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Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?Der Feind als Lehrer / Anton Pannekoek, 1910Quelle: Der Feind als Lehrer / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 139, 1. Oktober 1910 Von seinen Feinden soll man lernen. Dieser algemeine Satz hat vor allem für das kämpfende Proletariat Bedeutung, das aus einer schwachen Truppe sich im Kampfe selbst zu Macht und Kraft emporarbeiten muß. Seine Kampfesmittel sind nicht willkürlich nach abstrakten Prinzipien auszuwählen, sie lassen sich so wenig aus einer allgemeinen Theorie bestimmen, wie ein Feldzug im voraus festzulegen ist. Sie müssen sich nach dem richten, was der Feind tut. Das will nicht sagen, daß man über die Taktik nicht im voraus Beschüsse fassen und lieber alles dem Zufall überlassen soll. Denn die Taktik des Feindes beruht nicht auf Zufall; sie wurzelt in seinen wirtschaftlichen und politischen Interessen und läßt sich daher mit Hilfe der Theorie in ihren Hauptzügen erkennen, verstehen und voraussagen. Dazu dient ja die Theorie, über die Augenblicksströmungen der Praxis und die Vertuschungsmannöver der Gegner hinweg aus ihren tiefsten bleibenden Interessen die feste Linie ihrer Taktik und daher auch unserer Taktik abzuleiten. Wo aber diese theoretischen Schlüsse auf Zweifel stoßen, weil sie zu den Illusionen der Tagespraxis im Wiederspruch zu stehen scheinen, da ist es gut, daß der Feind dann und wann seine Karten aufdeckt und durch unzweideutige Aussage über seine Absichten jene Schlüsse bestätigt. Darin liegt die Bedeutung des vom Genossen Limbertz (1) auf dem Magdeburger Parteitage verlesenen Auszuges aus dem Zirkular des Generals von Bissing (2). Wohl kein Sozialdemokrat war darüber im Zweifel, daß die herrschenden Klassen zu jeder Art der Militärwillkür bereit sein würden, wenn es gilt, ihre Herrschaft gegen den Ansturm des Proletariats zu verteitigen. Aber es war gut, daß diese Bereitschaft sich einmal in ihrem ganzen rohen, volksfeindlichen und brutalen Charakter zeigt. Es ist bezeichnend, nur die Stelle aussuchte, wo betont wird, die Immunität der Reichstagsabgeordneten nicht zu beachten. Daß alle Arbeiterklätter ohne Grund einfach unterdrückt werden, daß unbescholtene Arbeiter nach der Willkür der Militärbehörden gegen alles Gesetz ihrer Freiheit beraubt werden sollen, bloß weil man sie als „Führer“ ansieht, das gewandte Schützen und Maschinengewehre gegen das Volk aufgeboten werden sollen, das alles erachten die liberalen Helden als Nebensache. Sie zetern nur darüber, daß die Heiligkeit der Parlamentarier verletzt werden könnte. Brutalitäten und Bluttaten gegen des Volk lassen sie kühl; sie regen sich nur darüber auf, daß die Illusion, Deutschland sei ein parlamentarisches Land, vor der Säbelgewalt wie Dunst zerfließen könnte. Mit Recht rief Pfannkuch (3) zwischen den Entrüstungsrufen über diesen Satz: „Habt ihr daran gezweifelt?“ Nein, wir haben nie daran gezweifelt, daß die herrschende Militärgewalt die papiernen Parlamentsrechte mit Füßen treten wird. Die Entrüstungsrufe sollten nur die offene Erklärung des Militärs unterstreichen, daß es die verfassungsmäßigen Rechte der Parlamentarier so wenig achten wird wie andere Volksrechte. Für uns liegt nun die Wichtigkeit dieses Zirkulars weniger in der Bestätigung unserer theoretischen Auffassungen als in den praktischen Konzequenzen, die sich daraus für unsere Taktik ergeben. Schon der Zeitpunkt, worin Limbetz es verlas, zu Anfang der Wahlrechtsdebatte, weist auf diese Konzequenzen hin, und er hat sie selbst in bündigster Weise gezogen, als er nach der Verlesung sagte: „Gerade diese Vorbereitungen beweisen, wie notwendig die Schulung der Massen ist, weil man versuchen will, ihr die Führer wegzuschnappen“. Zwei Auffassungen des politischen Massenstreiks stehen sich in der deutschen Arbeiterbewegung der Hauptsache nach gegenüber. Die eine hat sich vor allem in der Partei ausgebildet, zuerst als Antwort auf die Frage, was wir zu tun gedenken, wenn einmal ein Staatsstreich gegen das Reichstagswahlrecht versucht wird. Sie denkt sich eine plötzliche Entflamung der Massen, vielleicht ausgelöst, aber nicht einfach bewirkt durch einen Aufruf der Parteileitung. Wo er eine Antwort auf irgend eine Bluttat der herrschenden Gewalten ist, wird es sogar ohne einen solchen Aufruf spontan ausbrechen können. Die revolutionäre Situation, die eine gewaltige politische Leidenschaft und Tatkraft in der Masse entfesselt, bildet hier das Hauptmoment, und die Vorgänge in der russischen Revolution gaben für solche Massenstreiks die großen Beispiele ab. Natürlich ist das russische Beispiel nicht ohne weiteres auf Deutschland anzuwenden. Nicht