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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?


Marxistische Theorie und revolutionäre Taktik [1-3] / Anton Pannekoek, 1912


Quelle:  Marxistische Theorie und revolutionäre Taktik [1-3] / Anton Pannekoek. – In: Die Neue Zeit, 31. Jg. (1912-1913), 1. Bd., Nr. 8, 22. November 1912, S. 272-281. Korrigierter OCR.


1. Unsere Differenzen

Die Tatsache liegt vor uns, daß seit einigen Jahren an immer neuen Objekten tiefgehende taktische Gegensätze zutage traten zwischen denjenigen, die früher als Marxisten auf demselben Boden standen und gemeinsam den Kampf für die radikale Taktik des Klassenkampfes gegen den Revisionismus führten. Zuerst brachen sie 1910 scharf hervor in der Diskussion über den Massenstreik zwischen Kautsky und Rosa Luxemburg; dann kamen die Gegensätze über den Imperialismus und die Abrüstungsfrage hinzu, und schließlich griffen sie in der Beurteilung des Stichwahlabkommens des Parteivorstandes und in der Stellung zum Liberalismus auf die wichtigsten Fragen der parlamentarischen Politik über.

Man mag die Tatsache bedauern, aber keine Liebe zur Partei kann sie aus der Welt schaffen; sie kann bloß – und das erfordert das Interesse der Partei – geklärt werden. Einerseits muß ihre Ursache erkannt werden, damit sie als natürlich und unvermeidlich hervortritt; andererseits muß der Inhalt der beiden Anschauungsweisen, müssen ihre tiefsten Grundgedanken und ihre weitesten Konsequenzen möglichst klar aus den beiderseitigen Äußerungen herausgeschält werden, damit die Parteigenossen sich orientieren und wählen können; das ist nur durch eine theoretische Diskussion möglich.

Die Ursache der neuen taktischen Differenzen liegt auf der Hand: unter dem Einfluß der modernen Formen des Kapitalismus haben sich in der Arbeiterbewegung neue Aktionsformen ausgebildet, die Massenaktionen. Bei ihrem ersten Auftreten wurden sie von allen Marxisten begrüßt und propagiert als ein Zeichen der revolutionären Entwicklung, als eine Konsequenz unserer revolutionären Taktik. Als sie sich aber zu einer machtvollen Praxis entwickelten, stellten sie neue Probleme; die Frage der sozialen Revolution – bisher ein Endziel in ungreifbarer Ferne – erhob sich als eine beginnende Gegenwartsfrage vor den Augen des kämpfenden Proletariats, und jetzt mußte die ganze ungeheure Schwere der Aufgabe jedem gleichsam aus eigener Erfahrung heraus klar werden Daraus erwuchsen zwei Geistesrichtungen; die eine ergriff das Problem der Revolution und suchte durch Erforschung der Wirkung, der Bedeutung und der Macht der neuen Aktionsformen zu erfassen, wie es dem Proletariat möglich sein wird, die Aufgabe zu lösen; die andere, gleichsam vor der Schwere der Ausgabe zurückschreckend, spürte ein den älteren parlamentarischen Aktionsformen nach Tendenzen, die gestatteten, ihre Inangriffnahme vorläufig noch aufzuschieben. Die neue Praxis der Arbeiterbewegung hat eine Trennung der Geister unter den bisherigen Verfechtern der radikalen marxistischen Parteitaktik bewirkt.

Unter diesen Verhältnissen ist es unsere Pflicht als Marxisten, durch eine theoretische Diskussion die Gegensätze möglichst zu klären. Deshalb haben wir in unserem Artikel „Massenaktion und Revolution“ zuerst, gleichsam als Grundlage unserer Anschauungsweise, den Prozeß der revolutionären Entwicklung als einen Prozeß der Umwälzung der Machtverhältnisse der Klassen dargelegt und in einer Kritik zweier Artikel von Kautsky den Gegensatz unserer Anschauungen klarzumachen versucht. Kautsky hat in seiner Antwort die Sache auf ein anderes Gebiet geschoben; statt die Richtigkeit theoretischer Anschauungen zu kritisieren, hat er uns vorgeworfen, wir wollen der Partei eine neue Taktik aufzwingen. Inder „Leipziger Volkszeitung“ vom 9. September (*) haben wir nachgewiesen, wie damit der ganze Sinn unserer Ausführungen auf den Kopf gestellt wurde. (**)

