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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?


Die Notwendigkeit des Massenstreiks / Anton Pannekoek, 1913


Quelle:  Die Notwendigkeit des Massenstreiks / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 286, 2. August 1913


Seit einiger Zeit beschäftigt die Frage des Massenstreiks die Partei wieder im hohen Maße; in Versammlungen und in der Presse wird sie diskutiert und zweifellos wird sie auch auf dem nächsten Parteitag eine Rolle spielen. Allerdings beschäftigt sie nur die Partei und noch nicht die Arbeitermassen; daher wird von einigen Seiten die ganze Diskussion als zweckloses Gerede für überflussig gehalten. Aber mit Unrecht. Wenn sie einmal die Massen beschäftigt, dann handelt es sich um die Tat, dann steht man vor der praktischen Verwirklichung, und jeder weiß, daß dafür bestimmte Situationen nötig sind, die nicht allein von uns abhängen. Die Partei hat in dem Befreiungskampfe des Proletariats die Aufgabe, die Entwicklung klar zu erkennen, geistig zu erfassen, wie die Massen handeln und handeln werden und ihnen daher eine Führerin im Kampfe zu sein. Daher muß die Partei sich über dieses Kampfmittel theoretisch klar sein, bevor es in der Praxis seine höchste Kraft entfalten kann; und um diese theoretische Klärung handelt es sich jetzt. Die Massen werden erst in Bewegung kommen, wenn eine revolutionäre Situation sie mächtig aufrüttelt; die Partei wird jetzt zur erneuten Diskussion der Frage getrieben durch ihre Erkenntnis der Unzulänglichkeit der bisherigen Methoden, vor allem auch unter dem Eindruck der Wirkungen der Taktik der letzten Jahre.

Daher ist es völlig unangebracht, wenn man, wie z.B. Kautsky in der „Neuen Zeit“, die „Massenaktionäre“ verhöhnt, daß sie von den Massen im Stich gelassen werden. Es handelt sich bei uns ja nicht um eine besondere Vorlieb für Massenaktionen, sondern um die theoretische Einsicht, daß sie nötig sind, und daß die Partei ohne sie nicht mehr vorwärts dringen kann. Wäre es richtig, daß die Masse für eine Kampfmethode nicht zu haben sei, die die Partei klar als das einzige Mittel erkennt, im Kampfe für die Freiheit weiter zu kommen, so wäre das gewiß eine seltsame Tatsache, die eine besondere Erörterung verdiente. Für uns ist die erste und wichtigste Frage: ist in der Tat der Massenstreik notwendig, oder kommt man, wenn auch langsamer, auch ohne ihn aus? Und weil es sich dabei nicht um die Abwehr von Angriffen auf das Reichstagswahlrecht handelt, – über seine Anwendung in diesem Fall dürfen kaum Meinungsverschiedenheiten bestehen – ist die Frage zugleich, ob der Massenstreik als Waffe in dem Kampf für das allgemeine Wahlrecht in Preußen notwendig und zweckmäßig ist.

Dagegen sind in der letzten Zeit einige Zweifel laut geworden. Die schärfsten Mittel können nur dort angewandt werden, wo es sich um die wichtigsten politischen Lebensinteressen der Arbeiterklasse handelt. Das Wahlrecht für den Preußischen Landtag, so wird gesagt, ist solch ein Lebensinteresse nicht, da die wichtigsten politischen Fragen im Reichstag entschieden werden. Nur das Reichstagswahlrecht ist ein Lebensinteresse für das Proletariat; bei dem preußischen Wahlrecht handelt est sich nur um den Kampf gegen die Junker, um die Beseitigung feudaler Ruinen, und daher werden die Arbeiter dafür nie ihre ganze Kraft einsetzen.

Zweifellos ist es richtig, daß die Teilung der Gewalt und die Funktionen zwischen Reichstag and Landtag den Kampf erschwert. Gäbe es nur ein Parlament, zu dem ein allgemeines gleiches Wahlrecht zu erobern sei, wie in Belgien, so wäre die Sache viel einfacher. Wären bei der Gründung des deutschen Reichs die wichtigsten politischen Angelegenheiten, die zum Kapitalismus gehören, nicht einem Reichsparlament mit allgemeinem Wahlrecht zugewiesen worden, so hätten wir sicher von einigen Jahrzehnten schon revolutionäre Bewegungen in Deutschland gehabt. Unter dem allgemeinen Reichstagswahlrecht konnten die Arbeiter politisch kämpfen und ihre Macht entfalten, aber jetzt stoßen sie immer mehr an die Schranken dieses Wahlrechts. Der Reichstag ist nicht die herrschende, ausschlaggebende Macht im Reiche; Deutschland ist kein palamentarisch regiertes Land. Neben dem Reichstag steht die Regierung; wenn sie auch „die verbündeten Regierungen“ heißt, die, im Bundesrat versammelt, alle Beschlüsse des Reichstages in den Papierkorb werfen können, so ist sie in Wirklichkeit die preußische Regierung, die, über alle Machtmittel eines modernen Staates verfügend, dem Reichstag als gleichwertige Macht gegenübertritt. Diese Regierung stützt sich parlamentarisch auf den preußischen Landtag; der Landtag in Berlin ist daher die Hochburg aller arbeiterfeindlichen Reaktion, und will man diese Reaktion ins Herz treffen, dann muß sie in dieser Höhle angegriffen werden. Man soll sich nicht durch den äußeren Schein trügen lassen, daß er ein Junkerparlament heißt, und auch bei Junkern nicht an etwas Feudalen denken; das preußische Wahlrecht ist das echteste Geldsackswahlrecht, und wenn dabei so viele Junker herauskommen, beweist das nur – daß die Junker nichts als die politischen Sachhalter, die Leibwache des in Wahrheit regierenden Kapitals sind. Natürlich nimmt diese freche Prätorianergarde dabei das nötige für sich und malträtiert noch dazu das brave Bürgertum – das Geplärre und Geseilsche darüber wird uns dann in dem erhabenen Scheine eines weltgeschichtlichen Klassenkampfes zwischen Adel und Bourgeoisie vorgeführt. In Wirklichkeit stehen Kapital und Junkertum hier treu zusammen; sie wissen, daß der Landtag den Rückhalt der Regierung gegen einen demokratischen Reichstag bildert. Es ist daher klar, daß hier das direkteste Kampfobjekt im Klassenkampf liegt; jeder Stoß gegen das alte Gemäuer dieser Festung ist eine Starkung der Macht des Reichstages gegen die Regierung. Will man in der Reichspolitik nicht bloß verteitigen, wenn das Wahlrecht angegriffen wird, sondern angreifen, vorwärts dringen, Rechte erobern, dann gibt es nur einen Weg: den preußischen Wahlrechtskampf. Wenn es ein Lebensinteresse für das Proletariats ist, die demokratischen Formen zu erobern, die den Willen der Volksmehrheit zum gesetz des Landes machen, so ist die Eroberung des allgemeinen Wahlrechts für Preußen ein solches Lebensinteresse, und zwar für das ganze deutsche Proletariat.

