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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Entwicklung in Natur und Gesellschaft


Ein theoretischer Kulturkampf / Anton Pannekoek, 1909


Quelle:    Ein theoretischer Kulturkampf / Von Ant[on]. Pannekoek. – In: Die Neue Zeit, 27. Jg. (1908-1909), 1. Bd., Nr. 20, 12. Februar 1909, S. 711-720, und Nr. 21, 19. Februar 1909, S. 740-749.


1. Darwinismus und Klassenkampf

Während im letzten Wahlkampf der Reichskanzler, um die liberalen Philister gegen das Zentrum und die Sozialdemokratie zusammenzutrommeln, das Gespenst des alten Kulturkampf heraufbeschwor, bereitete zugleich die Blüte des liberalen Intellekts auf theoretisch-wissenschaftlichem Gebiet eine Kulturpaukerei gegen den Ultramontanismus vor. War est Zufall, daß gewissermaßen als abstrakte Ideologie der Blockpolitik im Februar 1907 an zwei Abenden in Berlin eine öffentliche Diskussion über den Darwinismus stattfand zwischen dem Jesuitenpater Erich Wasmann und mehreren liberalen Gelehrten? Die Veranstalter behaupten es, denn schon im November, vor den Reichstagswahlen, hatten die Vorbereitungen angefangen; sicher ist jedoch, daß das große Interesse, das diese Diskussion weckte, der Andrang des „gebildeten“ Publikums zu diesen Versammlungen, wo die namhaftesten Vertreter der liberalen Intelligenz gegen den Jesuiten ins Feld zogen, wodurch die Diskussion erst zu einem stilgemäßen Kulturkampf wurde, auf Rechnung der Blockatmosphäre zu stellen war. Man hatte das Zentrum im Wahlkampf geschlagen und aus der Regierungsfreundschaft verdrängt, jetzt strömte die Berliner Intelligenz herbei, um auch der theoretischen Abschlachtung des Zentrums beizuwohnen. Vielen der Teilnehmer werden dabei Erinnerungen an den seligen Kulturkampf gekommen sein, wo der Streit der mit der Großbourgeoisie verbundenen preußischen Reaktion gegen die kleinbürgerliche Kleinstaaterei dem verzückten Auge des deutschen Philisters als ein Kampf für Licht, Fortschritt und Wissen gegen die Hauptmacht der Finsternis und der Unwissenheit erschien; die schäbige Rolle des „Liberalismus“ damals wie heute bildet jedenfalls einen Punkt der Übereinstimmung. Bedeutender erscheint bei einem Vergleich der Kampf zwischen dem bürgerlichen Materialismus und der Religion um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Damals wie heute kämpften zwei Weltanschauungen miteindander, aber die Kraft der Gegensätze und die Hitze des Kampfes war damals um gerade soviel größer wie heute, als auch das Ziel des Kampfes größer war. Damals ging es um die Weltherrschaft, um die geistige Führung der großen Volksmasse, welche die reaktionären Pfaffen noch besaßen und der fortschrittliche bürgerlich Intellekt anstrebte; heute handelt es sich bloß noch um die Ehre, am Reichskanzlertisch sitzen zu dürfen; seitdem eine dritte Macht die geistige Führung des Volkes immer mehr übernimmt, ist der alte Weltenkampf zu einer recht kleinlichen Konkurrenz um Regierungsgunst herabgesunken. Und damit übereinstimmend steht nicht mehr ein keck verneinender, alles Heilige frech verspottender Materialismus einem blöden „Kohlerglauben“ gegenüber, sondern eine religiöse Weltauffassung, die sich den Resultaten der Wissenschaft in mannigsacher Weise anbequemt, ringt mit dem sanftlebenden „Monismus“, den sein Urheber Haeckel „das Band zwischen Religion und Wissenschaft“ nannte. Kein Wunder, daß einem der Mittkämpfer die Außerung entfiel: Wir sind doch im Grunde nicht so sehr verschieden.

Als in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die bürgerliche Intelligenz die geistige Führung in dem Kampfe der Bourgeoisie mit dem alten Gewalten übernahm, fand sie für den theoretischen Streit gegen die althergebrachten Vorstellungen ihre Massen massenhaft in den Ergebnissen der modernen Naturforschung. Die naiven bliblichen Geschichten, die der Erfahrung und den Bedürfnissen der Bauern und Klienbürger noch völlig entsprachen, waren überall durch die Naturwissenschaft durchlöchert. Man brauchte den alten unbegründeten Überlieferungen bloß Tatsachen entgegenzuhalten; „what I want, is facts“, was ich brauche, sind Tatsachen – diesen Spruch Bacos stellte Ludwig Büchner als Stichwort über sein populäres Werkchen „Kraft und Stoff“. Der Macht der Tatsachen muß sich ja jedermann fügen. Was sollte gegen die Tatsachen der Astronomie, welche die Bewegung der Erde um die Sonne erwiesen hatten, das Wort Josuas, der die Sonne und den Mond stille zu stehen hieß, bis er mit der Ausrottung seiner Gegner fertig war. Was sollten die biblischen Wundererzählungen gegen die Tatsache, daß die Naturgesetze strenge, ohne Ausnahme, die Erscheinungen beherrschen? Schließlich kam gerade zur rechten Zeit die Darwinsche Theorie, die ganze biblische Schöpfungsgeschichte über den Haufen werfend, und um den Darwinismus hat seitdem der heißeste Kampf getobt.

Die Entwicklungslehre, die Theorie, daß alle Tier- und Pflanzenformen durch allmähliche Entwicklung aus primitiven Urformen hervorgegangenen sind, dieser wesentlichste Teil des Darwinismus, was schon lange vorher von anderen Naturforschern verfochten worden. Die schöne Ordnung in dem natürlichen System der Tiere und Pflanzen, bei dem sich in allmählicher Abstufung immer mehr gemeinsame Merkmale zusammenfinden, wurde bei gemeinsamener Abstammung ganz einfach als Abstufung des Verwandtschaftsgrads erklärt. Aber nicht nur das System selbst, sondern auch die Verstöße gegen die Ordnung, die sich in dem System nur gezwungen unterbringen ließen, fanden als übrig gebliebene Zwischenformen in der Entwicklungslehre eine natùrliche Erklärung. So war es kein Wunder, daß diese Theorie überzeugte Verfechter fand. Aber deren Stimme hatte lange wenig Widerhall gefunden; die Schriften Lamarcks blieben unbeachtet und er selbst starb vergessen und elend; der 1830 in der Pariser Akademie geführte Streit zwischen Cuvier, der die getrennte Schöpfung jeder Tierart, und Geoffroy St. Hilaire, der ihre gemeinsame Abstammung verfocht, blieb ein reiner Gelehrtenstreit. Woher kan es nun, daß Darwins Werk auf einmal so allgemeines Interesse erregte und wie in zündender Blitz einschlug? Woher kam etwas, das dasjenige, was er selbst in einem Gespräch mit Haeckel als einen schwachen Versuch bezeichnete, die Entstehung der Tier- und Pflanzenarten auf natürliche Weise au erklären, von dem er einen nahmhaften Erfolg nicht erleben werde, zu dem „größten Wendepunkt in der Geistesgeschichte der Menschheit“ (wie Haeckel es ausdrückt) wurde?

