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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?


Das Ergebnis der belgischen Massenstreiks / Anton Pannekoek, 1913


Quelle:  Das Ergebnis der belgischen Massenstreiks / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 273, 3. Mai 1913


Die politische Massenstreik ist nicht ein Kampfmittel, das wie ein bestimmter Mechanismus nach feststehendem Rezept immer in derselben Weise angewandt werden kann. Er ist genau so vielgefaltig wie die politische Kampf überhaupt; statt als ineinanderfließende Formen derselben Kampfmethode bisweilen als absolute Gegensätze, als völlig verschiedene Dinge, die gar keine Verwandtschaft ausweisen, einander gegenüberstellte. Jede neue Anwendung des Massenstreiks zeigt gleichsam wieder einen neuen Typus, und jede fügt zu den Erfahrungen dies Proletariats wieder eine neue Erfahrung hinzu.

Der zehntägige belgische Massenstreik bildet die Fortsetzung der Streikbewegungen von 1893 und 1902 in der Eroberung des allgemeinen gleichen Wahlrechts. Der Massenstreik von 1893, der zum ersten Male der sozialistischen Internationale die Wichtigkeit dieses Mittels als Ergänzung des Parlamentarismus offenbarte, brachte einen so starken Schrecken in die Bourgeoisie, daß sie bestürzt und voll Angst vor einer Revolution das allgemeine Wahlrecht gewährte. Als aber 1902 die Arbeiter in noch viel größerer Massen streikten, um das Pluralwahlrecht der besitzenden Klasse zu beseitigen, blieben Regierung und Bourgeoisie unerschütterlich; resultatlos mußte die Bewegung abgebrochen werden. Damals hat schon Rosa Luxemburg mit Recht darauf hingewiesen, wie das politische Bündnis mit den Liberalen die Kraft der Bewegung gelähmt hat – in diesem Bündnis dokumentierte sich eben die politische Schwäche und Unreife des belgischen Proletariats. Und nachher ist das nicht besser geworden; zehn Jahre lang hat die Partei unter reformistischer Führung dem Phantom nachgejagt, zusammen mit den Liberalen durch parlamentarische Mittel die politische Herrschaft und das gleiche Wahlrecht zu erobern. Erst als durch die Wahlniederlage des vorigen Jahres diese Hoffnung völlig zusammenbrach, wurde zu dem alten Mittel gegriffen und beschlossen, einen neuen Massenstreik vorzubereiten.

Prachtvoll hat sich das belgische Proletariat in diesem Kampfe gehalten; immer neue Gruppen schlossen sich an, und als nach zehn Tagen der Streik durch einen Beschluß des außerordentlichen Parteitags aufgehoben wurde, betrug die Anzahl der Streikende 450 000, anderthalb mal soviel als im Jahre 1902. Was aber war der Resultat, das unmittelbare Ergebnis dieses großartigen Kampfes? Im Grunde: Nichts. Der Streik von 1913 war an politischen Errungenschaften genau so ergebnislos wie der Streik von 1902.

Allerdings wurde der Abbruch des Streiks mit einem Votum des Parlaments begründet, wonach eine zur Revision des Kommunal- und Provinzialwahlrechts eingesetzte Kommission berechtigt sein soll, eine bessere Formel für das Kammerwahlrecht zu suchen. Daß eine solche mikroskopisch winzige Konzession die sich mit der später verleugneten Erklärung des Ministers vor dem Streik deckt, blutwenig bedeutet, erhellt aus ihrem Wortlaut selbst. Wenn Genosse Vandervelde darin den Beweis erblickt, daß die Revision von jetzt ab auf dem Marxsche ist, so zeigt er darin denselben Optimismus, den er auch schon 1902 nach dem zweiten Streik äußerte. Damals führte er in den „Neuen Zeit“ aus, daß der Führer der reaktionären Rechten, der Seele des Widerstandes, Herr Woest, der drei Wochen früher von einer Verfassungsrevision nicht hören wollte, sich genötigt sah, im Augenblick der Abstimmung die folgende Erklärung abugeben: „Wir wissen, daß Instiktutionen nicht unwandelbar sind. Die Gesetze sind veränderlich, und wenn die Parteien bereit wären, die Probleme des Wahlrechts ohne Leidenschaft zu erwägen und nach einer von der jetzt gültigen verschiedenen Lösung zu suchen, ohne bis zum einfachen, gleichen, allgemeinen Wahlrecht zu geben, so bin ich überzeugt, daß ein großer Teil unter uns sich zu einer solchen Erwägung entschließen würde.“ Und Vandervelde schloß aus dieser Erklärung: „So scheint sich denn die Rechte bald zur Revision resignieren zu müssen. Die Linke tritt für dasselbe vollzählig ein, und ist einmal die Revision beschlossen, dann sind wir absolut sicher, daß sie mit dem Siege des allgemeinen Wahlrechts enden wird.“