Wir hatten uns bemüht, den Unterschied der drei Richtungen, die jetzt in der Partei einander gegenüberstehen – zwei radikale und die revisionistische – so gut wie möglich klarzustellen. Dem Genossen Kautsky scheint der Sinn dieser ganzen Darlegung entgangen zu sein, denn ärgerlich bemerkt er:

„Meine Auffassung erscheint Pannekoek als purer Revisionismus“ (S. 694)

Wir haben gerade umgekehrt nachgewiesen,daß die Auffassung Kautskys kein Revisionismus ist. Gerade weil viele Genossen, in denen durch die bisherigen Kämpfe der Gegensatz Radikalismus-Revisionismus eingeprägt war und die nach diesem Schema unsere heutigen Differenzen zu bewerten suchen, mitunter an Kautsky irre wurden und fragten, ob er denn allmählich zum Revisionisten werde – gerade deshalb war es nötig, dem entgegenzutreten und aus der besonderen Natur des radikalen Standpunktes Kautskys seine praktische Stellungnahme zu verstehen. Während für den Revisionismus unsere Tätigkeit sich im parlamentarischen Kampfe und im Gewerkschaftskampf, zur Erringung von Reformen und Verbesserungen erschöpft und wir dadurch von selbst in den Sozialismus hineinwachsen – aus dieser Auffassung ergibt sich die nur auf augenblickliche Verbesserungen gerichtete reformistische Taktik – betont der Radikalismus die Unvermeidlichkeit eines noch vor uns liegenden revolutionären Kampfes zur Eroberung der Herrschaft und richtet er deshalb seine Taktik auf die Steigerung des Klassenbewußtseins und der Macht des Proletariats. Über diese Revolution sind nun unsere Meinungen aus einander gekommen. Für Kautsky bildet sie einen Akt in der Zukunft, eine politische Katastrophe, und haben wir uns bis dahin nur auf jene große Entscheidungsschlacht vorzubereiten, indem wir unsere Macht zusammenbringen, unsere Truppen sammeln und sie einüben. Für uns ist sie ein Prozeß der Revolution – in dessen erste Anfänge wir schon hineinwachsen –, weil die Massen erst gesammelt, eingeübt und zu einer zur Eroberung der Herrschaft fähigen Organisation gemacht werden können durch den Kampf um die Herrschaft selbst. Diese Verschiedenheit der Auffassung ergibt eine durchaus verschiedene Bewertung der Gegenwartsaktionen und es ist klar, daß die revisionistische Ablehnung jeder revolutionären Aktion und ihre Hinausschiebung in unbestimmte Ferne bei Kautsky sie in mancher Gegenwartsfrage einander nahe bringen müssen, in der sie zusammen uns gegenüberstehen.

Natürlich soll das nicht besagen, daß diese Richtungen schon in sich geklärte, voneinander deutlich abgegrenzte Gruppen in der Partei bilden – sie sind zum Teil erst miteinander ringende Gedankenströmungen. Auch bedeutet es nicht eine Verwischung der Grenzlinie zwischen dem Kautskyschen Radikalismus und dem Revisionismus, sondern nur eine Annäherung, die freilich, durch die innere Logik der Entwicklung, immer weiter gehen wird. () Denn ein wirklicher passiver Radikalismus wird in den Massen seinen Boden verlieren müssen. So notwendig es war, sich in der Zeit des ersten Emporkommens der Bewegung auf die bisherigen Kampfmethoden zu beschränken so unvermeidlich muß dann eine Zeit folgen, in der das Proletariat sein gestiegenes Machtbewußtsein in die Erringung neuer entscheidender Machtpositionen umsetzen will. Die Massenaktionen im Kampfe um das preußische Wahlrecht zeigen diesen Willen. Auch der Revisionismus war ein Ausdruck dieses Strebens, positive Erfolge als Früchte der gesteigerten Macht zu erzielen; und er hat, trotz aller Enttäuschungen und Mißerfolge seinen Einfluß vor allem der Vorstellung zu verdanken, daß die radikale Parteitaktik nur ein passives Abwarten ohne Gewinnung bestimmter Erfolge bedeute und der Marxismus eine fatalistische Lehre sei. Von dem Kampfe um die Erringung neuer wichtiger Positionen kann das Proletariat nicht lassen; wer ihn nicht auf revolutionärem Wege führen will, wird unwiderstehlich, auch gegen seinen Willen, immer weiter auf den reformistischen Weg gedrängt, positiven Erfolgen durch eine besondere Parlamentstaktik und Abmachungen mit anderen Parteien nachzustreben.