Zum Teil liegen die Gründe in der wissenschaftlichen Qualität seines Werkes und dem damaligen Stande der Wissenschaft. Das Tatsachenmaterial, über das die Entwicklungstheorie das klare Licht eines gründlich verstandenen Zusammenhanges ausbereitete, war riesig gewachsen: die Geologie hatte eine reiche Fülle versteinerter Übergangs- und Urformen der heutigen Lebewesen aufgedeckt, an denen man die fortschreitende Entwicklung verfolgen könnte; die Anatomie hatte den tierischen Körper als Zellenstaat kennen gelernt und die Ahnlichkeit in Bau und Wachstum der verschiedensten Tierarten nachgewiesen. Daher mußte schon die bloße Wiederholung der alten Idee zu dieser Zeit auf viel mehr Zustimmung rechnen können. Aber Darwin tat mehr als die Lehre wiederholen, daß die Tierarten sich aus einander entwickelt haben; er gab zugleich die natürlichen Ursachen an, durch die sich eine Art zu einer anderen entwickeln mußte. Auf eine erdrückende fülle von Tatsachen baute er seine Theorie der natürlichen Zuchtwahl, die im Kampfe ums Dasein die Untauglichen ausmerzt und die Passendsten überleben läßt. Die Entwicklung, die früher als bloße, aus den Resultaten als warscheinlich nachzuweisende möglichkeit erschien, wurde jetzt, durch die Aufdeckung des Mechanismus, des Wie des Vorganges, zu einer aus seinen Ursachen logisch zu folgernden Notwendigkeit.

Doch die wissenschaftliche Seite des Darwinschen Werkes reicht nicht aus, den gewaltigen Erfolg seiner Lehre zu erklären. Als rein wissenschaftliche Theorie bot sie noch so viele Lücken, ließ sie noch so viele Fragen offen, die erst durch spätere Untersuchungen aufzuklären waren, daß sie, wie so mancher ähnliche große Fortschritt der Wissenschaft, erst im Laufe eines Menschenalters allmählich die Anerkennung der Gelehrten gefunden hätte und dann erst in die weiten Volkskreise eingedrungen wäre.

Andere Kräfte haben zu ihrer raschen Verbreitung beigetragen. In dem Darwinismus haben wir ein Musterbeispiel, wie auch die wissenschaftlichen Theorien durch die gesellschaftlichen Verhältnisse beherrscht werden. Wer die Schriften über den Darwinismus liest, als wären sie rein wissenschaftliche Erörterungen, muß notwendig verwirrt werden unter der Fülle der sich bekämpfenden und beschimpfenden Auseinandersetzungen, und er wird sie erst verstehen, wenn er sie betrachtet als Streitschriften in einem gesellschaflichen Klassenkampf.

Als die Darwinschen Schriften veröffentlicht wurden, kamen sie gerade recht für die Klasse, die diese neue Lehre brauchte als Waffe gegen ihre gesellschatlichen Gegner. Daher wurde nicht darauf geachtet, ob ihr hier und dort Unsicheres anhaftete; das Bürgetum, das sie dem vom reaktionären Klerus gepredigten schwarzen Aberglauben gegenüberstellte, sah nur das blendende Licht ihrer Wahrheit. Keine leidenschaftslose ruhige Betrachtung war ihr beschieden, sondern fanatische Anhänger und fanatische Gegner bekämpften einander leidenschaftlich, auch unter den Gelehrten, die hier als geistige Führer der radikalen Bourgeoisie, dort als Vertreter der regierende konservativen Parteien auftraten, die Interesse daran hatten, daß dem Volke die Religion erhalten bliebe.

Darwin selbst stand außerhalb dieses Kampfes. Für ihn war seine Theorie reine Gelehrtensache; erkannte die Lücken und wollte sie vor der Bekanntgabe möglichst ausfühlen; er scheute die Konzequenzen, welche die Theorie zu einem Kampfobjekt der Parteien machen mußten. Dies ist leicht verständlich; in England gab es keine kämpfende Klasse, die die Theorie als Sturmbock gegen die Tradition brauchte, denn die englische Bourgeoisie besaß schon längst die Herrschaft und bewies der traditionellen Religion eine traditionelle Ehrfurcht. Daher klagte Darwin auch Haeckel gegenüber die Masse der Vorurteile, die seinen Ansichten entgegentrat; in Wirklichkeit war es Gleichgültigkeit, die sich um eine abstrakte Theorie, an der sie kein Interesse hatte, nicht kümmerte – dieselbe Gleichgultigtkeit, die die Schriften Lamarcks und der Streit zwischen Cuvier und Geoffroy aus ähnlichen Ursachen gefunden hatten. Daher bereiteten auch die herrschenden Klassen Englands dem Gelehrten, dem alle Länder huldigten und seine Kollegen hochpriesen, ein so imposantes Begräbnis; nicht weil er ihre Weltanschauung umgewälzt, sondern gerade weil er ihre Weltanschauung gar nicht berührt hatte.

Aber in Deutschland, so hatte ihm auf seine Klage Haeckel geantwortet, machte seine Lehre gewaltige Fortschritte. „Der entscheidende Durchbruch derselben geschah hier bei uns rascher und vollständiger als in England selbst, hauptsachlich weil die Macht der sozialen und religiösen Vorurteile bei uns lange nicht so bedeutend ist wie bei unseren besser situierter Stammverwandten jenseits des Kanals“, meint Haeckel selbst, (1) ohne sich die Frage zu stellen, weshalb die Vorurteile dort so viel bedeutender waren. In Deutschland fand sie ein Bürgertum, das gerade in einem scharfen Kampfe mit Junker- und Königtum stand, das im Kampfe gegen kleinbürgerliche Beschranktheit und konservative Rückständigkeit im Staatswesen seine radikale Seite hervorlehren mußte, und eine liberale Intelligenz, welche diese Rückständigkeit noch viel drückender empfang als die Bourgeoisie selbst. Diese Intelligenz machte sich die Darwinschen Lehren zur Kampfeswaffe; and ihrer Spitze stand Ernst Haeckel, selbst ein bedeutender Gelehrter, aber vor allem eine leidenschaftliche Kampfnatur, der sofort aus diesen Lehren die weitestgehenden, revolutionärsten Konzequenzen zog und auf sie eine antitheologische Weltanschauung, den sogenannten „Monismus“, grundete.

Für die Intelligenz haben die abstrakten, ideellen Interessen der Bourgeoisie: die bürgerliche Freiheit, die Freiheit des Denkens und Lehrens, die Förderung der Wissenschaft, gute, von der Kirche unabhängliche Schulbildung, zugleich ein unmittelbar praktisches Interesse; sie verficht diese in allgemein-ideologischen Formen als Kampf für den Fortschritt, für das Licht, für die geistige Befreiung der Menschen. Daher tritt sie noch radikal für die bürgerlichen Ideale ein und sucht das ganze Bürgertum noch mit sich zu reißen, wenn diese Klasse selbst aus praktischen Klasseninteressen die Ideale schon längst aufgegeben hat; eine Ideologie wirkt als Tradition noch lange fort, nachdem ihre materiellen Voraussetzungen verschwunden sind.