Das wurde 1902 geschrieben. Seitdem sind elf Jahre ins Land gegangen – Allerdings elf Jahre der Blockpolitik – und nichts ist aus diesen Erwartungen geworden. Besser läßt sich nicht zeigen, wie wertlos der Hinweis auf die errungene Konzession als Begründung für den Abbruch des Streiks war. Etwas anderes ist natürlich die Frage, ob eine wirkliche Konzession zur erringen gewesen wäre und ob der Abbruch des Streiks selbst gerade mitten in seiner größten Entwicklung richtig oder unrichtig war; diese Frage konnten nur die belgischen Genossen selbst entscheiden. Daß in diesem Augenblick noch nicht mehr gewonnen war, darin lag nichts erstaunliches; trotzdem die Unternehmer große Verluste erlitten, war das gesellschaftliche Leben gar nicht aus den Fugen gegangen, keine starke wirtschaftliche Katastrophe war eingetreten, kein Schrecken hatte sich der Bourgeoisie bemächtigt; die Überrumpelung von 1893 wiederholt sich nicht. Ob bei einer Fortsetzung des Streiks solche Erscheinungen eingetreten wären, die die Regierung zur völligen Kapitulation hätten zwingen können, kann kein Mensch mit Sicherheit entscheiden. Wer aber der Überredungskraft der drei parlamentarischen Führer auf dem Kongreß die Schuld geben möchte, daß die Massen den Kampf ohne Sieg aufgaben, übersieht, daß in diesem Falle gerade darin die innere Schwäche der Bewegung zutage treten würde, daß die Mehrheit des Kongresses sich durch diese Reden bestimmen ließe. Und schließlich liegt noch ein allgemeiner Grund für die Auffassung vor, daß auch bei weiterer Fortsetzung des Streiks das Ziel nicht sofort zu erreichen gewesen wäre; was durch eine jahrzehntlange falsche Taktik vernachlässigt und verdorben ist, läßt sich nicht auf einmal durch einen Massenstreik wieder in Ordnung bringen.

Der Massenstreik ist keine Maschinerie, die sachgemäß in Gang gesetzt, als Resultat das allgemeine Wahlrecht oder irgend ein anderes erfehntes Recht hervorspringen läßt. Er ist ein Mittel, die wirkliche Macht der Arbeiterklasse zum Ausdruck zu bringen, wenn Verfassung und Wahlrecht diese Macht in allzu sehr gefälschter Weise wiedergegeben; sein gewaltigen Druck dient dazu, die Verfassung in Übereinstimmung mit den tatsächlichen Machtverhältnissen zu bringen. Er kann daher den Parlamentarismus nicht ersetzen, sondern nur dessen Grundlagen sichern. Die Macht des Proletariats, auf die es hier ankommt, besteht wesentlich in seiner politischen Schulung, seiner sozialistischen Erkenntnis und seiner festen Organisation; solange es nicht jeden Widerstand der Bourgeoisie, sowohl den schlauen Betrug der fortschrittlichen, wie die Gewalt der reaktionären Bourgeoisie, zu besiegen weiß, kann es sich nicht die Tore zur politischen Herrschaft öffnen. Daß eine Stärkung der gewerkschaftlichen Organisation die dringend nötige erste Aufgabe ist, wurde auf dem Kongreß selbst betont. Die politische Schulung kann aber nur durch einen jahrelangen parlamentarisch-politischen Kampf erworben werden – der Massenstreik trägt zwar bedeutend zu dieser Schulung und Aufklärung bei, kann aber nur ausnahmeweise stattfinden – darin liegt gerade der große Wert des Parlamentarismus. Aber in Belgien hat er unter der Herrschaft des Revisionismus in gerade entgegengesetzter Weise gewirkt. Ein Proletariat, das sich durch den liberalen Teil der Bourgeoisie betören laßt, oder, wenn es selbst ein starkes Klassenempfinden hat, nicht die Rähigkeit besitzt, seine Parlamentarier zur Innehaltung einer Taktik des Klassenkampfes zu zwingen, bestizt noch nicht die große innere Kraft, die zu einer Umänderung des politischen Ausdrucks der Machtverhältnisse zwingen könnte. Deshalb konnte dieser Massenstreik nicht zu dem erhofften Ziele führen.

Trotzdem war es nicht fruchtlos. Aber seine Bedeutung liegt einem anderen Gebiete, nicht in seinem sofortigen Ergebnis, sondern in der Tatsache, daß er stattfand; in seinem Charakter als Demonstration. Nach einem Jahrzehnt entnerverder parlamentarischer Kompromiß-politik demonstrierte er die einmütige Entschlossenheit der belgischen Arbeiter, zu einem energischen Kampf der Massen selbst gegen die Bourgeoisie zurückzukehren. Daher kommt es, daß im Gegensatz zu 1902 eine zuversichtliche Siegesstimmung den Kongreß beherrschte. In diesem Streik, der gegen den Willen einflußreichsten parlamentarischen Führer unternommen wurde, kam der Umschwung, kam die Aufwärtsbewegung zum Ausdruck, die sich in den letzten Jahren immer stärker bemerkbar gemacht hat. Die führende geistige und organisatorische Rückständigkeit des belgischen Proletariats wird immer mehr beseitigt; das Bildungswesen schafft die Grundlagen zu einer marxistischen Kampftaktik und gegen die Blockpolitik kommt schon eine bewußte Opposition empor. So entwickelt sich im Gegensatz zu dem parlamentarischen Reformismus die politische Einsicht, das Klassenbewußtsein und das Selbstvertrauen der Belgischen Arbeiter; diese Entwicklung ist einerseits im hohen Maße durch den Massenstreik gefördert worden, anderseits sichert sie die Möglichkeit, ihn das nächste Mai noch eindrucksvoller zu gestalten. In dieser freudigen Sicherheit, die die belgischen Arbeiter erfühllt und ihr Selbstvertrauen hebt, in der Sicherheit, diese alte Waffe für den Notfall kräftiger als je handhaben zu können, liegt das wichtigste positive Ergebnis des letzten Massensteiks.


Compiled by Vico, 11 September 2020