2. Klasse und Masse

Wir hatten dem Genossen Kautsky vorgeworfen, bei seiner Untersuchung der Aktion der Masse habe er sein marxistisches Rüstzeug zu Hause gelassen und die Fehlerhaftigkeit seiner Methode ergehe sich schon sofort daraus, daß er zu keinem bestimmten Resultat komme. Kautsky antwortet darauf:

„Mit nichten. Ich habe das Ergebnis meiner Untersuchung sehr bestimmt dahin formuliert, daß jene unorganisierte Masse, die ich untersuche, höchst unberechenbarer Natur sei“ (S. 655)

Und er weist auf den Flugsand der Wüste hin, der auch unberechenbar ist. Mit allem Respekt vor diesem Beispiel müssen wir jedoch unsere Beweisführung aufrecht halten. Wenn man eine Erscheinung untersucht, und man kommt zu dem Ergebnis, daß sie bald so, bald anders stattfindet und völlig unberechenbar ist, so beweist das bloß, daß man die wirkliche Ursache, die sie beherrscht, nicht gefunden hat. Wenn einer zum Beispiel nach einer Betrachtung der Monderscheinungen das Ergebnis seiner Untersuchung „sehr bestimmt dahin formuliert“, daß der Mond bald im Nordosten, bald im Süden, bald im Westen steht, ganz regellos und unberechenbar, dann wird jeder mit Recht sagen, daß seine Untersuchung resultatlos geblieben ist – natürlich kann es sein, daß die hier wirkende Ursache überhaupt noch nicht auffindbar ist. Ein Vorwurf kann daraus nur erwachsen, wenn er die ihm bekannte Forschungsmethode, die hier allein Resultate geben kann, völlig außer acht gelassen hat.

So liegt die Sache mit Kautskys Behandlung der Aktion der Masse in der Geschichte. Er sieht, wie die Massen jedesmal anders, bald reaktionär, bald revolutionär auftraten, bald aktiv, bald passiv waren, und er schließt, daß auf diesem unberechenbaren Flugsands nicht zu bauen ist. Was sagt uns aber die marxistische Theorie? Das gesellschaftliche Handeln der Menschen wird – von individuellen Abweichungen abgesehen, also für größere Massen – bestimmt durch ihre materielle Lage, ihre Interessen und die daraus entspringenden Anschauungen – wobei eine Korrektur für die Macht der Tradition vorzunehmen ist –, die für die verschiedenen Klassen verschieden sind. Will man also ihr Auftreten verstehen, so muß man die verschiedenen Klassen scharf auseinander halten; die Aktionen einer lumpenproletarischen einer kleinbürgerlichen, einer bäuerlichen, einer modern-proletarischen Masse müssen durchaus verschieden sein. Indem Kautsky sie alle unterschiedslos zusammenwirft, konnte er natürlich zu keinem Resultat kommen; aber die sich aus der geschichtlichen Untersuchung ergebende Unberechenbarkeit liegt nicht im Untersuchungsobjekt, in der Masse, sondern in der mangelhaften Methode.

Für die heutige Masse gibt Kautsky einen anderen Grund an, weshalb er ihren Klassencharakter außer acht ließ: als Mischung vieler Klassen hat sie keinen bestimmten Klassencharakter:

„Auf S. 45 meines Artikels untersuchte ich, welche Elemente heute in Deutschland bei solchen Aktionen in Frage kommen könnten. Ich kam zu dem Resultat daß dazu ohne Kinder und landwirtschaftliche Bevölkerung etwa 30 Millionen zu rechnen seien, wovon etwa ein Zehntel organisierte Arbeiter. Den Rest bilden unorganisierte Arbeiter, zum großen Teil noch mit Ideengängen der Bauernschaft, des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats infiziert, und endlich nicht wenige Mitglieder der letzten zwei Schichten selbst.
„Auch jetzt, nach Pannekoeks Tadel, ist es mir noch nicht klar geworden, wieso ich in einer so bunt gemischten Masse einen einheitlichen Klassencharakter entdecken könnte. Das „marxistische Rüstzeug“, das habe ich nicht etwa „zu Hause gelassen“, sondern nie besessen. Genosse Pannekoek meint hier offenbar, das Wesen des Marxismus bestehe darin, überall, wo von Masse die Rede, darunter eine bestimmte Klasse zu verstehen, und zwar heute das industrielle, klassenbewußte Lohnproletariat“ (S. 656).