Überall hat das Auftreten des kämpfenden Proletariats den geistigen Fortschritt des Bürgetum gehemmt; in dem Maße, als der geträumte liberale Zukunftstaat der Freiheit und des Friedens immer mehr vor der kapitalistischen Wirklichkeit zusammenbrach, erhob sich die geistige Reaktion, der Mystizismus und der Glauben. In Deutschalnd ereilte das Bürgetum dies Schicksal schon zu Anfang seines Kampfes; mit der Bekehrung eines bedeutendes Teiles des Bürgertums zum preußischen Nationalismus wuchs auch die Zahl der Gelehrten, die als Vertreter der reaktionären Bureaukratie die umstürzlerischen Tendenzen der Darwinschen Lehre bekämpfen. Hier findet nun das Umgekehrte des früheren Vorganges statt. Während die Naturforscher and der Darwinschen Theorie und an der Entwicklungslehre weiterbauen, neue Vorgänge entdecken, Einzelheiten verbessern, neues Licht auf von Darwin ungenügend gekannte Tatsachen wefen, wird jeder dieser wissenschaftlichen Fortschritte von der Wortführern der Reaktion als ein Bankrott des Darwinismus ausposaunt. Die Hinneigung des Bürgertums und viele seiner wissenschaftlichen Vetreter zum Glauben konnte nicht vor sich gehen, ohne daß zugleich die christliche Weltanschauung sich mit den unbestritbarsten Resultaten der Wissenschaft aussöhnte; aber selbstverständlich, ohne die am weitesten gehenden Schlüße, die der theologischen Auffassung direkt widersprechen, anzunehmen. Diese sind ja keine unmittelbaren Tatsachen, die jeder anerkennen muß, sondern bloß Schlüsse, und deshalb immer mit einer Unsicherheit behaftet, die einem willkommenen Anlaß bietet, an den christlichen Glaubenssätzen festzuhalten. Und so sehen wir die merkwürdige Erscheinung, daß das frühere Bild sich genau umgekehrt hat; jetzt sind es die Vertreter des Glaubens, die die „Tatsachen!“ als ihre Kampfesparole ausrufen: Tatsachen, meine Herren, und keine Hypothesen; nur Tatsachen erkennen wir an.

Mit dieser Parole trat auch Pater Wasmann in der Berliner Versammlung auf.

2. Die Berliner Dikussion

Wir haben die Berliner Diskussion in zwei Büchern vor uns liegen; jede der beiden kämpfenden Parteien hat einen eigenen Bericht darüber veröffentlicht. Der liberale Bericht: „Ultramontane Weltanschauung und moderne Lebenskunde, Orthodoxie und Monismus“, herausgegeben von Professor Dr. L. Plate (Verlag Gustav Fischer, Jena), widmet den drei Reden Wasmanns 37 Seiten, den Reden seiner zehn Gegner an dem Diskussionsabend 79 Seiten. In dem eigenen Bericht des Paters Wasmann: „Der kampf um das Entwicklungsproblem in Berlin“, von Erich Wasmann S.J. (Verlag Herder, Freiburg i.B.), sind zwischen den Referaten über die Reden seiner Gegner überall kritische Bemerkungen und Wiederlegungen eingefügt, und damit zusammen nehmen sie 64 Seiten ein gegen 54 Seiten für die Vorträge. Beide sind also Propagandaschriften, wo namentlich die eigenen Anschauungen ausführlich hervorgehoben werden. An den Titeln der beiden Bücher ist schon der Gegensatz der Auffassungen beider Parteien ze ersehen. Während die Gegner im Kampfe vor allem einen Kampf der Weltanschauungen, der der wissenschaftliche Forschung und der des kirchlichen Dogmas, erblicken, ist Wasmann eifrigst bemüht, siesen Kampf auszuschalten, bloß die Entwicklungslehre vom wissenschaftlichen Standpunkt zu betrachten und zu zeigen, daß sie sich gerade so gut mit der christlichen wie mit der monistischen Lehre verträgt: der Kampf dieser Lehren gehöre einem anderen, dem philosophischen Gebiet an.

Die Entwicklungslehre, sagt Wasmann, sieht in der heutigen Tier- und Pflanzenwelt das Endprodukt einer Entwicklung, in der die früheren Arten sich zu anderen umgebildet haben; sie steht also der Konstaztheorie gegenüber, die jede Art für unveränderlich hält. Diese Entwicklungslehre bildet die einzige wissenschaftliche Erklärung für zahllose Tatsachen der Natur; die sonderbare Gestalt und der Körperbau der als Gäste in Ameisennestern lebenden kleinen Käfer – das spezielle Forschungsobjekt von Wasmann selbst – lassen sich nur als wirkliche zweckentsprechende Umbildung und Anpassung an diese Lebensumstände erklären. Sie sind aus anderen, wie sie zustande kamen. In ähnlicher Weise können wir die Abstammungsverwandtschaft von Gattungen, die zu derselben Familie, von Familien, die zu derselben Ordnung oder Klasse gehören, als wahrscheinlich nachweisen. Aber je weiter die Tiere vereinander im System entfernt stehen, um so geringer wird die Sicherheit, um so mehr bleibt die Abstammungsverwandtschaft eine Vermutung, eine Hypothese. Wie steht es also mit der Theorie, daß alle Tiere einen einzigen Stamm bilden und alle aus den einfachsten Lebewesen durch fortgesetzte Entwicklung entstanden sind? Dies Theorie is bloß „ein schöner Traum ohne naturwissenachaftliche Verweise“, und viele Gelehrte haben sich für eine Entwicklung in mehreren unabhängigen Stämmen ausgesprocken.

Befindet sich nun aber die Entwicklungslehre nicht im Widerstreit mit dem Bibelwort, daß Gott alle Tiere und Pflanzen nach ihrer Art erschuf? Wird damit nicht die gesonderte Schöpfung jeder Tierart ausgesprochen? Keineswegs, sagt Pater Wasmann, denn die Bibel ist kein Lehrbuch der Tierkunde, sie spricht für das Verständnis gewöhnlicher Leute und versteht deshalb unter „Art“ nicht den festen wissenschaftlichen Begriff des Linné, sondern eine Tiergruppe, die auch in der Alltagssprache als Tierart gilt, wie Wurm, Insekt oder Vogel. Und siehe da, in dieser Weise verstanden, ist die Bibel in schönster Übereinstimmung mit der Entwicklungslehre, wenn man dort eine vielstämmige Entwicklung, also eine besondere Schöpfung einer Anzahl Haupttypen, wie zum Beisiel der Insekten, der Vögel, annimmt, aus denen sich dann die verschiedenen Arten auf natürliche Weise entwickelt haben.

Das nehme ich nicht an als Theologe, fügte der Pater unschuldsvoll hinzu; nein, als Zoologe, als Naturforscher, für den die Bibel gar nicht existiert, werde ich aus wissenschaftlichen Grunden zu diesem Schlusse gedrängt. Als Theologe freue ich mich dann nachher, daß der zoologische Schluß dem biblischen schöpfungsbericht nicht widerspricht. Wasmanns Gegner durchschauten jedoch ganz gut, daß sein theologischer Glauben seine wissenschaftliche Überzeugung bestimmte, und sprachen ihm deshalb die Befähigung als voruteilloser Forscher ab. Übrigens ist Wasmanns Pfiffigkeit nur eine Wiederholing von dem, was schon öfters in der Geschichte der Wissenschaft passierte. Zuerst wird gegen eine neue wissenschaftliche Lehre die Autorität bstimmter Bibelworte angeführt; wenn jene Lehre sich nachher doch siegreich behauptet hat und der Spieß umgedreht wird, heißt es auf einmal: im Grund genommen verträgt sich die Bibel ganz gut mit der neuen Lehre. So ging es früher mmit der astronomische Lehre der Erdbewegung, so geht es heute mit der Entwicklungslehre. Nun versteht es sich, daß mit solchen Rabuliestereien kein einziger Mensch vom Unglauben zum Glauben zuruckgeführt wird; während die großen wissenschaftlichen Fortschritte einen bedeutenden Einfluß auf die Weltanschauung ausübten, ist die spätere erkünstelte Herstellung einer Harmonie zwischen Glauben und Wissen bloß die Anzeige dafür, daß eine theologische Weltanschauung sich behauptet, die selbst aus ganz anderen Ursachen herstammt. Der Glauben ist schon da und sucht sich bloß durch nachherige Rechtfertigungsversuche gegen die Einwände der Wissenschaft zu schützen.

