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Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?Die belgischen Lehren / Anton Pannekoek, 1912Quelle: Die belgischen Lehren / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 228, 15. Juni 1912 Die Wahlen am 2. Juni haben das Kartell (das Bündnis von Liberalen und Sozialdemokraten) zerschlagen – das war der erste allgemeine Eindruck, den der Wahlsieg der klerikalen Partei in Belgien überall hervorrief. Die Blockpolitik hat vollkommen versagt; sie hat gerade das Gegenteil dessen erreicht, was die erreichen wollte. Das Bündnis war abgeschlossen worden, und die klerikale Herrschafrt zu stürzen; es hat dazu geführt, sie zu stärten und zu festigen. Und nicht aus zufälligen kleinen Nebensachlichkeiten, sondern aus Ursachen, die in den allgemeinen Klassenverhältnissen wurzeln. Alle Nachrichten aus Belgien, von welcher Seite sie auch kommen, stimmen in der Ursache der liberal-sozialistische Niederlage vollkommen überein: ein Teil der liberalen Bourgeoisie hat aus Furcht vor den sozialen Gesetzen einer sozialistisch beeinflußten Regierung klerikal gestimmt. In welchen Maße daneben der Mangel an Werbekraft der mit dem Liberalismus verbundenen Sozialdemokratie unter dem christlichen Proletariat ins Gewicht fällt, läßt sich nicht genau ermessen. Dadurch bildet das Ergebnis der belgischen Blockpolitik eine Lehre von internationalen Bedeutung. Denn überall, wo die Arbeiter den politischen Kampf führen, entstehen aus den gleichartigen Verhältnissen dieselben taktischen Richtungen in der Sozialdemokratie. In allen Ländern besteht, stärker oder schwächer, eine revisionistiscdhe Richtung, die die Bündnis- und Blockpolitik miet den fortschrittlichen Liberalen propagiert. Was das Proletariat weigen seiner eigenen Schwäche nicht durchsetzen kann, soll es durch Anschluß an einen Teil der Bourgeoisie erreichen. In Belgien lagen wegen der drùckenden klerikalen Herrschaft die Bedingungen fùr eine solche Taktik besonders günstig. Trotzdem erlebte sie auch hier einen Fehlschlag. Die belgische Wahlausfall bedeutet daher eine eklatante Niederlage des internationalen Revisionismus. Nicht in dem Sinne, daß seine Nachteile und seine Schwächung des Proletatiats hier erst zutage treten – die waren schon allbekannt und in zahllosen Beispielen nachgewiesen. Sondern in dem Sinne, daß die Vorteile, die er demgegenüber zu versprechen schien, und um derentwillen man die Schäden mit in Kauf nahm, sich als nicht vorhanden erweisen. Aber damit soll nicht einfach gesagt werden, daß eine Schwenkung der Taktik nun genügt, oder, wenn sie früher erfolgt wäre, genügt hätte, bessere Resultate zu bringen. Die Massenstreiks, die vor allem im Süden sofort nach den Wahlausfall ausbrachen, konnten zwar den Mißmut der Arbeiter scharf zum Ausdruck bringen, aber gegenüber der durch die Wahl gefestigten Autorität der Regierung nichts ausrichten: mit Recht hat der Parteivorstand aufgefordert, sie einzustellen. Denn was die Wahlen enthüllen, ist mehr als die Schwäche einer Taktik; es ist die Schwäche des belgischen Proletariats überhaupt, und die Unmöglichkeit, die notwendigen Folgen dieser Schwäche durch taktische Schlauheit aufzuheben. Es ist nur allzu verständlich, daß die Massen sich in diesem Augenblick der Enttäuschung wieder auf die alte Kampfmethode besannen, die ihnen als Abschluß ihrer schönsten Kampfperiode (1886 bis 1893) die Eroberung des allgemeinen, wenn auch durch Pruralstimmen im Interesse der Bourgeoisie ungleich gemachten Wahlrechts brachte. Dort hat sich zum erstenmal die Macht des politischen Massenstreiks in den Händen eines modernen Proletariats gezeigt. Aber der Massenstreik ist ebensowenig ein Wundermittel wie der Stimmzettel; er kann die volle Wucht der proletarischen Macht wirken lassen wie keine andere Methode, aber er kann einen Mangel an wirklicher Macht nicht ersetzen. Das zeigt sich im Jahre 1902, als das Proletariat versuchte, das Pluralwahlrecht zu beseitigen; ergebnislos mußte der Kampf abgebrochen werden, weil nicht nur die klerikale Regierung, sondern auch die liberale Bourgeoisie das Pluralwahlrecht, deren eigentlichen Nutznießer sie bildete, verteitigte. Die Kraft des Proletariats hatte 1893 ausgereicht, durch die Sympathie der liberalen Bourgeoisie gestützt, das Privilegienwahlrecht einer kleinen Clique zu beseitigen; sie reichte nicht aus, die politischen Grundlagen der ganzen Bourgeoisieherrschaft aufzuheben. Es war damals nötig gewesen, die Taktik ausschließlich auf die innere Stärkung der Arbeiterbewegung zuzuschneiden. Statt dessen hofften die Führer, durch eine stetige Annäherung an die liberale Opposition das Ziel des allgemeinen gleichen Wahlrechts zu erreichen – eine innerlich widersinnige Taktik, dat die Liberalen damit den Ast absägen würden, worauf sie