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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?


Die badische Revolte / Anton Pannekoek, 1913


Quelle:  Die badische Revolte / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 130, 30. Juli 1910


Als vor zwei Jahren in Nürnberg 66 süddeutsch Delegierte die Erklärung abgaben, sie betrachteten sich durch den gefaßten Beschluß als nicht gebunden, konnte man glauben, es handele sich einfach um eine Rückzugskanonade. Jetzt hat sich gezeigt, daß jene Erklärung tatsächlich als Leitfaden für die Praxis bestimmt war. Und es hat allen Anschein, als ob die badischen Parlamentarier mit Absicht, den Zeitpunkt für ihren Vorstoß gewählt haben und mit bewußten Willen die Partei in eine folgenschwere Krise hineintreiben.

Natürlich handelt es sich hier um mehr als um eine moralische Entrüstung über diesen Disziplinbruch. Und wenn da und dort über die Frevler losgezogen wird, die nun lange genug die Geduld der Partei auf die Probe gestellt hätten, die einen gehörigen Denkzettel erhalten sollen und deren parteischädigendes Treiben endlich seine Strafe finden müsse, so tritt dabei die Realität allzuviel hinter das Gefühlsmoment zurück. Nicht Ethik und Leidenschaft, sondern nur die nüchterne Abwägung entgegengesetzter Interessen kann das Handeln der Partei bestimmen. In den formellen Verstoß gegen einen Parteibeschluß kann auch nie ein Grund zu schärfsten Vorgehen, zum Ausschluß liegen. Es können umstände vorkommen, unter denen die Innehaltung eines früher gefaßten Beschlusses unmöglich ist und wichtigere Interessen seine Durchbrechung fordern. Hier handelt es sich nun aber nicht um einen zufälligen Ausnahmefall. Kolb (1) und seine Freunde erklären ganz bestimmt: wir können den Nürnberger Beschluß nicht befolgen, ohne mit unserer innersten Überzeugung in Wiederspruch zu geraten. Entweder muß er aufgehoben werden, oder wir werden für unsere Überzeugung fallen.

Damit ist die Lage vollkommen klar geworden. Die Partei hat erklärt: für unsere Mitglieder erachten wir die ablehnende Haltung gegenüber dem Budget für unbedingt erforderlich. Kolb sagt nun, wir können nicht, also bitten wir den Beschluß aufzuheben. Da stehen der Partei nur zwei Wege offen.

Entweder sie kommt nach einer erneuten Prüfung zu dem Schluß, daß die Innehaltung des Nürnberger Beschlusses eine unbedingte Notwendigkeit für eine sozialistische Taktik ist, und sie erklärt deshalb: wir als Partei halten daran fest: wer zu uns gehören will, hat danach zu handeln. Wer das nicht kann, wessen Überzeugung dem widerstreitet, kann ein braver Mensch und ehrlicher Politiker sein, aber er gehört nicht zu uns. – Oder sie kann nachgeben und der Ansicht beitreten, daß die Budgetbewilligung keinen Verstoß gegen unsere Prinzipien bildet, und daß die neue Taktik das Bündnisses mit dem Liberalismus das beste Mittel ist, die Partei mächtig zu machen und den Sozialismus rasch herbeizuführen – daß also der Nürnberger Beschluß verfehlt war und aufzuheben sei. Da aber dies alles, soviel behannt, den Anschauungen der großen Parteimehrheit schnurstracks widerspricht, erscheint eine solche Stellungnahme der Partei ausgeschlossen.

Nach den Äußerungen mehrerer Parteiblätter soll jedoch noch eine dritte Möglichkeit vorhanden sein: einfach den Nürnberger Beschluß bestätigen. Das ist aber nichts anderes als die erste der oben erwähnten Möglichkeiten, es sei denn, daß man ausdrücklich hinzufügt, oder unausgesprochen hinzubegreift, daß dieser Beschluß nicht innegehalten zu werden braucht und daß es jedem freigestellt wird, ihn zu befolgen oder zu übertreten. Was für diesen Parteibeschluß gilt, muß dann aber für alle gelten. Das würde einfach das Ende der Partei bedeuten: wenn ihre Beschlüße von jedem nach eigenen Belieben befolgt oder nicht befolgt werden können, ist alle Einheitlichkeit des Handelns, die das Wesen einer Partei und der Taktik bildet, dem Zufall überlassen.

Aber auch im andern Fall, bei der strikten Bestätigung des Nürnberger Beschlusses, geht die Parteieinheit in die Brüche. Denn wenn die badischen Parlamentarier die Konzequenzen ziehen und hinausgehen, gehen sie nicht allein. Daß viele revisionistischen Wortführer mit ihnen ziehen werden, braucht nicht allzu tragisch genommen zu werden; Personen die wie neulich Quessel (2) die Propaganda des sozialistischen Endziels für eine Gefahr für die Partei halten, haben sich von dem Denken der sozialistischen Arbeiter zu weit entfernt, und dauernd mit ihnen zusammenzugehören. Schlimmer ist es, daß die Masse der badischen Genossen aus ihren revosionistischen Blättern (an anderen mangelt es in Baden total) ja auch nie etwas über Sozialismus, Klassenkampf und Klassenpolitik erfahren haben, mit ihren Parlamentariern ausziehen werden. Sie werden natürlich durch eine zielklare sozialistische Propaganda allmählich zurückgewonnen werden können; aber auf lange Zeit hinaus bedeutet eine solche Abtrennung eine Schwächung der proletarischen Bewegung in Deutschland.