Auf die Lehre der Veränderlichkeit der Arten soll sich also die Entwicklungslehre, soweit sie als Wissenschaft gelten soll, beschränken. Alles, was darüber hinaus für wissenschaftliche Wahrheit ausgegeben wird, sagt Wasmann, besteht aus unbewiesenen und unbeweisbaren Behauptungen. So die Lehre von der Ewigkeit der Welt und der Materie und die Lehre, daß die einfachsten ersten Lebewesen aus den leblosen Materie einstanden sind. Die Fragen nach der Ewigkeit oder der Entstehung der Welt und nach dem Ursprung des Lebens seien gar keine wissenschaftliche Fragen, denn sie können mittels Erfahrungstatsachen nicht gelöst werden; sie sind naturphilosophische, metafysische Fragten, und die christliche Auffassung, die eine Schöpfung annimmt, habe wissenschaftlich gerade so viel für sich wie die materialistische Auffassung.

Nicht nur eine Schöpfung der Welt, sondern auch eine spätere besondere Schöpfung des Lebens nimmt nach Wasmann die christliche Auffassung an, letztere aber bloß, weil es bis heute unmöglich erschien, Lebewesen aus lebgloser Materie hervorgehen zu lassen; wenn der Wissenschaft der Nachweis einmal gelingt, das Leben sich noch gegenwärtig aus toter Materie bilden kann, will er diese Annahme auch wohl fallen lassen, die er bis heute aufrecht erhält. Die Einwände seiner Gegner, daß doch alle Lebewesen aus genau denselben chemischen Elementen bestehen, die auch die unbelebte Welt bilden, und daß dieses Eingreifen des Schöpfers eine Durchbrechung der bestehenden Naturgesetze darstellt, weist er sehr geschickt zurück. Eine solche Schöpfung wäre keine Neuschöpfung lebendiger Materie, sondern die Schöpfung des Lebens, die Schöpfung eines neuen Prinzips, einer neuen Reihe von Gesetzen, der Lebensgesetze, die zu den alten Gesetzen hinzukamen und einem Teile der bestehenden Materie die Natur Substanz gaben.

Nun haben die besonderen Eigenschaften, welche die lebende Substanz von der toten unterscheiden, namentlich die Fähigkeit, auf die Einwirkung äußerer Reize zweckmäßig zu reagieren, in den letzten Jahrzehnten zu einer Rückkehr zum Mystizusmus in die Biologie geführt, der selbstverständlich mit den allgemeinen mystischen Auffassungen der gebildeten Klassen im engsten Zusammenhang steht. Gegenüber den stolzen Hoffnungen um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, alle Lebenserscheinungen auf physische und chemische Gesetze zurückführen zu können, trat jetzt als Rückschlag das völlige Verzichten auf dies Erklärungen ein. Das Unerforschte, das unerforschbar erschien, wurde zum Geheimnisvollen. Worte, die sich zur rechten Zeit einstellten, mußten das Fehlen klarer Begriffe verdecken; man redete über „Formalprinzipien“ und „Determinanten“, die als geheimnisvolle Lenker das besondere Wirken der physischen und chemischen Gesetze in den Lebewesen regeln. Es versteht sich, daß Pater Wasmann diese Auffassungen „aus der Kreisen der Naturforscher“ als Stütze für seine Beweisführung gebrauchte und sie, ähnlich wie jene reaktionären Kollegen, als Sturmbock gegen den Darwinismus benutzte. Die Theorie der natürlichen Zuchtwahl ist als Grundgedanke ganz richtig, sagt er, „aber seine Tragweite ist nicht so groß, wie man vielfach geglaubt hat“. Das mag richtig sein; bei der Entwicklung der Wissenschaft gilt es eben, die Grenzen dieser Wirkung und die Bedeutung anderer hinzukommenden Faktoren aufzufinden. Aber diese allgemein gehaltenen Redensart wird zu einer ungeschickten Ausrede, wo er weiter geht: die Selektionstheorie ist bloß eind Hilfsfaktor; „die Hauptursache bleiben stets die inneren Entwicklungsursachen, welche die zweckmäßigen Abänderungen hervorbringen“. Die Naturauslese ist bloß eine Überleben des Passendsten; der innere Grund, warum das betreffende Passendste da ist, ist in den inneren Entwicklungsgesetzen des Organismus selbst zu suchen. Diese kommen auf dasselbe hinaus wie die Zielstrebigkeit, die den Lebewesen innewohnt, und die Zweckmäßigkeit, die Reaktionsfähigkeit auf äußere Reize.

Nach dieser Darstellung könnte man den Eindruck gewinnen, die Darwinsche Theorie betrachte die Pflanzen und Tiere als Tote, passive Körper, die von äußeren Umständen hin und her gezerrt und umgebildet werden. Man glaubt Einwände gegen den historischen Materialismus zu hören – daß der Mensch keine willenlose Maschine ist, daß die Hauptsache doch die innere Natur des Menschen bleibt, der sich bewußt bestimmte Ziele setzt –, genau so klingen diese Argumente. Wir heben demgegenüber hervor, daß der historischen Materialismus bloß eine Erklärung der geschichtlichen und gesellschaftliche Vorgänge bildet aus der Natur des Menschen heraus, wie wir sie kennen: vernünftige Wesen, die ihren Bedürfnissen gemäß handeln. So will auch die Darwinsche Lehre der Naturauslese eine Erklärung der Entstehung der Arten auf der Grundlage der Natur der Lebewesen sein, wie wir sie durch die Erfahrung kennen: aktive Wesen, die in zweckmäßiger Weise auf die Wirkungen der Außenwelt reagieren und sich den Umständen anpassen. Die Erklärung dieser Reaktionsfähigkeit und überhaupt der besonderen Natur des Lebens bietet noch ein unendliches Feld der Forschung, aber sie hat mit der Darwinschen Lehre nichts zu tun.

Dies sind alles nun aber bloß Plänkereien gegen die Hauptschlacht, die um die Abstammung des Menschen geschlagen werden muß. Die zahllosen Beweise für die körperliche Verwandtschaft des Menschen mit den Affen sind so einleuchtend, daß, von naturwissenschaftlicher Seite betrachtet, die Sache für eine spezielle Schöpfung des Menschen äußerst bedenklich steht. Um so stärker steht sie auf geistigem und theologischem Gebiet. Der Mensch unterscheidet sich als vernünftiges Wesen von den Tieren.

Auch bei den Tieren trifft man ein Seelenleben, aber „es geht nur so weit, wie die sinnliche Sphäre reicht. Die sinnliche Wahrnehmung, die Verbindung dieser Wahrnehmungen untereinander, das Gedächtnis, die Modifikation früherer Tätigkeiten infolge sinnlicher Erfahrung, das ist im wesentlichen die ganze tierische Seelentätigkeit nach der Erkenntnisseite hin…. Das ist offenbar keine Maschine mehr, aber auch kein Geistesleben…. Geistesleben im Sinne der alten Philosophie ist nur jene Seelentätigkeit, die wir als die höhere bezeichnen: das Denken und Wollen der Menschen. Das Eigentümliche beim menschlichen Denken ist, daß der Mensch Begriffe bilden, allgemeine Schlüsse daraus ziehen und durch seine Vernünft sich erheben kann über alle Einzelerscheinungen; darauf beruhen Kunst, Wissenschaft, Religion des Menschen, die im Tierreich sich nicht finden trotz mancher kleinen Analogien, die aufgebraucht wurden zu wirklicher Gleichheit.“

Aus dieser, im allgemeinen ganz zutreffenden Schilderung des geistigen Gegensatzes zwischen Mensch und Tier schließt Wasmann, daß die Erhabenheit der geistigen Tätigkeit des Menschen auf ein einheitliche Prinzip, eine geistige Seele hinweist. Die Theologie hat auch von alters her die Kluft zwischen Mensch und Tier dahin formuliert, das bloß der Mensch eine unsterbliche Seele besitze.