so sehr, weil dort der Absolutismus, hier der Parlamentarismus herrst, denn der deutsche Scheinparlamentarismus dient nur als Feigenblatt des Absolutismus – sondern weil das deutsche Proletariat hoch organisiert ist. Durch eine lange gewerkschaftliche Praxis ist das organisierte Handeln den deutschen Arbeitern zur zweiten Natur geworden. Daher kann eine Massenaktion hier von vornherein nur als Aktion der großen Massenorganisationen, der Gewerkschaften, auftreten. An diesen Gedankengang hat die andere Auffassung des Massenstreiks angeknüpft, die vor allem bei führenden Gewerkschaftlern zu finden ist. Hiernach ist der politischen Massenstreik eine Aktion der Gewerkschaften, die von den Führern, der Generalkommission zusammen mit dem Parteivorstand beschlossen und auf ihre Weisung von den Massen ausgeführt wird. Dies ist an sich gar keine törichte Idee; sie schließt sich unmittelbar and die gewerkstaftliche Praxis der gewöhnlichen Steiks an. Ähnlich wie hier beschließen die Führer Anfang, Umfang und Ende, sie leiten die ganzew Bewegung, sie leiten die Verhandlungen, und jedes spontane, d.h. undisziplinierte Handeln der Massen ist strengstens auszuschließen. Diese Auffassung liegt auch der Mannheimer Resolution zugrunde, nach der der Parteivorstand, wenn er einen politischen Massenstreik für notwendig erachtet, sich mit der Generalkommission in Verbindung setzt, um alle Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um die Aktion erfolgreich durchzuführen. Aber die meisten Genossen, die ihr damals zustimmten, werden dies wohl nicht in einem solchen sonderbaren Sinne aufgefaßt haben, als in Magdeburg beim Genossen Leinert (4) am stärksten hervortratt: „Die Genossin Luxemburg (5) spricht von eventueller Kopflosigkeit der Massen. Das beweist ihre Unkenntnis von der Organisation. Müßten wir in 24 Stunden den Massenstreik durchführen und wäre die berufene Instanz einig, dann würde niemand kopflos sein“. Hier wird die Organisation zur Maschine, deren Einzelteile keinen Kopf zu haben brauchen, sondern von oben einfach in Bewegung gesetzt werden. An sich, losgelöst von Zeit und Raum, wäre ein derartig in Szene gesetzter Massenstreik nicht undenkbar. Wo die vollste Bewegungsfreiheit nach allen Seiten besteht, is ein solcher von oben beschlossener und geführter politischer Massenstreik sehr gut möglich und er ist auch tatsächlich schon vorgekommen. Er bietet dabei sogar als Bild des gut geleiteten, organisierten Massenhandelns einen geradezu erhebenden Anblick dar. Das unmögliche eines solchen Massenstreiks liegt in der praktischen Wirklichkeit der besonderen deutschen Verhältnisse. Weil das Proletariat rings von grausamen Feinden umgeben ist, die auf jede Gelegenheit lauern, es anzugreifen und vor keiner Gewalttätigkeit zurückscheuen, deshalb wird ihm zu einem solchen Kampfe keine Gelegenheit geboten. Daher kommt das von Bissingsche Zirkular gerade zur rechten Zeit, um gegen die mechanische Auffassung des Massenstreiks zu warnen. Bringt man es mit den wiederholten konservativen Äußerungen über den Massenstreik in Verbindung, so kann kein Zweifel bestehen, daß die herrschende Klasse auch gegen Massenstreiks zu jeder ungesetzlichen Gewalttat bereit ist. Wenn aber sofort alle Führer und die ganze Presse ausgeschaltet werden, bleibt von einer solchen von oben geleiteten Aktion nichts übrig. Und wie wird es erst sein, wenn der Massenstreik nicht sofort, sondern erst als Protest gegen vorhergegangene Bluttaten des Militärs ausbrechen soll? Dann könnte es sein, daß gar keine Führer mehr da sind, ihn zu beschließen und zu führen. Das Bissingsche Zirkular bedeutet den Zusammenbruch der bei vielen Gewerkschaftlern herrschenden Anschauung des Massenstreiks. Sie war aus der gewerkschaftlichen Praxis geboren und hatte als solche ihren berechtigten Kern. Sie verträgt sich aber nicht mit dem politischen Charakter des deutschen Militärstaats. Sie wird durch die Einsicht in die Notwendigkeit selbständiger, spontaner Aktionen der organisierten Massen ergänzt werden müssen, will sie haltbar sein. Das ist die Lehre, die uns der Feind bietet. Redaktionelle Anmerkungen1. Heinrich Wilhelm Limbertz (1874-1932); deutscher s.p.d.-Politiker und Reichstagsabgeordneter. 2. Moritz von Bissing (1844-1917); 1858 in den preußischen Freiherrenstand erhoben, war ein preußischer Generaloberst im Ersten Weltkrieg. 3. Wilhelm Pfannkuch (1841-1923); deutscher s.p.d.-Politiker und Gewerkschafter; 1898-1907 und 1912-1918 Mitglied des Reichtages. 4. Robert Leinert (1873-1940); deutscher s.p.d.-Politiker. 5. Rosa Luxemburg (1871-1919); Linkskommunistin, ermordert. Compiled by Vico, 9 September 2020 |
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