Kautsky macht sich hier schlechter, als er ist. Um einen gelegentlichen Fehler zu verteidigen, verallgemeinert er ihn, und zwar mit Unrecht. Um in dieser „bunt gemischten Masse“ einen bestimmten Klassencharakter zu entdecken – er sagt „einheitlichen“, aber es ist klar, daß es sich nur um einen vorwiegenden Klassencharakter handelt, den Charakter der Klasse, die die Mehrheit bildet und deren Anschauungen und Interessen den Ausschlag geben, wie heute die des industriellen Proletariats –, habe er nie ein ,,marxistisches Rüstzeug“ besessen. Da irrt er sich aber. Denn diese selbe Masse, noch bunter gemischt durch das Hinzutreten der Landbevölkerung, tritt auch in der parlamentarischen Politik auf. Und da sehen wir – alle sozialdemokratischen Schriften gehen davon aus –, daß der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat den Hauptinhalt dieser Politik bildet, daß die Anschauungen und Interessen der Lohnarbeiter diese ganze Politik beherrschen und als Anschauungen und Interessen des Volkes schlechtweg gelten. Was für die Massen in der parlamentarischen Politik gilt, soll auf einmal nicht mehr gelten, sobald sie zu Massenaktionen greifen?

Umgekehrt, in den Massenaktionen tritt der proletarische Klassencharakter noch stärker hervor. In der parlamentarischen Politik zählt das ganze Land mit, auch die entlegensten Dörfer und Kleinstädte; die Konzentration der Menschen spielt keine Rolle. In den Massenaktionen handelt es sich vor allem um Aktionen der dichtgedrängten großstädtischen Massen. Und hier finden wir, daß nach der neuesten Reichsstatistik in den 42 deutschen Großstädten, nach Ausscheidung von 25 vom Hundert nicht gut bestimmbaren Berufslosen, die Bevölkerung sich in 15,8 vom Hundert Selbständige, 91 vom Hundert Angestellte und 75,0 vom Hundert Arbeiter gliedert. Wenn man dann dazu bedenkt, daß von der industriellen Arbeiterschaft in Deutschland 1907 15 vom Hundert in Kleinbetrieben 29 vom Hundert in Mittelbetrieben, 56 vom Hundert in Groß- und Riesenbetrieben arbeitete, dann wird klar, in wie hohem Maße schon der Charakter des großindustriellen Lohnarbeiters auf die für Massenaktionen in Betracht kommenden Massen seinen Stempel drückt Wenn Kautsky hier nur eine bunt gemischte Masse sieht so weil er erstens die Frauen der organisierten Arbeiter einfach der unorganisierten Masse von 27 Millionen zuzählt, und zweitens den unorganisierten oder noch in bürgerlichen Traditionen befangenen Arbeitern den proletarischen Klassencharakter aberkennt. Deshalb weisen wir noch einmal darauf hin, daß im Fortschreiten dieser Aktionen, bei denen die tiefsten Interessen und Leidenschaften der Massen zum Durchbruch kommen, nicht die Angehörigkeit zur Organisation, nicht eine traditionelle Ideologie, sondern immer mehr der reale Klassencharakter den Ausschlag gibt.

