine feste unerschütterliche Kraft in sich aufgenommen haben, bereit steht und den Kern aller Aktion bilden wird. Aber es bedeutet, daß dieser Kern nicht allein bleiben wird; er wird viel größere Massen mit sich reißen und um sich scharen. Diese Massen sind nicht unorganisiert, weil sie zufrieden oder gleichgültig sind, sondern weil ihnen die zähe Kraft fehlt, unter den heutigen Verhältnissen ihre Organisationen aufzubauen. Genosse Adolf Braun hat auch schon darauf hingewiesen, daß verschiedene Umstände, wie die Armut, oder die unangreifbare Macht des Großkapitals, das sie ausbeutet, es geraden den gedrücktesten Arbeitern schwer macht, sich zu organisieren. Wenn aber große Aktionen, die vom organisierten Kern des Proletariats beschlossen sind, die ganze Gesellschaft aufrütteln, dan werden sie diese Möglichkeit des Kampfes ergreifen; ihr Haß und ihr Groll wird sich Luft machen, wenn die Möglichkeit auftaucht, die Kapitalsmacht zu erschüttern, und soweit man nach ausländischen Beispielen urteilen darf, werden sie an Ausdauer und Solidarität kaum bei den Organisierten zurückstehen. Indem sie rascher oder langsamer sich am Kampfe beteiligen, werden die Aktionen eine viel größere Stoßkraft bekommen.

Das gilt auch für die gegnerisch organisierten Arbeiter. Man kann nicht einfach einen scharfen Strich zwischen sie und die Mitglieder der freien Gewerkschaften ziehen, in dem Sinne, daß dort nur kalter Egoismus, Verrat und bürgerliche Gesinnung, hier nur erhabener Idealismus und Selbstlosigkeit herrschen sollen. In der Atmosphäre der heutigen gleichbleibenden Verhältnisse, wo nicht durch große revolutionäre Kämpfe, die die ganze Gesellschaft aufrütteln, wichtige Entscheidungen fallen, beherrscht das Streben nach kleinen Vorteilen alle Aufmerksamkeit. Da treten Druck und Gunst der Unternehmermacht, so lange diese unantastbar erscheint, den Einzelnen oft als eine stärkere Macht gegenüber als die Arbeitersolidarität; und bisweilen haben sogar Genossen, deren Gesinnung unverdächtig war, dem Drucke nachgeben müssen, der sie in gelbe Vereine zu pressen suchte. Gegen die möglichkeit des Massenstreiks ist wiederholt als Argument die letzte Bergarbeiterbewegung angeführt worden; wenn die christlichen Arbeiter nicht einmal für ein so greifbares unmittelbares Interesse zum Streik bereit waren, so werden sie noch viel weniger in einem Kampf für abstrakte politische Rechte mittun wollen. Aber diese Logik stimmt nicht. Gerade umgekehrt: wenn es sich nur um einen unmittelbaren Vorteil handelt, wird die platteste egoistische Berechnung den Ausschlag geben; und für die christlichen Bergarbeiter ist zweigellos bei ihrem Verrat neben Furcht vor den Maschinengewehren maßgebend gewesen, daß sie als Belohnung seitens der Grubenherren mehr erhofften, als sie von einem gemeinsamen Kampf erwarteten. Wird aber ein Kampf geführt, bei dem es sich um größere Dinge handelt, um mehr Rechte, mehr Freiheit, um einen Kampf gegen das ganze System der polizeilichen und kapitalistischen Unterdrückung, dann wird auch in diesen Sklaven des Kapitals etwas lebendig, das sie uber den platten Alltagsegoismus erhebt. In revolutionären Zeiten springen neue Kräfte der Solidarität, der Selbstaufopferung, des Idealismus empor, die sonst nich zur Entwicklung kommen. Dann fallen die meisten, in den berechnenden Egoismus unrevolutionärer Zeiten wurzelnden Gegensätze hin weg, die jetzt in den Organisationen eine so wichtige Rolle spielen. Der Fehler der sogenannten Praktiker besteht meist darin, daß sie ohne weitere Gedanken die Praxis von heute auf anders geartete Verhältnisse übertragen.

Natürlich tritt diese Teilnahme nicht auf einmal ein, sondern erst nach und nach, je mehr die bürgerliche Gesellschaft durch die proletarischen Aktionen erschüttert wird. Während also die ersten Aktionen der Charakter von Teilaktionen, von einfachen Demonstrationen tragen, werden die späteren immer mehr die ganze proletarische Masse sammeln und damit viel gewaltigere Wirkungen erzielen.


Compiled by Vico, 29 October 2020, finished 30 January 2021