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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?


Das Ziel des Massenstreiks / Anton Pannekoek, 1910


Quelle:  Das Ziel des Massenstreiks / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 126, 2. Juli 1910


In dem Artikel „Eine neue Strategie“ in der „Neuen Zeit“, der die Diskussion über den Massenstreik weiterführt, hat Kautsky den Versuch gemacht, die künftige Form dieses Kampfmittels näher zu bestimmen. Er kommt dort zu dem Schluß, daß diese Form in Deutschland ganz anders sein wird als in Rußland, weil hier die hochentwickelten starken Organisationen beider Klassen die Tendenz hervorrufen, die Zusammenstoße und Entscheidungen seltener und gewaltiger zu machen. Anstatt einer längeren Kampfperiode, wie dort, wird er hier ein einzelner Akt sein, eine gewaltige Entscheidungsschlacht, worin das Proletariat all seine Macht zusammenzieht und den Gegner niederwirft und zu Übergabe zwingt. Nun ist die Begründung dieser Auffassung unzureichend, denn mögen auch die beiden einander gegenüber stehenden Armeen noch so sehr den Wunsch haben, in einer einzigen Schlacht eine Entscheidung herbeizuführen, so hängt es doch nicht von ihren Willem ab,ob es möglich ist. Zu gewaltig ist das Kampfobjekt, die ganze gesellschaftliche Herrschaft. Darin ist mehr enthalten, als durch eine einzelne große Schlacht gewonnen werden kann. Die Formen des Kampfes lassen sich erst klar erkennen, wenn man die Ziele, die damit erreicht werden sollen,klar ins Auge faßt.

Die Schilderung eines großen Massenstreiks, wi er so oft gegeben wird, sieht sehr verführerisch aus: wie er in wenigen Tagen gewaltig emporwächst, immer weitere Arbeitsschichten ergreift, das ganze gesellschaftliche Leben lähmt, die Bourgeoisie in Schrecken versetzt, die Regierung ratlos macht, das Militär aufreibt und seine Disziplin lockert und schließlich die Regierung zur Kapitulation zwingt. Genau so verführerisch wie früher die anarchistische Beschreibung des Generalstreiks, der die ganze Gesellschaft auf einmal umwälzen sollte. Sie ist insoweit richtiger, daß sie die einzelnen Momente des Kampfes klar und bestimmt angibt. Aber sie leidet an demselben Fehler dadurch, daß sie diese alle auf einmal innerhalb weniger Tagen entstehen läßt. Sie letzt ihre Bedingungen alle als vorhanden voraus: das ganze Proletariat, bereit auf die erste Kunde hin in den Ausland zu treten, die militärisch Disziplin bei einem einzigen Stoß in nichts ausopfern wollen, kann sich nicht in zwei Tagen vollziehen. Wenn auch der letzte Tagt immer den letzten Stoß gibt, kann erst eine längere revolutionäre Periode die Bedingungen dazu schaffen. Um so mehr, als noch viel mehr nötig ist, als der Mut zur einmaligen Revolte.

Eine einmalige Revolte einer entbehrlich[?] unterdrückten Klasse kann nie genügen, ein System zu stürzen. Ein system kann nur gestürzt werden, wenn die Sieger alle Fähigkeiten besitzen, die Stelle der früheren Herrscher einzunehmen und ihnen dauernd überlegen sind. Das erste Mal, wenn eine Streikbewegung so gewaltig anschwillt, daß sie die Verkehrsarbeiter mitschleppt, wird ddie herrschende Klasse zwar besiegt werden, aber damit noch nicht überwunden sein. Sie verfügt über Schlauheit und Betrug, sie wird versuchen, durch Konzessionen die Masse zu beschwichtigen, und sie zugleich durch Gewaltakte gegen Einzelne einzuschüchtern. Und diesen Massen, die zum ersten Male in den Kampf treten, fehlt die innere Festigkeit, der unerschütterliche Organisationsgeist und die sozialistische Erfahrung. Daher werden Rückschlage unvermeidlich sein, die neue Kämpfe nötig machen. In diesen Kämpfen müssen sich die immer neu eintretenden Massen eiserne Organisationen schmieden und sozialistische Einsicht und politische Reife erwerben. Der einzelne siegreiche Akt wird eine Etappe auf dem Weg zur Macht sein; darin, und nicht in der unmöglichen völligen Vernichtung des Feindes liegt seine Bedeutung.

Die Vernichtung der Kapitalherrschaft hat zur Grundbedingung, daß die Masse des Proletariats kräftig organisiert ist, vom Geiste des Sozialismus beherrscht wird, durch klare Einsicht und durch kräftige Disziplin den anderen Klassen überlegen ist. Sind diese Bedingungen erfühllt, so ist der Kapitalismus unmöglich geworden. Soweit kann man es mit den bisherigen Kampfmitteln nicht bringen. Die bisherigen parlamentarischen und gewerkschaftlichen Methoden waren nötig, um den Kern zu bilden, um den sich dann die ganze proletarische Masse kristallisieren kann, um die klassenbewußte Millionenmasse zusammenbringen, die in Stande ist solche Riesenkämpfe erst anzufangen. Um sie zu Ende zu führen, ist eine ganz andere Macht nötig, und diese Macht zu schaffen, ist das erste große Ziel der dann hinzutretenden Methode des Massenstreiks.

