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Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?Zweierlei Taktikkampf / Anton Pannekoek, 1910Quelle: Zweierlei Taktikkampf / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 132, 13. August 1910 Vor einigen Monaten wurde die Aufmerksamkeit der Genossen durch eine Debatte über die Taktik der Partei in Anspruch genommen, die sich vor Allem um die Anwendung des Massenstreiks bewegte. Dabei wurde namentlich von der Genossin Rosa Luxemburg hervorgehoben, daß der Kampf um das preußische Wahlrecht jetzt die Hauptaufgabe der Partei sein muß, und sie griff die führenden Parteiinstanzen an, die diesen Kampf gegen die Reichstagswahl zurückstellen wollen. Da trat auf einmal durch das Verhalten der badischen Landtagsfraktion eine ganz andere Taktikfrage in den Vordergrund des Parteiinteresses, der alte Kampf zwischen Revisionismus und Radikalismus. Natürlich wurden diese verschiedenen Kämpfe nun mit einander in Verbindung gebracht. Kurt Eisner hat sich zur Verteitigung der Badenser auf Genossin Luxemburg zu berufen gesucht: da der preußische Wahlrechtskampf von alles beherrschender Wichtigkeit ist, wozu soll die Partei dann ihre Zeit mit derwinzigen badischen Frage vergeuden, die für die Arbeiterbewegung doch bedeutungslos ist? Umgekehrt wird dies nun von dem „Vorwärts“ und von Kautsky benutzt, um gegen den Standpunkt der Genossin Luxemburg in der Massenstreikdebatte Stimmung zu machen, als mache sie sich durch ihren Angriff an die Parteileitung zur Helferin der Badenser, zur Dritten im Bunde mit Kolb und Eisner. Daher mag es angebracht sein, die wirklichen Beziehungen zwischen diesen beiden Kämpfen um die Taktik näher ins Auge zu fassen. Der Kampf zwischen Radikalismus und Revisionismus spielt sich ganz innerhalb des Gebietes des Parlamentarismus ab; er ist völlig ein Produkt der parlamentarischen Periode der proletarischen Befreiungskampfes. Allerdings geht der Revisionismus als Theorie, als bürgerliche Weltanschaung über den Rahmen des Parlaments hinaus und stellt er auf jedem Gebiet, wo das Proletariat sich bestätigt, in den Gewerkschaften, den Genossenschaften, dem Bildungswesen, ein Aufgeben des scharfen Klassenstandpunktes und eine Annäherung an die bürgerliche Welt da. Aber in seiner ausschlaggebenden Praxis ist dieser Kampf ein Kampf um die parlamentatische Taktik; es handelt sich dabei, wie jetzt wieder in dem Badenser Streit, un die Haltung gegenüber Regierungen und bürgerlichen Parteien, bei den Wahlen wie im Parlament. Dagegen handelt es sich bei der Massenstreikdebatte um die außerparlamentarische Taktik, um die Frage inwieweit andere Kampfmittel zur Ergänzung des parlamentarischen Kampfes nötig sind und ob jetzt die Zeit für die Anwendung solcher Mittel schon gekommen ist. Die alten Taktikdebatten drehen sich sämtlich um die Frage, in welcher Weise wir im Parlament am ehesten zu Macht und Herrschaft kommen können. Die neue Taktikdebatte ist aus der Erkenntnis aufgewachsen, daß das Proletariat durch rein parlamentarische Mittel die Herrschaft überhaupt nicht erobern kann. Weder die radikale noch die revisionistische Taktik im Parlament kann uns die Staatsgewalt in die Hände bringen, so lange nicht durch außerparlamentarische Kampfmittel ein demokratisches Wahlrecht erobert wird. Bewegen sich also die beiden Taktikdebatten auf ganz verschiedenen Terrain, so spielen doch in ihnen dieselben einander gegenüberstehenden Anschauungsweisen mit. Dieselbe revolutionäre aus dem Marxismus sprießende Einsicht in die Notwendigkeit des Klassenkampf zur eroberung der politischen Gewalt, die im politischen Kampfe zur scharfen Bekämpfung aller bürgerlichen Parteien und zu Ablehnung der Blockpolitik führt, bringt auch die Erkenntnis mit sich, daß ohne den Außerparlamentarischen Kampf der organisierten Arbeitermassen selbst das Ziel nicht zu erreichen ist. Umgekehrt muß der konsekwente Revisionismus, der nicht gegen die ganze bürgerliche Welt kämpfen, sondern sich mit einem Teil gegen den anderen Teil verbinden will, einer revolutionären Massenbewegung ablehnend gegenüberverstehen. Er betrachtet ja das Parlament als die einzige Stätte politischen Kampfes und was dem allein kämpfenden Proletariat hier unmöglich erscheinen muß, glaubt er durch Wahlbündnisse erreichen zu können. In solcher Weise, scheint es, müssen die einander gegenüber stehenden Parteien in der alten wie in der neuen Taktikdebatte sich decken. In Wirklichkeit sehen wir aber ganz etwas anderes: Radikale wie Revisionisten stehen in der Massenstreikdebatte auf der einen wie auf der anderen Seite: die neue Taktikfrage hat offenbar eine neue Trennung der Geister bewirkt, deren Grenze quer über die alte Trennungslinie hinübergeht. Bei einer näheren Betrachtung liegt