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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?


Die Gefahren des Massenstreiks / Anton Pannekoek, 1913


Quelle:  Die Gefahren des Massenstreiks / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 290, 30. August 1913


Wenn von den Gefahren eines geplanten Unternehmens geredet wird, so kan das als Regel zweierlei Sinn haben: entweder soll durch diese weitschauende Überlegung versucht werden, die Gefahren zuvor zu beseitigen, oder sie soll als Warnung dienen, um die Unvorsichtigen vor der Unternehmung zurückzuhalten. Von einer Beseitigung der Gefahren im voraus kann bei einem Massenstreik keine Rede sein; in der Regel hat der Hinweis auf die Gefahren daher den Zweck, die Arbeiter zu beeinflussen, damit sie von solchen tollen Gedanken ablassen. Nun wird das allerdings wenig helfen; wenn die Verhältnisse eine große Erregung und eine starke Kampfstimmung in den Massen wecken, lassen diese sich durch solche Mahnungen, auch wenn sie noch so begründet sind, nicht zurückhalten; es hat auch in der Geschichte Situationen genug gegeben, in denen bei Strafe eines noch größeren Nachteils gekämpft werden mußte, sogar mit ungenügen Kräften. Trotzdem ist eine kritische Erörterung dieser Warnungen nötig, weil es fur die Wucht einer Massenbewegung nicht gleichgültig ist, ob die führende Vorhut, die Kerntruppe der Partei, die sich im hohen Maße durch vernünftige Erwägungen bestimmen läßt, dabei eintschieden an die Spitze tritt oder sich nur furchtsam und widerwillig mitschleppen läßt.

Es handelt sich bei diesen Erörterungen nicht um die persönlichen Gefahren für die Kämpfer. Das weiß jeder, daß schärfere Kampfformen große persönliche Opfer fordern können; erst wenn der Enthausiasmus und die Kampflust der Massen so stark gestiegen sind, daß sie dieser Opfer nicht achten, wird die Zeit für die großen Massenkämpfe gekommen sein. Wer aber aus Mitleid mit diesen Opfern vor dem Kampfe warnen möchte, der sei daran erinnert, daß die kapitalistische Profitsucht in Deutschland allein Jahr für Jahr zehntausend Tote, hundertundvierzigtauzend Schwerverletzte fordert, arme Menschenleben, unnütz vergeudet und achtlos beiseite geworden – wäre es da nicht eine Ersparnis an Menschenleber, wenn durch einen opfervollen Kampf die Kapitalmacht eingedämmt wird und damit diese Unfälle erheblich verringert werden? Nicht nur der Kampf, auch das Nichtkämpfen erheischt Opfer; daher wird der Gedanke an die persönliche Opfer das Proletariat wohl schwerlich vom Kampfe zurückhalten können. Anders steht es mit den Gefahren, die nicht die Einzelnen Personen, sondern die Arbeiterbewegung als ganzes bedrohen.

Ziehen wir, so wird gewarnt, in revolutionärer Weise gegen die Staatsgewalt auf, so wird diese auch alle Rücksicht fallen lassen und die Schärfsten Mittel gegen das Proletariat anwenden. Sie wird unsere Organisationen auflösen und vernichten, und uns unsere Rechte, z.B. das Koalitionsrecht, nehmen. Und wenn es dazu nicht kommt, so werden doch, wenn wir durch ungenügende Kraft eine Niederlage erleiden, die Organisation durch Erschöpfung der Klassen und Massendersertion der Mitglieder völig kampfunfähig werden. Eine Zeit der Reaktion wird dann kommen, in der vieles vernichtet und verloren wird, was das Proletariat bisher mühsam aufgebaut hat. Das Proletariat hat eben heute mehr zu verlieren als seine Ketten: daher soll es sich zehnmal überlegen, bevor es solche Kämpfe vom Zaune bricht.

Nun ist es aber eine sonderbare Auffassung, daß die Staatsgewalt nach Belieben die politische Rechte, deren das Proletariat sich bedient, geben und auch nehmen kann, und daß sie gleichsam darauf lauert, unsere Organisation anzugreifen, sobald wir sie zu revolutionären Zwecken mißbrauchen. Ist das Koalitionsrecht etwa ein Recht, daß wir uns durch unser artiges Benehmen erworben haben und das uns genommen wird, sobald wir uns dessen unwürdig zeigen? Jeder weiß, daß wir es erkämpft haben und es alltäglich neu erkämpfen. Wenn es nur von dem guten und bösen Willen der Regierung abhinge, dann wäre es bei dem Drängen der Scharfmacher schon längst flöten gegangen. Wir fragen nicht, was eine reaktionäre Regierung vielleicht gern tun möchte, wenn das Proletariat zum Massenstreik greift, um dies als Schreckgespenst and die Wand zu malen; wir haben zu fragen, was eine solche Regierung tun kann, und was sie nicht kann. Sie kann während des Kampfes, als Abwehrmaßnahme gegen den Druck der proletarischen Aktion, mit all ihrer gesetzlichen und ihrer Gewaltmacht die Organisation der Arbeiter zu lähmen, zu vernichten und aufzulösen suchen. Wenn es ihr aber nicht gelingt, dadurch den Massenstreik zu brechen – solange sie dadurch nicht den festen Zusammenhalt, die Disziplin, die Zuversicht und das Selbstvertrauen der Arbeiter bricht, hilft ihr den Angriff auf die außeren Formen wenig – ist ihre Aktion zu Ende; sie ist nur zeitweilige Kampfmaßnahme. Denn sie kann nicht diese Auflösung der Organisation zu einem dauernden Zustand machen. Würde sie etwa versuchen, das Proletariat durch Entziehung solcher bürgerlichen Rechte niederzuhalten, so würde sie sich selbst am schlimmsten treffen± sie würde eine ungeheure Erbitterung schaffen, die die Massen zu den energischsten Angriffen aufpeitschte, ohne zugleich die gewaltige Macht, die die Massen in ihrem Organisationsbewußtsein, in ihrer politischen Einsicht und ihrer Solidarität besitzen, im geringsten schwächen zu können. Und so wenig Einsicht man einer Regierung zutrauen mag, so viel empfindet sie doch instinktiv, daß eine moderne kapitalistische Gesellschaft ohne gewisse Rechte und Freiheiten für die Arbeiter unmöglich bestehen und auf Gewalt nicht dauernd ruhen kann.