Dem widerspruch zwischen der Bibel und der Wissenschaft in diesem Punkte zu heben, fällt nun dem Scharfsinn der Paters nicht schwer. Wenn wir nach der Herkunft des Menschen fragen, bedeutet die Frage nicht: woher stammt der niedere Teil (der Körper), sondern, woher stammt der höhere Teil (der Geist)? Mag es also auch richtig sein, daß der Körper des Menschen von dem des Affen abstammt, so gilt das nicht von seinem Geist. Der muß speziell erschaffen sein. Die Schöpfung des Menschen hätte sich dann so vorzustellen, daß der Menschengeist, die unsterbliche Seele in ein dazu geeignetes Tier, einen Affenabkömmling eingepflanzt wurde, und diese darduch zum Vernunftwesen, zur Krone der Schöpfung wurde. Diese neue geistige Natur bedingte dann das kolossale Wachstum des Gehirns und des Schädels, den hauptsächlichen körperlichen Unterschied zwischen Mensch und Affe.

Ein solcher Standpunkt als Vereinigung von biblischen Glauben und wissenschaftlicher Forschung sieht seht stark aus, namentlich gegenüber den bürgerlichen Naturforschern, die über den menschlichen Geist überhaupt wenig Bescheid wissen und deshalb dessen natürlicher Abstammung ziemlich ratlos gegenüberstehen. Aber es paßte dem Pater nicht, offen einzugestehen, daß er die Theologie als höchste Instanz über seine naturwissenschaftliche Überzeugung setze. Er wollte sich als vorurteilsfreier Naturforscher hinstellen, der aus rein wissenschaftlichen Gründen die Entwicklungslehre kritisierte und dann nachher zur eigenen Überraschung bemerkte, daß er damit den Weg zum Glauben angebahnt hatte. Deshalb versuchte er in einer lange Reihe von Kritiken und Anzweiflungen die Gründe für die tierische Abstammung, die Übereinstimmung im Körperbau zu erschüttern. Daß dies von vornherein eine verlorene Sache ist, versteht sich; wenn für die Religion das Ungenügende der zoologsche Tatsachen über die Verwandtschaft von Affe und Mensch zum rettenden Strohhalm werden soll, steht ihre Sache so schlecht wie nur möglich. In allerhand Windungen mußte der schlaue Jesuit sich hier drehen, um den klaren Schluß der Abstammungsverwandtschaft loszuwerden. In einer nachträglichen Bemerkung zu der Rede eines der Opponenten führte er aus: Die Ahnlichkeit der Menschen mit den höheren Tieren weise allerdings darauf hun, daß sie nicht unabhängig voneinander geschaffen worden sind; eine ideale (?) Abhängigkeit bestehe sicherlich zwischen der Schöpfung von Mensch und Tier; aber ob eine reale Abhängigkeit, das sei die Frage. Wenn der Mensch eine Stammesgeschichte durchgemacht hat, so müsse sie ähnlich wie die der höheren Tiere verlaufen sein, aber daß sie identisch sind, daß der Mensch vom Tier abstammen müsse, folge daraus keineswegs.

Mit solchen Winkelzügen und Ausreden versuchte er seine schwache Position zu retten. Daß eine ausführliche Kritik dem Affenmenschen, dem Pithekanthropus nicht erspart wurde, versteht sich; da die tierische Abstammung des Menschen vor dessen Entdeckung jedoch gerade so festbegründet dastand wie nachher, dürfen wir hier davon absehen.

3. Die wissenschaftliche Wahrheit

So wie die Macht der Reaktion auf dem politischen Gebiet in der Mangelhaftigkeit der bürgerlichen Gesellschaft liegt, so beruht auch die Kraft der Reaktion im wissenschaftlichen Kampfe auf der Unvollkommenheit und den Mängeln der bürgerlichen Lehre. Wir brauchen uns hier selbstverständlich nicht mit den christlichen Lehren zu befassen; unser Interesse an die Schwäche der bürgerlichen Wissenschaft nur auf dem Gebiet der Naturforschung zu lösen; der menschliche Geist ist ihnen ein unbekanntes Gebiet. Das versetzte die Vertreter des Monismus in doppelter Hinsicht in Nachteil; einerseits waren sie über das Wesen der wissenschaftlichen Wahrheit, über die Bedeutung von Theorien und Hypothesen im unklaren, andererseits wußte sie zu Verteitigung der natürlichen Entwicklung des menschlichen Geistes aus dem Tiergeist gegen die Einwände des Paters Wasmann nichts voorzubringen.

Rein theoretisch betrachtet ist der Kampf der liberalen und der christlichen Wisswenschaft nur dadurch möglich, daß beiderseits ein klares Verständnis für das Wesen der wissenschaftlichen Wahrheit fehlt. Geradezu haarsträubend an philosophierender Unwissenheit sind in dieser Hinsicht die Äußerungen der liberalen Naturforscher. Dies sind selbstverständlich keine persönlichen Mängel, sondern ein neuer Beweis dür die Tatsache, daß erst die sozialistische Theorie instande war, über die Tätigkeit des menschlichen Geistes volle Klarheit zu bringen.

Wenn die Naturforscher sagen: aus Nichts wird nichts, also muß die Materie ewig bestanden haben, und die Idee einer Schöpfung aus Nichts ist Widersinn, antwortet der Theologe: mit dieser Behauptung verläßt der Naturforscher das Gebiet der Wissenschaft; er kann auf Grund seiner Erfahrung nichts davon wissen, und wenn er es dennoch behauptet, ist es auf Grund eines philosophischen Glaubens, dem wir unseren Glauben entgegenstellen können. Wenn der Naturforscher dem am theologischen Dogma gebundenen Gläubigen entgegenführt, daß die Wissenschaft Voraussetzungslos sein soll, antwort dieser: eure Wissenschaft beruht gerade so gut auf Voraussetzungen: zum Beispiel auf dem Kausalitätsgesetz und auf der Annahme der Unveränderlichkeit der Naturgesetze. Wenn die Naturforscher die Ewigkeit und Undurchbrechbarkeit der Naturgesetze behaupten und deshalb Wunder für unmöglich erklären, antworten die Theologen, diese Undurchbrechbarkeit der Naturgesetze sei selbst nur eine unbewiesene Annahme, die zwar im allgemeinen zutreffen mag und daher praktisch als Grundlage des Forschens brauchbar sei, aber zu weitergehenden absoluten Behauptungen keine Sicherheit biete.

In dieser Kontroverse bewegt sich der theoretische Kampf der Liberalen und der Reaktionäre; die eine Partei widerlegt die theologischen Dogmen mittels der naturwissenschaftlichen Resultate und die andere demonstriert die Unsicherheit der Grundlagen der Wissenschaft, auf denen jene Resultate beruhen. Von beiden Seiten fehlt dabei das Verständnis für das Wesen der wissenschaftlichen Wahrheit.

Alle wissenschaftlichen Sätze sind Erfahrungssätze, beruhen auf der Erfahrung und sind doch zugleich mehr als Erfahrung, denn sie beanspruchen eine allgemeine Gültigkeit. Aus der stets beschränkten Erfahrung wird das Allgemeine herausgenommen und in einem Satze ausgedrückt, in dem von dem Besonderen jedes einzelnen Teiles abgesehen wird. Für diesen Satz gelten also die Grenzen der ihm zugrunde liegenden Erfahrung nicht mehr. Aus den vielen Fällen fallender Körper ist der Satz: alle Körper werden von der Erde angezogen, gebildet, der nun nicht mehr für die wahrgenommene, sondern überhaupt für alle Fälle, auch für die zukünftigen gilt. In jedem wissenschaftlichen Satze wird also über die Erfahrung hinausgegangen.