Hier könnte der Einwand erhoben werden, daß eine Forderung, deren Notwendigkeit nur durch tiefere politische Einsicht erfaßt werden kann, nicht zur Parole für eine Massenaktion taugt. Aber so liegt die Sache hier nicht. Abgesehen davon, daß die Partei die Möglichkeit hat, in einem solchen Fall für die weiteste politische Aufklärung zu sorgen, liegt der preußische Wahlrechtskampf auch dem unmittelbaren Bewußtsein das Proletariers nahe. Dafür zeugt ja schon der Schwung, womit 1910 die Massen überall auf die Straße gingen. In dem junkerlich-preußischen Regierungssystem ist für die Arbeiter alles zusammengepaßt, was er aus tiefster Seele haßt, was ihn tagtäglich auf Schritt und Tritt ärgert und schurigelt, alles Reaktionäre, das zu der kapitalistischen Ausbeutung nicht notwendig gehört und ihn daher als eine rückständige Berbarei bedrückt und empört. In dem preußische Schulmeister und dem preußischen Polizisten ist die geistige und die materielle Unterdrückung der Arbeiterklasse verkörpert; der Kampf für ein demokratisches Preußenwahlrecht spricht unmittelbar zu jedem Arbeiter als ein Kampf gegen den ganzen politischen Druck, der auf ihm lastet.

Man hat gegen die Massenstreikpropaganda eingewandt, daß sie die Gewerkschaften schädigt, die dadurch gehindert werden, ruhig an der Verbesserung der Arbeitsbedingungen weiterzuarbeiten. Aber gerade vom Standpunkte des Gewerkschaftskampfes springt die Notwendigkeit eines energischen Kampfes für das preußische Wahlrecht am meisten ins Auge. Während in dem ersten Jahrzehnt der großen Prosperitätszeit, die hinter und liegt – ungefähr von 1895 bis 1905 – eine erhebliche Verbesserung der Lebensbedingungen erkämpft wurde, ist davon in den späteren Jahren keine Rede mehr. Die Stärkung der Unternehmerverbände und die Konzentration des Großkapitals einerseits, die Teuerung andererseits haben bewirkt, daß das, was man mühsam am nominellen Lohn verbesserte, kaum die gestiegenen Preise wettmachen konnte, und daß in vielen Fällen sogar die Lebenshaltung direkt verschlechtert wurde. Wenn das schon das Resultat bei guter Konjunktur war, wie wird es dann erst während der Krise sein? Man kann nicht sagen, daß hier die Organisationen die Schuld trifft; sie sind in dieser Zeit an Umfang und finanzieller Kraft bedeutend gewachsen. Die Machtsverhältnisse haben sich eben verschoben; durch die Konzentration ihrer Macht hat das Unternehmertum den Vormarsch der Arbeiter aus der Zeit erster großen gewerkschaftlichen Aufschwungs zum stehen gebracht. Das kann natürlich nicht bedeuten, daß nun jeder weitere Fortschritt abgeschnitten ist; aber es bedeutet, daß mit rein gewerkschaftlichen Methoden wahrscheinlich nicht viel weiter zu kommen ist, solange die heutigen Machtverhältnisse zwischen Arbeitern und Unternehmern bestehen bleiben. Jetzt fühlen die Unternehmer sich vor allem stark, weil sie die ganze Staatsgewalt in ihrem Rücken haben; erst wenn eine große Machtverschiebung auf politischen Gebiete eintritt, werden sie aufs neue erheblich zurückgedrängt werden können – eine solche Verschiebung läge in einem Zurückweichen der Regierung vor einen energischen Wahlrechtskampf der Arbeiter. Die Umwendung der großen Organisationsmacht der Gewerkschaften im politischen Kampfe, um so zuerst die Bahn für weiteres Vordringen auf dem eigenen Gebiete frei zu machen –, das ist der politische Massenstreik im Kampfe für das preußische Wahlrecht.

Auf allen Gebieten ist ein wesentliches Vorwärtsdringen nicht möglich, ohne mit kräftigeren Mitteln den Kampf für demokratische Grundrechte zur Hand zu nehmen. Je eher diese Wahrheit die Arbeitermassen durchdringt, um so besser werden sie für diesen Kampf vorbereitet sein.


Compiled by Vico, 18 September 2020