Darin liegt auch der Grund zu der Empörung, die in der Partei über das Vorgehen der badischen Landtagsfraktion herrst. Was die Partei auch weiter beschließen mag, in dem einen wie in dem andren Fall ist die Kraft und die Einheit unserer Armee gebrochen. Eine Parteispaltung in Deutschland, gerade zu einer Zeit, da die ganze kapitalistische Welt sich immer mehr gegen uns konzentriert, erscheint so ungeheuerlich, daß man sich immer wieder die Frage stellt, ob sie dennoch nicht zu vermeiden wäre. Schon seit über einem Jahrzehnt tobt zwischen Kapitalismus un Reformismus ein scharfer Kampf; trotzdem brauchte er die Einheit nicht zu gefährden, solange das Handeln einmütig und diszipliniert war. Die Meinungsfreiheit in unserer Partei ist fast unbegrenzt, jeder hat das Recht zu versuchen, seine Genosse für seine Ansichten zu gewinnen; aber das politische Auftreten unserer Vertreter wird durch die Partei bestimmt und dafür hat jeder umgekehrt die ganze Kraft der Partei hinter sich. Dadurch erst ist die Partei eine Masse, die wie ein fester Körper handelt und den Feind mit Macht schlagen kann. Verschwindet dieser Zusammenhang, handelt jeder nach eigenem Ermessen, so ist sie nur noch ein loser Menschenhaufen, der keine Kraft ausübt, weil jeder nach einer anderen Seite will und ihr entgegengesetztes Streben einander aufhebt. Der formelle Parteiverband ist dabei nicht mehr als ein Lappen, ein gemeinsamer Name für verschiedene Dinge, ein bloßer Schein.

Von dem Augenblick an, daß der Revisionismus es für angebracht hält, von der Theorie zur Praxis überzugehen und nicht nur mit seinen Ansichten, sondern auch mit seinen Taten sich in bewußtem Gegensatz zur Parteimehrheit stellt, ist die Parteieinheit im Grunde unmöglich geworden und tatsächlich aufgehoben. Ob die formelle Parteieinheit dabei bewahrt bleiben kann, oder preisgegeben werden muß, ist eine Sache der Zweckmäßigkeit, woruber der Parteitag zu entscheiden hat. In dem einen Fall wird der äußere Schein notdürftig aufrecht erhalten, der für die Zukunft die übelsten Folgen mit sich bringen wird. Im anderen Fall erleidet die Partei augenscheinlich eine schwere Krise, woraus die aber mit der Zeit um so kräftiger emporsteigen wird. Der angerichtete Schaden ist in keiner Weise mehr zu bessern; Sache des Parteitages wird es sein, ihn auf das Mindestmaß zu beschränken.

Fragt man sich; weshalb die Badenser gerade diesen Augenblick für ihre Revolte auswählen, so liegen die Gründe nahe auf der Hand. Einerseits geben sie sich der Hoffnung hin, daß die Partei, um den erwarteten großen Reichstagswahlsieg nicht zu gefährden, nichts gegen sie unternehmen wird. Als kurzsichtige Politiker wissen sie nicht, und trauen sie der Partei auch nicht die Wissenschaft zu, daß ein solcher Sieg tieferen Verhältnissen entspricht als die Ausnutzung einer günstigen parlamentarischen Situation, und die Frucht einer ganzen Vergangenheit prinzipielen Kampfes ist. Aber daneben kommt auch in Betracht, daß seit der Sprengerung des Bülowblocks die liberalen Parteien sich in einer, wenn auch unfreiwilliger Opposition befinden, wobei sie hoffen, daß ihre alten Sünden aus der Blockzeit vergessen werden. Aus dieser Situation entsteht das Bestreben in führenden Kreisen der Partei, bei den Wahlen der Hauptangriff außer auf die Junker vor allem auf das Zentrum zu richten. Wenn die Revisionisten jetzt den Augenblick für günstig halten, die Partei in eine Blockbrüderschaft mit dem Liberalismus zu drängen, können sie sich dabei in dem Glauben befinden, daß sie nur die kühnen Konzequenzen aus dem ziehen, was andere zaghaft wollen. Soweit die parlamentarische Denkweise vorherrscht, die in dem taktischen Manövrieren zwischen den bürgerlichen Parteien die Kraft unserer Partei sucht, mögen sie richtig gerechnet haben. Aber die Masse der Genossen sieht nicht darin, sondern in dem Klassenkampf gegen die ganze kapitalistische Welt die Grundlage all unserer Politik und damit auch der kommenden Reichstagwahl. An dieser klaren sozialistischen Einsicht der Arbeiter wird der schlau überlegte Versuch, die Partei auf eine falsche Bahn zu drängen, scheitern.


Redaktionelle Anmerkungen

1. Wilhelm Kolb  (1870-1918); s.p.d. politiker.

2. Ludwig Quessel  (1872-1931); Journalist, Publizist und s.p.d. politiker.


Compiled by Vico, 16 September 2020