darin auch nichts wunderbares. Die radikale Taktik im parlamentarischen Kampfe braucht nicht notwendig ein Ausfluß revolutionärer Gesinnung oder gründlicher marxistischer Durchbildung zu sein. Sie ist für jeden Arbeiter einer reaktionären Bourgeoisie und einer gewalttätigen Regierung gegenüber die einzig mögliche Taktik. Einem Berliner Arbeiter, der den reaktionären Charakter des Berliner Freisinns kennen gelernt hat, muß die Zumuttung, mit diesem Freisinn ein Bündnis zuschließen, ungeheuerlich erscheinen, während er in süddeutschen kleinbürgerlichen Verhältnissen lebend leicht für eine revisionistische Politik gewonnen werden würde. Ein solcher Radikalismus ohne marxistische Einsicht wird sich an die „altbewährte Taktik“ festklammern und sich einer revolutionären Weiterentwicklung unserer Taktik gleich heftig widersetzen wie der Bernsteinschen Revision der radikalen Taktik. Umgekehrt kann die Bekennung zu revisionistischen Taktik sehr gut mit einer revolutionären Gesinnung zusammengehen. Kolb hat die Massenstreikfrage in der badischen Angelegenheit zu Hilfe gerufen, indem er erklärte, es gebe nur zwei Wege, um zu positiven Resultaten zu kommen, entweder müsse man mit dem Massenstreiks vorwärts, oder, wenn man das nicht kann oder will, müsse man durch liberale Bündnisse Vorteile gewinnen. Kolb scheint nicht zu wissen, daß wir seine Taktik gerade wegen ihrer Aussichtslosigkeit verwerfen. Wenn es noch nicht möglich ist, mittels außerparlamentarischer Mittel entscheidende Vorteile zu gewinnen, so liegt darin doch noch kein Anlaß, eine Bahn einzuschlagen, die uns keine Vorteile und nichts als Nachteile bringt. Ist also Kolbs Beweisführung als Argument für seine Sache nichts wert, so führt sie uns doch auf die Ursache, die dem Revisionismus seinen Anhang in Arbeiterkreisen Verschaffte. Vielfach war es ein Tatendrang, der sich nicht mit dem Abwarten, mit dem Ausreifenlassen der Verhältnisse zufrieden stellen konnte, sondern sich auf allen gebieten betätigen und inmittelbare Resultate erzieln wollte. Durch Mangel an theoretischer Bildung sahen solche Genossen nicht, weshalb unsere Resultate vorerst nur in einem Wachstum an inneren Macht bestehen konnten. Zugleich wurde ihnen ein Zerrbild des Marxismus vorgeführt als eine Art Fatalismus, der alles von den Verhältnissen, nichts von den Menschen erwartet, und daher zum tatenlosen Abwarten führt, das seine Praxis in der radikalen Abneigung von „positiver Arbeit“ findet. Diese Stimmung mit diesem Mißverständnis vereinigt, erklärt die Verbreitung der Revisionismus in Arbeiterkreisen. Aber zugleich wird dadurch klar, daß solche Revisionisten in dem praktischen Kampfe für das preußische Wahlrecht auf der Straße in der ersten Reihe standen. Aber in dem Maße, wie die Arbeitermassen diesen Kampf als das Mittel erkennen, die alten erstarrten Verhältnisse in Bewegung zu bringen, positive Erfolge zu erringen und wirklich vorwärts zu kommen, werden sie sich von den trügerischen revisionistischen Methoden, positiven Erfolgen nachzujagen, abwenden. Ist die Macht des Proletariats soweit gestiegen, daß es den Angriff auf entscheidende Machtspositionen des Feindes eröffnen kann, so verschwindet die alte Unzufriedenheit aus der Zeit der scheinbar ergebnislosen Vorbereitung, und der Tatendrang der Masse findet ein Feld der fruchtbarsten Befriedigung. Der mit außerparlamentarischen Mitteln geführte preußische Wahlrechtskampf eintzieht dem Revisionismus seinen Boden in der Arbeiterklasse. Hier liegt der wirkliche Zusammenhang zwischen den beiden sich kreuzenden Taktikfragen. Der preußische Wahlrechtskampf erweist sich – mag auch die Erledigung der Badener Affäre für den Augenblick alle Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen – auch in diesem Sinne als die wichtigste Sache, daß sie den alten Taktikstreit immer mehr gegenstandlos macht. Nicht in diesem Sinnen, wie Eisner meint, daß die richtige parlamentarische Taktik dabei eine gleichgültige Nebensache wäre; solange nicht der parlamentarische Kampf selbst eine Nebensacht ist, kann davon keine Rede sein. Aber solange das Proletariat gezwungen ist, auf rein parlamentarischen Boden zu kämpfen, werden die Versuche nicht aufhören, durch Revidierung der radikalen Taktik positiven Erfolgen nachzujagen. Daher kann man auch ruhig behaupten, daß die Agitation der Genossin Luxemburg, den preußischen Wahlrechtskampf zur Hauptaufgabe der Partei zu machen, am meisten dazu beiträgt, dem Revisionismus für die Zukunft den Boden abzugraben, während diejenigen Genossen, die ihr gegenüber die Reichstagwahlen in den Vordergrund schieben, Erwartungen wachrufen, aus denen der Revisionismus immer neue Nahrung schöpft. Compiled by Vico, 8 September 2020 |
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