Damit wird auch das Verhältnis unserer Methoden klar. Kautsky wirft mir vor,daß meine Methode „vereinfachter Marxismus“ ist; ich bestätige ihm nochmals, daß die seinige weder ein vereinfachter noch ein komplizierten, sondern gar kein Marxismus ist. Jede Wissenschaft die ein Stück Wirklichkeit erforschen will, muß damit anfangen, die Hauptsachen, die Grundursachen in ihrer einfachsten Gestalt herauszufinden; indem sie dann nachher immer weitere Einzelheiten, Nebenursachen und weiter abliegende Kräfte zur Korrektur des ersten Resultats hinzuzieht, wird das erste einfache Bild ergänzt, verbessert, weiter kompliziert und so der Wirklichkeit immer mehr angenähert Nehmen wir das Beispiel der von Kautsky herangezogenen großen französischen Revolution. In erster Annäherung ergibt sich hier ein Klassenkampf zwischen der Bourgeoisie und den feudalen Klassen; eine Darlegung dieser Hauptsache, deren allgemeine Richtigkeit nicht bestritten werden kann, wäre als „vereinfachter Marxismus“ zu bezeichnen Kautsky hat 1889 in seiner Broschüre die Gliederungen innerhalb jener Klassen untersucht und konnte dadurch das erste einfache Bild erheblich verbessern und vertiefen. Der Kautsky von 1912 würde jedoch sagen: in dieser bunt gemischten Masse, die den damaligen dritten Stand darstellte, ist nichts Einheitliches zu entdecken; es ist vergebens, hier bestimmte Aktionen und Resultate zu erwarten. So liegt die Sache auch hier – nur um so Viel schwieriger, da es sich um die Zukunft handelt deren bestimmenden Kräften es in den heutigen Klassen nachzuspüren gilt. In einer ersten Annäherung, um einen ersten allgemeinen Einblick zu bekommen, kann es sich nur um die große Hauptsache der kapitalistischen Welt, um den Kampf der beiden Hauptklassen Bourgeoisie und, Proletariat handeln; den Prozeß der Revolution als eine Entwicklung ihrer Machtverhältnisse haben wir in kurzen Strichen zu zeichnen versucht. Natürlich wissen wir sehr gut, daß die Wirklichkeit sehr viel komplizierter ist und daß zu ihrer Erfassung noch viele Probleme zu lösen sind – teilweise werden wir da auf die Belehrung der Praxis warten müssen. Die Bourgeoisie ist so wenig eine einheitliche Klasse wie das Proletariat; in beiden wirken noch Traditionen nach; in der Volksmasse treten noch Lumpenproletarier, Kleinbürger, Angestellte auf, deren Handeln aus ihrer speziellen Klassenlage abzuleiten ist. Da sie aber nur Beimischungen bilden, die den lohnproletarischen Hauptcharakter der Masse nicht verwischen können, kann das alles nur als eine Korrektur gelten, die das erste Bild weiter ausbaut, ohne es unrichtig zu machen. Zur Bewältigung und Klärung dieser Fragen ist das Zusammenwirken vieler Kräfte in Gestalt einer Diskussion nötig. Branchen wir zu sagen, daß wir da vor allem auf die Hilfe des Autors der „Klassengegensätze von 1789“ rechneten, der durch seine Kritik unserer Skizze auf die noch ausstehenden Probleme und Schwierigkeiten hinweisen könnte? Aber der Kautsky von 1912 erklärt sich außerstande, an dieser wichtigsten Frage für das kämpfende Proletariat, der Erkenntnis der Kräfte, die seinen kommenden revolutionären Kampf gestalten werden, mitzuarbeiten, denn er wisse nicht, wieso er „in einer so bunt gemischten Masse“ wie der heutigen proletarischen Masse einen „einheitlichen Klassencharakter“ entdecken könnte…

3. Die Organisation

In der „Leipziger Volkszeitung“ haben wir nachgewiesen, daß Kautsky mit Unrecht aus unserer Betonung des Organisationsgeistes als das Wesentliche der Organisation ableitet, daß nach meiner Auffassung der Organisationskörper nicht nötig sei. Es bedeutet, daß trotz aller Angriffe auf die äußeren Verbandsformen die Massen, in denen dieser Geist lebt, sich immer wieder zu neuen Organisationen zusammenschließen werden. Und wenn Kautsky erwartet, daß der Staat sich hüten wird, die Arbeiterorganisationen anzugreisen – in 1903 war er noch entgegengesetzter Meinung; siehe Protokoll Dresden, S 883 –, so kann auch nur der von ihm verspottete Organisationsgeist diesen Optimismus begründen.