Damit wird er um nichts weniger wahr im Sinne der wissenschaftlichen Wahrheit; diese ist aber ganz anderer Natur als die absolute Wahrheit, die die alte theologische und metaphysische Auffassung dem unbedingten Irrtum gegenüberstellte. Die wissenschaft stellt nicht einfach Tatsachen fest: Tatsachen bilden nur das Material zur Wissenschaft; sie schält aus den vielgestaltigen Erscheinungen das Allgemeine, den Begriff, die Regel heraus. Wenn sie das richtig tut, wenn sie nicht etwas Besonderes, nur für einen Teil Gültiges als das Allgemeine ansieht, sondern das wirklich Allgemeine herausfindet, so ist der gefundene Satz wahr, wissenschaftliche Wahrheit. Wissenschaftliche Wahrheit is also immer relative, menschliche Wahrheit im Gegensatz zu der absoluten, göttlichen Wahrheit, die die Theologie behauptete. Die wissenschaftliche Wahrheit ist durch neue Erfahrungen verbesserungsfähig. Der alte Satz wird dabei nicht einfach zum grundlosen Irrtum, sonder er wird als unvollkommende, beschänkte Wahrheit in den allgemeineren Satz aufgenommen.

Auch der Satz der Unvergänglichkeit der Materie stammt aus der Erfahrung, die zeigte, daß immer, wo man früher ein Verschwinden oder Neuentstehen der Materie wahrzunehmen glaube, nur ein Übergang von sichtbarer zu unsichtbarer Form vorlag – wie mit der Wage nachzuweisen war. Nach dem Vorhergehenden kann er also Allgemeingültigkeit beanspruchen, solange nicht neue Erfahrungen den Kreis, innerhalb dessen seine Wahrheit gilt, eingeeingt haben. Est versteht sich, daß der Glauben unwissender Zeiten, die Welt sei einmal erschaffen worden, eine solche neue Erfahrung nicht bieten kann.

Die Wissenschaft stellt also dem theologischen absoluten Satze der Weltschöpfung nicht einen entgegebegesetzten Satz mit demselben absoluten Wahrheitscharakter gegenüber. Wo die naive Unwissenheit kühn-dogmatisch behauptet, antwortet sie nicht mit einer ähnlichen kühn-dogmatischen Behauptung, sondern sie stellt die Ewigkeit der Materie als wissenschafliche Wahrheit fest; dieser Satz allein verträgt sich mit aller bisherigen Erfahrung, aber die Möglichkeit bleibt offen, daß die infolge einer noch reicheren Erfahrung als Teil in einem noch allgemeineren Satze aufgenommen, aufgehoben werden muß.

Der Form nach gelten die wissenschaftlichen Sätze und Gesetze absolut und allgemein. Solange sie als wahr gelten, lassen sie keine willkürlichen Ausnahmen zu, ist alles innerhalb ihres Gebietes ihnen unterworfen. Ihre Relativität liegt in der Möglichkeit, daß sie richtigeren Regeln weichen müssen.

Die Unveränderlichkeit der Naturgesetze ist also etwas Selbstverständliches und in der Natur der menschlichen Geistestätigkeit gegründet. Sie ist eine „Voraussetzung“ in derselben Weise, wie es eine Voraussetzung ist, das wir denkende Wesen sind. Die Undurchbrechbarkeit liegt geradeso im Wesen des Naturgesetzes, wie das Rundsein in dem des Kreises. Danach ist der Wert des Geredes zu beurteilen, das alle Pfaffen und Reaktionäre einander stetig nachplappern: daß die Naturwissenschaft auf der unbewiesenen und unbeweisbaren Voraussetzung der Ewigkeit der Naturgesetze beruhe, also gerade so gut eine Sache des Glaubens sei wie die Wunder Jesu oder die Schöpfung der Welt. Danach ist aber auch die seichte Verständnislosigkeit für die Grundlagen der eigenen Wissenschaft zu ermessen, die in der Außerung einer de Leuchten der liberalen Wissenschaft, des Professors Plate hervortritt, die Naturforscher haben nie „so etwas wie eine Aufhebung der Naturgesetze beobachtet“, und deshalb (!) verwerfen sie die Wunder. Das klingt der Aussage ähnlich, daß die Naturforscher das Rundsein aller Kreise annehmen, weil sie noch nie so etwas wie viereckige Kreise gesehen haben. Ist die Figur viereckig, so ist est eben kein Kreis mehr; erblickt man eine scheinbare Aufhebung eines Gesetzes, so schreibt man dies einer besonderen neu hinzukommenden Ursache zu, und dann ist es eben keine Aufhebung mehr.

Bei dem den streitenden Parteien gemeinsamen Mangel an Einsicht in die Grundlagen der Wissenschaft ist es kein Wunder, daß sie zu gemeinsamen Schlußfolgerungen kommen. „Nur ein denkender Geist kann die Ordnung der Welt verursacht haben“, „die Ordnung der Naturgesetze kann nicht aus sich selber kommen“, sagte pater Wasmann, wobei er selbstverständlich nicht an den menschlichen Geist, sondern an einen Weltschöpfer dachte. Und ähnlich sprach der hauptvertreter des Monismus, der schon erwähnte Professor Plate: „Die Naturgesetze sind das, was wir ergründen können; was hinter ihnen steht oder was in ihnen lebt und wirkt, das ist die letzte Frage der Philosophie, da berühren sich Wissen und Glauben, daß denkt der eine so, der andere so. … Ich persönlich vertrete immer den Standpunkt, daß wenn man Naturgesetze findet, es durchaus logisch ist, zu sagen, in den Naturgesetzes offenbart sich ein ‚Gesetzgeber‘, welchen ich mir als ein höchstes geistiges Prinzip im pantheistischen Sinne denke.“ Diesen letzten Satz hat Plate nachher hinzugefügt, als sein Gegner ihn, wie leicht erklärlich, wegen dieses Bekentnisses sofort beim Kragen nahm und ihm die Frage vorlegte weshalb ein Gesetzgeber, der einmal die Naturgesetze gegeben habe, nicht auch imstande sein könne, wen er es für höhere Zwecke, für die sittliche Weltordnung nötig erachte, diese Gesetze zu durchbrechen und Wunder wirken? Die Ausrede mit dem pantheistischen Prinzip läßt die Verschwommenkeit der Vorstellungen des Monisten un so klarer hervorleuchten. Es handelt sich hier im Grunde um dieselbe Logik wie die des einfältigen Kleinbürgers, dessen theologische Argumente also lauten: Alles um uns, der Tisch, das Haus, ist angefertigt worden, also muß auch die Welt von einem Schöpfer angefertigt sein. Geradeso der Professor: so wie alle Gesetze, die uns regieren, von Gesetzgebern erlassen worden sind, so muß es auch mit den Naturgesetzen geschaffen sein. Bürgerlich-konstitionelle Theologie!