sitzen. Un nur durch das Klassenbewußtsein der liberalen Bourgeoisie sind die liberalen Politiker, die aus Machthunger auf das Bündnis eingingen, der Mühe enthoben, ihre Versprechungen nachher zu brechen. Jetzt, zehn Jahre später, ist auch diese Taktik zusammengebrochen. Das Pluralwahlrecht bat erst dem Ansturm der Massen und jetzt der diplomatischen Politik der Führer standgehalten; offenbar ist weder durch Massenkraft noch durch Bündnispolitik das gleiche Wahl recht zu erobern. Was nun? Das allgemeine gleiche Wahlrecht kann nur durch die Macht einer gutgeschulten, einsichtsvollen, kräftig organisierten Arbeiterklasse erobert werden. Ausbildung dieser Macht muß das Ziel und die Richtlinie der Taktik sein. Worauf es in Belgien ankommt, ist nicht, mit künstlichen Mitteln eine Festung erobern zu wollen, wozu die Arbeiterbewegung noch zu schwach ist, sondern die Schwäche des Proletariats zu erkennen und sie in unermüdlichen Arbeit vor allem durch prinzipielle Kampftaktik immer mehr aufzuheben. Die Ursachen dieser Schwäche und der Weg zur Besserung sind in der lehrreichen Schrift über die Arbeiterbewegung in Belgien von De Man und De Brouckere (Ergänzungsheft der „Neuen Zeit“) klar auseinandergesetzt. Es fehlt an Wissen und es fehlt an Organisation. Nirgends in Westeuropa ist der Schulunterricht so dürftig, wie in Belgien, wo er der Pfaffen und Nonnen fast völlig ausgeliefert ist. Von der beschränkten, unwissenden, spießerhaften Bourgeoisie geht auch keine Spur von Versuch einer Volksaufklärung im bürgerliche Sinne aus. Unglaublich lange Arbeitszeiten und die niedrigen Löhne machen es den Arbeitermassen äußerst schwer, sich geistig emporzuarbeiten. Der Mangel an Bildung und der Mangel an Organisation bedingen sich wechselseitig. Die Partei ist ein Verband von zumeist Unterstützungsvereinen und Genossenschaften, ohne eigene politische Betätigung der Massen. Die Gewerkschaften befinden sich noch im ersten Aufstieg. Die Rolle, die Arbeitermassen zu organisieren, haben seit einem Menschenalter die Genossenschaften erfühlt. Sie haben die hoffnungslosen, zersplitterten Proletarier zuerst gesammelt, ihnen Selbstvertrauen eingeflößt, die politischen Kämpfe und die Streiks finanziert und Volkshäuser gebaut. Aber als Organisationsform des Proletariats hatten sie einen großen Mangel: sie waren keine Kampforganisationen. Nur die Verbände, die dem Kampfe dienen und die unmittelbar Beteiligten vereinigen, erzeugen durch die Praxis des Kampfes selbst jene proletarischen Tugenden, die das Ferment der proletarischen Macht bilden: feste Solidarität, Aufopferung jedes Einzelnen für die Gesamtheit, Disziplin, Einsicht in die Klassenverhältnisse, Stolz und Selbstbewußtsein. Das alles bringen die Gewerkschaften durch ihren Kampf, nicht aber die Genossenschaften. Diese können kleine Krämer verdrängen, aber nicht das Kapital bekämpfen. Ihre Masse ist nicht der proletarische Kampf, sondern die Konkurrenz und das Geschäft. Sie verbessern die Lage der Arbeiter nicht dadurch, daß dem Kapital ein Stück Profit abgetroßt, sondern dadurch, daß ein Stück Zwischenhandel ausgeschaltet wird. Indem sie der Not, die die Arbeiter zum Kampfe zwingt, den schlimmsten Stachel nehmen, graben sie den Gewerkschaften das Wasser ab, übernehmen sie im gewissen Sinne deren Funktion, ohne deren erzieherische Wirkung auf das Proletariat ersetzen zu können. Und schließlich ist der materielle Vorteil doch wieder illusorisch: wenn die Genossenschaft gestattet, den Geldlohn besser auszunutzen, muß, wenn keine starke Gewerkschaft dahinter steht, dieser Geldlohn sinken oder niedrig bleiben, weil die Triebkraft zur Verbesserung geschwächt ist. Eine gewaltige Arbeit des Aufbauens bleibt den belgischen Arbeitern daher noch übrig. Die Gewerkschaften müssen sich zu mächtigen Verbänden entwickeln, fähig, dem Kapital im geregelten Kampfe Vorteile abzutrotzen. Organisationseinrichtungen müssen geschaffen werden, die den Arbeitern gegenüber dem raffinierten Apparat der vielen persönliche Vorteile bringenden katholischen Vereine und den Schikanen der Behörden einen festen Rückhalt bieten. Durch ein Netz von Bildungseinrichtungen – die Anfänge sind schon gemacht – muß, ohne auf Schulgesetze zu warten, das Proletariat sich selbst Kenntnisse und Aufklärung verschaffen. Und wenn dann zugleich die parlamentarische Tätigkeit der Führer, aus der erstickenden Umarmung des Liberalismus befreit, durch den Willen und das Klassenbewußtsein der Massen kontroliert, den Weg der prinzipiellen Kampftaktik einschlägt, wird die Wahlniederlage von 1912 einen neuen Wendepunkt in der belgischen Geschichte bedeuten, den Abschluß einer Periode der Staganation der Schwäche zu einer Ursache steigender Macht werden. Compiled by Vico, 7 September 2020 |
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