Der Organisationsgeist ist ins der Tat die bewegende Seele, die dem Körper erst Lebenskraft und Aktionsfähigkeit gibt. Aber diese unsterbliche Seele kann nicht nach christlicher Theologie leiblos im Himmelreich schweben; sie schafft sich immer wieder den Organisationskörper, weil sie die Menschen, in denen sie lebt, zum gemeinsamem organisierten Handeln zusammenfügt. Dieser Geist ist nicht etwas Abstraktes, Vorgestelltes im Gegensatz zu der „konkreten wirklichen Organisation“, der bestehenden Vereinsform, sondern er ist genau so konkret und wirklich wie diese. Er bindet ihre Elemente, die einzelnen Personen, fester zusammen, als Satzung und Statut sie binden können, so daß sie nicht mehr in lose Atome auseinanderfallen, wenn das äußere Band mit Satzung und Statut wegfällt. Wenn die Organisationen als gewaltige, feste, nicht zu spaltende Massenkörper austreten und handeln können, wenn weder im Angriff und im Kampfe, noch beim Abbruch des Kampfes oder bei einer Niederlage die Geschlossenheit zerbricht, wenn alle als die selbstverständlichste Sache der Welt das eigene Interesse gegen das Interesse der Gesamtheit zurückstellen – so liegt der Grund dazu nicht in den Statutenbestimmungen über Rechte und Pflichten der Mitglieder, auch nicht in der Zaubermacht der Kassen oder der demokratischen Verfassung, sondern in dem Organisationsgeist des Proletariats, in der tiefen Umwandlung seines Charakters. Was Kautsky über die Machtmittel der Organisation sagt, ist gewiß sehr richtig; die Güte der Rüstung, die das Proletariat sich schmiedet, gibt Selbstvertrauen und Kraftgefühl – über die Notwendigkeit für die Arbeiter, sich möglichst gut zu rüsten in kräftigen Zentralverbänden mit guten Kassen, besteht keine Meinungsverschiedenheit unter uns. Aber die Vorzüglichkeit dieser Rüstung beruht als Grundlage auf der Opferwilligkeit der Mitglieder, auf ihrer Disziplin gegen den Verband, aus ihrer Solidarität gegenüber den Genossen, kurz daraus, daß sie ganz andere Menschen geworden sind als die alten individualistischen Kleinbürger und Bauern. Wenn Kautsky diesen neuen Charakter, den Organisationsgeist, für eine Folge der Organisation erklärt, so braucht das erstens zu unserer Auffassung nicht in Widerspruch zu stehen, und zweitens ist es nur halbwegs richtig. Denn diese Umwandlung der menschlichen Natur im Proletariat ist zuerst eine Wirkung der Lebenslage der Arbeiter, die schon durch die gemeinsame Ausbeutung als Masse in derselben Fabrik zum gemeinsamen Handeln erzogen werden, und weiter eine Wirkung seines Klassenkampfes, also der Kampfpraxis der Organisation – die Vereinspraxis des Wählens von Vorständen und des Zahlens von Beiträgen dürfte dabei wohl die allergeringste Rolle spielen.

Worin das Wesen der proletarischen Organisation besteht, ergibt sich sofort, Wenn man sich die Frage stellt,was eigentlich eine Gewerkschaft unterscheidet von einem Skatklub, einem Verein zur Bekämpfung der Tierquälerei oder einem Unternehmerverband. Kautsky stellt sich offenbar diese Frage nicht und sieht keinen tiefgehenden prinzipiellen Unterschied zwischen ihnen; daher stellt er auch die gelben Vereine, in die die Unternehmer ihre Arbeiter hineinzwingen, als etwas Gleichartiges neben die kämpfenden proletarischen Organisationen. Er sieht die weltumwälzende Bedeutung der proletarischen Organisation nicht; Er glaubte uns Mißachtung der Organisation vorwerfen zu können; in Wirklichkeit schätzt er sie viel niedriger ein als wir. Von allen anderen Vereinen unterscheiden sich die Arbeiterorganisationen dadurch, daß in ihnen die Solidarität, die völlige Unterordnung des einzelnen unter die Gemeinschaft als das Wesen eines neuen, werdenden Menschtums auswächst und ihre Kraft bildet. Die proletarische Organisation macht die zuvor zersplitterte machtlose Masse zu einer Einheit, zu einem Wesen mit bewußtem Willen und selbständiger Kraft. Sie bildet den Anfang eines Volkes, das sich selbst verwaltet, das eigene Schicksal regelt und dazu zuerst die fremde Zwangsgewalt von sich abwälzt. In ihr wächst die einzige Macht empor, die die Klassenherrschaft des Ausbeutertums beseitigen kann; das Wachsen der proletarischen Organisation bedeutet im Prinzip schon das Zurückdrängen aller Funktionen der Klassenherrschaft; sie ist die selbstgeschaffene Ordnung des Volkes, die im zähen Kampfe die störenden Brutalitäten und despotischen Unterdrückungsversuche der herrschenden Minderheit zurückdrängen und beseitigen muß. In der proletarischen Organisation wächst die neue Menschheit empor, die jetzt zum ersten Male in der Weltgeschichte als eine zusammenhängende Einheit im Entstehen begriffen ist; die Produktion wächst zu einer einheitlichen Weltwirtschaft zusammen, und in den Menschen wächst zugleich das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, die feste Solidarität, die Brüderlichkeit, die sie zu einem von einheitlichem Willen beherrschten Organismus zusammenbinden.