Schon an diesem einen Ausspruch ist die Windigkeit des ganzen Monismus zu erkennen. Während er, als Erbe des alten bürgerlichen Materialismus, and derselben Beschränktheit leidet, das Leben und die Welt durch Gesetze der Physik und Chemie erklären zu wollen, steht er hinter jenem weit zurück an Konzequenz und Kampfestüchtigkeit. Jener Materialismus war die Theorie des kämpfenden, politisch emporstrebenden Bürgertums, der Monismus ist die unterdrückten, unpolitisch, zaghaften Bürgertums. Nicht kampf gegen die Religion, sondern Versöhnung ist ihre Losung. Nicht die Religion selbst, sonder die albernen Märchen der offiziellen Kirche bekämpfen sie; sie wollen als aufgeklärte Naturforscher das Recht haben, ihre besseren, aus Wissenschaft sich stützenden Ansichten zu propagieren. Aber der Religion selbst den Fehdehandschuh hinzuwerfen, daran denken sie nicht; in metaphysischen Fragen ganz unklar, selbst ein mystisches, verschwommenen Bedürfnis nach Religion empfindend, sehnen sie sich nach einem allumfassenden Einheitsglauben, der der Spaltung der bürgerlichen Welt ein Ende bereiten wird. „Meine Hoffnung ist, daß die Naturwissenschaft einst diese schöne … Aufgabe lösen wird, den Protestantismus und den Katholizismus so weiten zu entwickeln, daß sie später zu einer Einheitskirche verschmelzen können und der unglückliche Kader, der auf unserem Volke wie ein Alp lastet, auf diese Weise verschwindet“ (Plate).

Der Kampf gegen die Religion war einst der theoretische Ausdruck des gesellschaftlichen Kampfes des Bürgertums gegen die Reaktion. In diesem Verlangen nacht Versöhnung und Frieden bei ihren intellektuellen Vertretern spiegelt sich die Kampfunfähigkeit der modernen Bourgeoisie.

4. Die Entstehung des Menschengeistes

Die Hauptursache, weshalb der Darwinismus bisher die christlicher Auffassungen nicht völlig besiegen konnte, liegt darin, daß er den Hauptunterschied zwischen Mensch unt Tier nicht erklärt. Aus der körperlichen Übereinstimmung hat er die Afstammung des Menschen von der Tieren unwiderlegbar bewiesen; aber solange die geistige Verschiedenheit, die Enststehung der menschlichen Vernunft aus dem tierischen Geiste nicht genügend aufgeklärt ist, kann der Wunderglauben sich noch immer auf diese nur durch einen speziellen Schöpfungsakt zu füllende Kluft zwischen Mensch und Tier berufen.

Wasmann hatte hervorgeheben, daß nur der Mensch „Begriffe bilden, allgemeine Schlüsse daraus ziehen und durch seine Vernunft sich erheben kann über alle Einzelerscheinungen“. Damit hatte er ganz richtig das Wesentliche, was Tier- und Menschengeist voneinander underscheidet, angegeben: die abstrakte Begriffe, die ein zweckbewußtes Voraussehen künftiger Wirkungen der eigenen Handlungen gestatten. Diesen Unterschied zwischen Mensch und Tier führte er gegen die tierische Abstammung des Menschen ins Feld. Wie suchten die liberalen Darwinisten diesen Einwand zu entkräften? Sie leugneten den ganzen Unterschied, oder richtiger, sie verstanden offenbar niet einmal, um was es sich handelte.

Haeckel hat schon das Beispiel gegeben, indem er die niederen Naturvölker in geistiger hinsicht den Tieren näher stellte als den Europäern. In fast allen populären Schriften über den Darwinismus wird der alte gegensatz zwischen dem Instinkt der Tiere und dem Verstand der Menschen bekämpft. Soweit damit der löbliche Zweck erreicht werden soll, die Verwandtschaft und die Berührungspunkte hervorgehoven und die nicht zu überberückende Kluft, die die alte Theologie zwischen Mensch und Tier aufstellte, zu verneinen, hatte dies Darstellung ihre Berechtigung. Soweit ste[?] aber über den wirklichen Unterschied hinwegsteht, weil sie ihn nicht zu erklären weiß, wird sie zum bloßen Wörterschwall, der die eigene Schwäche verdecken soll. So führte einer der Opponenten, die diese Frage berührten, Professor v. Hansemann, aus: „Wo sich Herr Wasmann bemüht, zu zeigen, daß nur der Mensch Verstand habe, die Tiere aber nur Instinkt, da verläßt Herr Wasmann vollständig den Boden der wissenschaftlichen Tatsachen. … Wenn ich den Verstand von vornherein als etwas ausschließlich Menschliches definiere, so hat natürlich nur der Mensch Verstand und die Tiere nicht.“

Nicht besser machte es der bekannte Schriftsteller Wilhelm Bölsche; so wenig war er sich darüber klar, daß er sich hier um das Problem des abstrakten Denkens handle, daß er glaubte, Pater Wasmann stelle die moralische Natur des Menschen in Gegensatz zu den Tieren. „Ich meine, es sei doch eine unendliche Menge von Erscheinungen schon in der Tierseele, die viel erhabener, viel größer sind als das Niedriche, was wir in uns, in den Menschenseelen noch sehen …. Über diese Menschenseele in ihrer Verkommenheit erhebt sich die Tierseele sicherlich dort, wo sie uns zum Beispiel als Mutterliebe in ihrer reinsten Form entgegenstritt.“ … Dieses verschwommene Hervorheben der Ethik entspricht vollkommen der Gefühlsmystik des modernen Bürgertums. In diesem Punkte wußte der katholische Gelehrte, trotzdem er seinen Gegnern an philosophischer Schulung überlegen war, doch ihre Schwäche nicht auszunutzen, denn ihm war die Moral mit ihrer himmlicher Herkunft gleich teuer wie ihnen. Er stellte also einfach Ansicht gegenüber Ansicht: „Falsch ist es, daß Vernunft und Freiheit des Menschen auch bei dem Tiere vorhanden sind.“

Nur einer der Opponenten, Dr. Friedenthal, Privatdozent der Physiologie, hatte eine Ahnung davon, um was es sich handelte, und machte einen Versuch zur Erklärung. „Nur der Mensch bestizt eine Sprache. Nur in Anschluß an eine Sprache können sich räumliche und zeitliche Vorstellungen, die auch das Tier besitzen muß, zu Begriffen und Idealen entwickeln.“ Dieser Zusammenhang ist richtig, aber er verschiebt nur das Problem. Denn woher der Mensch seine Sprache hat, die den Tieren fehlt, erklärt er nicht.

Denken ist Abstrahieren; dies das Gemeinsame eines bestimmten Teiles der Erscheinungswelt darstellen und ihn von anderen Erscheinungsgruppen unterscheiden. Diese Unterscheidung ist nur möglich durch ein Zeichen, einen Namen des Begriffs, durch einen Laut. Nur durch solche Zeichen und Laute lassen sich die Begriffe und die verschiedenen Umkreise der Erfahrung, die sie darstellen, auseinanderhalten; ohne sie bliebe die Erscheinungswelt ein Chaos von Zahllosen, immer wechselnden, regellosen Einzelerscheinungen. Ohne Sprache wäre also abstraktes Denken unmöglich gewesen. Mußte dann die Sprache zuerst da sein, bevor das Denken entstehen konnte? Das ist geradeso unmöglich; die Laute der Sprache haben eben nur Sinn als Zeichen für abstrakte Begriffe. Sprache und Denken verhalten sich zueinander wie Werkzeug und Tätigkeit; das eine bedingt das andere und kann nicht ohne das andere bestehen. Sie müssen zusammen entstanden sein und sich zusammen entwickelt haben. Was die Ursache, die Triebkraft dieser Entwicklung gewesen ist, darüber haben vor allem die Untersuchungen von Ludwig Noiré über die Enstehung des Werkzeugs Klarheit gebracht. (2)