Daneben tritt gleichzeitig als Ziel die Auflösung der Macht des Gegners seiner staatlichen Organisation und zerfallend, die herrschende Klasse völlig am End ihres Lateins. Als einziges Zielo des Massenstreiks bliebe dann nur die Zerstörung der Organisation des Staatsgewalt. In wirklichkeit können alle jene Momente des Massenstreiks selbst nur Ergebnisse einer langen Kampfperiode sein, deie Frucht einer revolutionären Epoche. Sie sind die eigentlichen Ziele des Massenstreiks, die mit schwerer Mühe und vielen Opfern herzustellen den Inhalt des großen revolutionären Endkampfes bildet; sind sie einmal da, dann fließt die Desorganisierung der Staatsgewalt von selbst als Resultat aus dieser Lage hervor.

Soll ein politischer Streik als Massenstreik gewaltig wirken,so darf er sich nicht auf die gut zwei Millionen Arbeiter beschränken, die jetzt gewerkschaftlich organisiert sind. Dann müssen auch die sieben Millionen Unorganisierter mittun. Wird man also warten müssen,bis diese alle gewerkschaftlich organisiert sind? So sehr wir überzeugt sind, daß die Gewerkschaften noch lange nicht an den Grenzen ihres Wachstums angelangt sind, steht doch fest, daß viele dieser Millionen der gewerkschaftlichen Organisation äußerst schwierig zugänglich sind. Sie werden weit eher durch politische Massenstreikbewegungen aufgerüttelt und in den Kampf gezogen werden.

Das gilt vor allem für die Arbeiterschichten, von denen der ungehörte gesellschaftliche Betrieb am meisten abhängt. Ein Streik von einem Monat in der Holz- oder Metallindustrie ist leichter auszuhalten, als ein Verkehrsstreik von einer Woche. Das weiß der Klassenstaat so gut wie wir, und er hat deshalb die Verkehrsarbeiter – Eisenbahner, Post- und Telegraphbeamte – halb militärisch organisiert, so daß ein Streik in diesen Betrieben einen Anstrich von Meuterei bekommt. Daher ist es ausgeschlossen, daß solche Proletarier von Anfang an mittun. Werden sie überhaupt nicht mittun? Das zu glauben würde heißen, daß die herrschenden sich durch die stärkere Versklavung dieser Arbeiter überhaupt gegen den Sturz ihrer Herrschaft gesichert hätten. Auch diese schwer gedrückten Proletarier werden sich einmal erheben, aber erst dann, wenn durch eine große Streikbewegung eine hochgradige politische Erregung geschaffen und die Autorität der Regierung schon bedeutend geschwächt ist.

Ein solcher Umschwung des Denkens und Handelns, die Umwandlung von unterwürfigen Beambten, die nur an sich selbst denken, zu trotzigen kämpfern, die sich ihrer Macht bewußt sind und sich für die gemeinsame Sache seiner militärischen Macht. Durch die Berechnung, wie zahlreich in der deutschen Armee die städtischen und proletarischen Elemente sind, darf man sich doch nicht der Illusion hingeben, sie werden auf dem ersten Schlage den herrschenden aus den Händen fallen. Die Macht der militärischen Disziplin kann auch erst allmählich, wenn sie öfters großen Massenbewegungen gegenüber gestellt wird, soweit zerrüttet werden, daß sie schließlich zerbricht. Die verschiedene Zusamensetzung der Armee hier und in Rußland wird sich nicht darin aussprechen, daß hier die Armee von vornherein revolutionär ist, sondern daß sie schließlich revolutionär wird, während sie sich in Rußland als kontrarevolutionäre Macht bewährte.

Die Anschauung, daß die Niederwerfung der kapitalistenherrschaft nicht das Resultat eines einzigen gewaltigen Massenstreiks sein kann, ist also nicht, wie Kautsky glaubt eine einfache Übertragung russischer auf Deutschland. Hier wird jede Aktion durch die Organisation der Massen gewaltiger sein, aber dafür ist hier auch die Staatsgewalt mächtigter und das zu erreichende Ziel geewaltiger. Unsere Anschauung liegt in dem Wesen des Massenstreiks selbst begründet, in dem Wiederspruch, daß seine Bedingungen – Organisation und Einsicht der Massen, Schwächung der Regierungsmacht – nur durch ihn selbst geschafren werden können. Dieser Widerspruch, der viele revisionistische Schriftsteller dazu geführt hat, ihn überhaupt für unmöglich zu erklären, löst sich in der Praxis als ein Entwicklungsprozeß, worin jeder Akt die Bedingungen zu weiteren Akten hervorbringt. Die Anfänge dieser Entwicklung, die ersten Anwendungen der neuen Waffe, schließen sich in natürlicher Weise an die politischen und gewerksfchaftlichen Kämpfe der heute vorhandenen proletarischen Orgaanisationen an. Am Einde dieser Entwicklung steht das ganze Proletariat als organisierte, einsichtsvolle, zum herrschen fähige Klasse da; die lange, schwere Organisation des Sieges ist vollendet, die Organisation der Arbeit fängt an.


Compiled by Vico, 1 September 2020