Für Kautsky besteht die Organisation nur in dem „wirklichen konkreten“ Verband oder Verein, von den Arbeitern zu irgend einem praktischen Zwecke in ihrem Interesse geschaffen und, ähnlich wie ein Unternehmerverband oder ein Krämerverein, nur durch äußere Bindung und Satzung des Statuts zusammengehalten. Fällt dieses äußere Band weg, so fällt das Ganze wieder in Einzelindividuen auseinander und ist die Organisation verschwunden. Aus dieser Auffassung wird es verständlich, weshalb Kautsky die Gefahren, die die Organisation von innen heraus bedrohen, so schwarz ausmalt und so eindringlich gegen unvorsichtige „Kraftproben“ warnt, die Entmutigung, Massendesertion und Untergang der Organisation mit sich schleppen. In dieser Allgemeinheit läßt sich gegen eine solche Mahnung nichts einwenden; unvorsichtige Kraftproben will ja kein Mensch. Die von Kautsky hervorgehobenen schlimmen Folgen einer Niederlage sind auch keine Phantasien; sie entsprechen der Erfahrung einer anfangenden Arbeiterbewegung. Wenn die Arbeiter zuerst zum Organisationsleben erwachen, erwarten sie große Dinge von ihr und ziehen voll Begeisterung in den Kampf; geht der Kampf verloren, dann kehren sie oft enttäuscht und mutlos der Organisation den Rücken, weil sie sie nur von dem unmittelbar praktischen Standpunkt, als Vereine für direkte Vorteile betrachten und der neue Geist in ihnen noch nicht fest Wurzel fassen konnte. Welch ein ganz anderes Bild bietet aber die entwickelte Arbeiterbewegung, wie sie den fortgeschrittensten Ländern immer stärker ihre Züge aufprägt! Immer wieder sehen wir hier, wie die Arbeiter an ihrer Organisation mit der größten Zähigkeit festhalten, wie sie in großen Kämpfen alles aufs Spiel setzen, um ihre Organisationen zu behalten, wie sie durch keine Niederlage und kaum durch den schlimmsten Terrorismus von oben dazu zu bewegen sind, die Organisation aufzugeben. Sie sehen nicht bloß in der Organisation einen Verein, zu nützlichen Zwecken, nein, sie fühlen, daß darin ihre einzige Kraft, ihr einziger Rückhalt liegt, daß sie ohne Organisation machtlos und wehrlos sind, und mit der Allgewalt des Instinktes der Selbsterhaltung beherrscht dieses Bewußtsein ihr ganzes Handeln.

Natürlich sind noch nicht alle Arbeiter so, aber sie werden es immer mehr; dieses neue Wesen entwickelt sich immer stärker im Proletariat. Und daher wird die Gefahr, die Kautsky so schwarz ausmalt, immer weniger schwerwiegend. Gewiß bringt der Kampf Gefahren mit sich, aber zugleich ist der Kampf das Lebenselement der Organisation, worin sie allein wachsen und innerlich kräftig werden kann. Eine Kampftaktik aber, die uns nur Siege und keine Niederlagen bringt, kennen wir nicht; auch bei der größten Vorsicht sind Rückschläge und Niederlagen nicht zu vermeiden; es sei denn, daß man kampflos das Feld räumen wollte, was meist schlimmer wäre als eine Niederlage. Wir müssen darauf rechnen, daß nur zu oft auf das kräftige Vorwärtsdringen eine Niederlage folgt, die dem Ansturm ein Halt zuruft, ohne das die Möglichkeit besteht, dem Kampfe auszuweichen. Mögen wohlmeinende Führer deshalb vor den schlimmen Folgen der Niederlage warnen,·die Arbeiter können antworten: glaubt ihr wirklich, daß wir, denen uns die Organisation in Fleisch und Blut übergegangen ist, die wir wissen und fühlen, daß uns die Organisation mehr ist als das Leben – denn sie ist Leben und Zukunft unserer Klasse –, daß wir bei einer Niederlage sofort unser Vertrauen in die Organisation verlieren und davonlaufen? Gewiß wird von den Massen, die uns im Angriff und im Siege zuströmen, ein ganzer Teil bei dem folgenden Rückschlag wieder abfließen; aber das bedeutet nichts anderes, als daß wir in unseren Aktionen aus größere Massen zu rechnen haben als den festen, allmählich wachsenden Bestand unserer unerschütterlichen Kampfbataillone.