Erheblicher als die Gefahr durch die Unterdrückung von oben ist die der inneren Auflösung der Organisationen durch die Entmutigungen, die infolge einer Niederlage eintreten kann. Die Geschichte, vor allem anderer Länder von der englischen Chartistenbewegung bis zu russischen Revolution, bietet eine Unmenge von Beispielen dafür, und diese Erfahrung ist es wohl am meisten, die viele Arbeiterführer von solchen großen Kämpfen zurückscheuen läßt. Aber dabei übersehen sie gerade dasjenige, was sonst von den Gegnern des Massenstreiks am starksten betont wird: den Unterschied zwischen jenen Ländern und dem heutigen Deutschland. Fast immer handelte es sich um Massen, die erst kurz vorher den Organisationen zugeströmt waren und jetzt wieder abströmten. Bei uns handelt es jedoch um Organisationen, deren Mitgliedern durch eine lange Praxis die Organisation immer mehr in Fleisch und Blut übergegangen ist. Von diesen organisierten Arbeitern darf man ruhig annehmen, daß sie nicht bei einem Rückschlag sofort der Organisation den Rücken kehren. Auch bei gewerkschaftlichen Kämpfen erleidet man Niederlagen, ohne daß der Verband dabei kampfunfähig wird; auch hier könnte man dieselbe Gefahr betonen, ohne daß man deshalb vom Kampfe läßt. Was an Unorganisierten bei der steigenden Aktion zuströmt, davon wird bei einem Rückschlag auch vieles wieder verschwinden, aber darin liegt gerade das Besondere der kommenden Kämpfe in Deutschland, daß man auf einen festen unerschütterlichen Bestand an Kampftruppen rechnen kann. Von weniger Bedeutung dürfte dabei das ausgebildete Kassenwesen sein; wenn auch keine allgemeine starre Regeln zu geben sind, und die Verbände nach den jeweiligen Verhältnissen entscheiden müssen, inwieweit ihre Kassen als Hilfsmittel eine Rolle spielen können, so kann doch als Prinzip gelten, daß durch die Gewerkschaftskassen ein politischer Massenstreik nicht geführt und nicht gewonnen wird; er kann also auch keine Rede davon sein, daß nach einem solchen Kampfe die Gewerkschaften mittelos und machtlos der Unternehmerwillkür gegenüberstehen würden.

Hat das Proletariat in der Tat mehr zu verlieren als seine Ketten? Sicher hat es vieles erworben, aber es ist die Frage, ob est dieses Besitztum verlieren kann. Es hat keine Sicherheit und keine Wohlstand erworben; sein Besitztum besteht in Institutionen und Organisationen, die dem Kampf gegen Not und Ausbeutung dienen; es besteht in geistigen und moralischen Errungenschaften, die die Quellen seiner Macht bilden. Was es erworben hat, ist ein Besitztum an Kraft, an Macht; und diese Kraft kann im Kampfe nicht verloren gehen; sie ist ja selbst nur ein Produkt des Kampfes. Und nur durch unermüdetes Ringen war das Proletariat fähig, alle seine Institutionen und Organisationen, seine Unterstützungseinrichtungen, seine Genossenschaften, sein Versicherungswesen, seine Bildungsinstitute aufzubauen. Wären diese jetzt ein Grund, vor schärferen Kämpfen zuruckzuscheuen, damit sie nicht gefährdet werden, so wären sie eine Quelle der Schwäche statt der Kraft. Aber es ist gerade umgekehrt; einerseits stärken sie durch ihre Leistungen die Kraft der Ausdauer, anderseits stachelt ihre Unzulänglichkeit zu immer neuem Kampfe an. Zwar haben sie gesicherte Rechtsverhältnisse als Grundlage nötig; aber diese wird ihnen nicht durch das Rechtsbewußtsein der herrschenden Klasse geboten, sondern durch den Respekt, den die proletarische Macht durch ihre Kampfbereitschaft einflößt. Aufgewachen im Sturm des Klassenkampfes, sind die keine zerbrechlichen zarten Gebilde, die ängstlich gehütet und geschützt werden müssen; umgekehrt wird nur der Kampf die Kraft in den Massen stärken, die sie trägt und weiter ausbaut. Was das Proletariat neben seinen Ketten besitzt, bedeutet ein Stück Kraft, das durch den Kampf nicht verschwinden, sondern nur wachsen kann, bis es ausreicht, die Ketten zu brechen.


Compiled by Vico, 21 September 2020