Aus dieser Gegenüberstellung der Anschauungen Kautskys und der unsrigen wird auch klar, wie es möglich ist, daß wir, die wir aus dem gleichen theoretischen Boden stehen, in der Beurteilung der Organisation sosehr auseinandergehen können. Es liegt einfach daran, daß wir die Organisation in verschiedenen Entwicklungsstufen vor Augen haben, Kautsky die erst emporkommende Organisation in ihrem Anfang, wir die Organisation in ihrer weiteren Entwicklung. Daher sieht er das Wesentliche der Organisation in der äußeren Form und glaubt er, daß mit dem Antasten dieser Form die ganze Organisation verloren ist. Daher erklärt er, daß die Umwandlung des proletarischen Charakters die Folge und nicht das Wesen der Organisation bildet. Daher sucht er die Hauptwirkung der Organisation auf den Charakter des Arbeiters in der Zuversicht und dem Rückhalt, die ihm die materiellen Mittel der Gesamtheit, namentlich die Kassen bieten. Daher warnt er, daß bei einer großen Niederlage die Arbeiter mutlos der Organisation den Rücken kehren werden. Das entspricht alles der Auffassung, zu der man durch die Beobachtung der im ersten Auskommen befindlichen Organisation kommen muß. Was er uns gegenüberstellt, beruht also auch aus Wirklichkeit; aber für das, was wir vertreten, nehmen wir das größere Recht in Anspruch, da es die neue, werdende, immer mächtiger sich entfaltende Wirklichkeit ist – vergessen wir nicht; daß Deutschland erst seit einem Jahrzehnt große machtvolle proletarische Organisationen kennt! –, deshalb entspricht es vor allem der Geistesverfassung der jungen Arbeitergeneration, wie sie sich in dem letzten Jahrzehnt ausgebildet hat Gewiß gilt auch das Alte noch im abnehmenden Maße: Kautskys Auffassungen bilden den Ausdruck des noch Anfangenden, Unvollkommenen, Primitiven in der Organisation, das auch eine Macht, und zwar eine hemmende, zurückhaltende ist. In welchem Verhältnis diese Kräfte zueinander stehen, wird sich in der Praxis ergeben müssen,in Beschluß und Tat der Proletariermassen, die damit bekunden, wessen sie sich fähig erachten.

[Schluß folgt]


Anmerkungen

*) Wir haben aus vorliegendem Artikel eine Reihe von Ausführungen gestrichen, die sich inhaltlich mit unserer ersten Zurückweisung der Mißdeutungen Kautskys in der „Leipziger Volkszeitung“ vom 9., 10. und 11. September und der „Bremer Bürgerzeitung“ vom 10., 11. und 12. September deckten. Die Redaktion hatte uns um jene Streichung aus Rücksicht auf die Raumverhältnisse der „Neuen Zeit“ ersucht. Wir verweisen daher unsere Leser auf die erwähnten Artikel, zu denen die vorliegenden Ausführungen die Ergänzung bilden.

**) Wenn aus Anlaß jener Richtigstellungen Hilferding in der „Neuen Zeit“ von einem „vollen Rückzug“ redet, so ist das wohl nur als ein hämischer Ausfall ohne Bedeutung zu bewerten. Wer denkt da nicht an den Richter aus früherer Zeit, der unseren Genossen feige Verleugnung ihrer Grundsätze vorwarf,weil sie bestritten, den Königsmord zu predigen?

†) Der Chemnitzer Parteitag hat in der Tat schon – darin liegt seine Bedeutung als Übergang zu einer Neuorientierung – das Zusammengehen des Hauptteils der Radikalen mit den Revisionisten auf einer mittleren Linie, auf einer vom Parteivorstand vertretenen Taktik des gemäßigten Reformismus (Typus Stichwahlabkommen mit Dämpfung) gebracht.


Compiled by Vico, 19 February 2021