Nicht nur durch Sprache und Vernunft, sondern auch durch die Anfertigung und Benutzung von Werkzeugen unterscheidet sich der Mensch von den Tieren. Es liegt auf der Hand, daß diese verschiedenen Unterscheidungsmerkmale nicht unabhängig voneinander sein können. In der Regel wird ihr Zusammenhang nur einseitig aufgefaßt: zum Gebrauch von Werkzeugen ist Vernunft, ist bewußte Überlegung nötig; bei dieser einseitigen Abhängigkeit kann jedoch von einer ausreichenden natürlichen Erklärung keine Rede sein. Wenn man die übliche Darstellung liest, daß ein Affe oder Affenmensch bisweilen einen Stein und bisweilen einen Stock benutzt, und daß nun ein sehr intelligentes Exemplar nur auf den Bedanken zu kommen brauchte, beide aneinander zu befestigen, und eine fertige Art ist da – so ist in diesem „Gedanken“ schon eine menschliche Vernunft vorausgesetzt. Mit recht nennt Noiré die Annahme, das ein Urmensch in vernünftiger Überlegung Stock und Stein zur Art zusammenfügte, ungeheuerlich. Sie läßt das Wunder der Entstehung der menschlichen Vernunft als unerklärtes Wunder bestehen.

Das Wunder ist nur durch Hinzuziehung der anderen Seite des Zusammenhanges aufzuheben. Vernunft und Sprache können nur aus dem Gebrauch des Werkzeugs entstanden sein. Der Widerspruch, daß das eine aus dem anderen und das andere aus dem eine entstanden ist, löst sich dadurch, daß es sich um einen sehr langen und langsamen Prozeß der Wechselwirkung handelt, in dem Sprache und Werkzeug, Denken und Tätigkeit sich aneinander und zusammen entwickeln. „Nur die Entwicklung, die allmähliche, langsame, lückenlose – dieses Zieles unbewußt und dennoch durch eine gewisse instinktive Vernunftwirkung in langem, vielfältigen Tasten nach einer Richtung hinstrebend, an deren Ende eben das vollendete Werkzeug liegt – ist instande …, das Wunder zu beseitigen“ (Noiré). Auf jeder Stufe regt die Werkzeugtätigkeit das Denken an, verbessert das Denken das Werkzeug, und so wächst, in unendlich langsamen, unmerklichen Stufen emporsteigend, mit dem allmählich aus der dunklen Empfindungsmasse sich aushebenden Denken auch der immer bewußtere Gebrauch des Werkzeugs als Machtmittel in des Menschen Hand empor. Wenn als Frucht eines langen Entwicklungsganges schließlich die Art nich zufällig erfunden und nicht bewußt konstruiert, sondern entstanden, gewachsen ist, dann hat der Mensch in diesem wundervollen Werkzeug, das ihn befähigt, den starken Naturgewalten, Urwald und Raubtieren, die Stirne zu bieten, die Bürgschaft seines künftigen Herrschertums über die Erde in der Hand.

Bei Mensch und Tier bewirkt das Bedürfnis als unmittelbare Empfindung gestimmte Handlungen, der Zweck die Befriedigung des Bedürfnisses ist. Bei dem Tier sind Empfindung und Handlung unmittelbar miteinander verbunden; der Hunger und der Anblick der Beute wirken sofort dahin, daß sie in der dem Tier eigenen Weise verfolgt und gegriffen wird. Keine Gedanke, kein Werkzeug schiebt sich dazwischen. Bei dem Menschen haben sich zahllose Mittelglieder eingeschoben, und Befriedigung miteinander verbunden. Geistig schiebt sich eine lang Reihe von Wahrnehmungen und Schlüssen, eine Kette von Zwecken und Mitteln, materiell schiebt auch sich eine Reihe von Werkzeugen, ein verwickeltes System von Produktionsmitteln dazwishen. Der hungrige Mensch wird durch den Anblick von ein paar Zeilen Druckerschwärze dazu gebracht, sein Bünder zu schnüren, sich auf die Bahn zu setzen, in der fremder Stadt sich bei dem in Angriff genommenen Werke anzubieten, um eine Woche nachher Geld zu Lebensmitteln zu empfangen. Diesem gedanklichen Umweg zwischen Hungerempfindung und Nahrung entspricht die Verwickeltheit der heutigen Produktionsordnung. Dieses verwickelte Ganze von Mittelgliedern, von Denken und Sprache, von Schrift und Wissenschaft, dieses ganze geistige Besitztum der Menschheit hat sich aus einfachen Anfängen durch immer weitere Differenzierung entwickelt; ähnlich hat sich unsere vollkommene Technik aus dem primitivsten Werkzeug entwickelt; diese beiden Entwicklungen sind in jeder Stufe aufs engste miteinander verbunden. In ihren einfachen Anfängen liegt die ganze nachherige Entwicklung schon im Prinzip enthalten; mit ihnen braucht die Erklärung sich bloß zu beschäftigen. Der Urmensch, der einen einfachen Gedanken zwischen Trieb und Handlung schiebt, nicht sofort das Mittel zum Zweck anwendet, sondern ein Mittel zu diesem Mittel – der also nicht seinen Gegenstand mit seinen leiblichen Organen angreift, sonder ein Werkzeug nimmt, zum Beispiel einen scharfen Stein sucht, um das tote Tier zu zerteilen, dieser Urmensch ist schon wirklich Mensch und weist das Unterscheidungsmerkmal von Mensch und Tier in seiner einfachsten Gestalt auf.

Zu einer solchen bewußten Anwendung von Werkzeugen ist Vernunft, ist Überlegung nötig, die ein Tier, trotz der vielen Tierfabeln, in denen die Beobachter in die tierischen Handlungen eine menschliche Überlegung hineinlegen, nicht besitzt. Diese Vernunft besteht in nichts anderem als in dem Besitz abstrakter Begriffe. In diesen abstrakten Begriffen und kausalen Regeln hat der Mensch seine früheren Erfahrungen aufgespreichert; in dieser allgemeinen Gestalt stehen sie ihm als Wissen zur Verfügung. Jede Empfindung, jede Wahrnehmung, anstatt sofort seine Handlung auszulösen, wird mit den Begriffen im Kopfe verbunden, verglichen und auf Grund bestimmter Charaktere als besonderer Fall ihrer allgemeinen Regeln in sie eingereiht. Die schließliche Handlung erscheint dann als das letzte Glied einer ganzen Reihe von Schlußfolgerungen, die die obenerwähnten „Mittelglieder“ zwischen Empfindung und Handlung bilden. Das die Begriffe und Vorstellungen ein tausendfach verschlungenes Netz von Ursachen und Wirkungen bilden, ist die Verbindung jener Endpunkte nicht in einer, sondern in hundertfacher Weise möglich; der Mensch paßt gleichsam die verschiedensten Begriffsverbindungen probenweise als Glieder in die Kette ein, um schließlich die passendsten beizubehalten. Darin besteht die bewußte überlegung, die freie Auswahl der zweckentsprechensten Handlungen, die zum Gebrauch des Werkzeugs nötig ist. (3)

Durch die abstrakten Begriffe löst der Mensch die Welt in ihre Teile und Elemente auf, während das Tier, dem diese Begriffe fehlen, dazu nicht fähig ist. Der Mensch ist daher imstande, jede Gruppe von Erscheinungen gesondert, los von dem Weltganzen, zu betrachten und sich bestimmte Gegenstände in einer anderen Lage vorzustellen; darauf beruht die ganze menschliche Arbeit, daß der Mensch sich zuerst im Köpfe als Vorstellung aufbaut, was nachher seine Arbeit verwirklicht. Not macht nur den Menschen, nicht das Tier erfinderisch; auch in der höchsten Not wird dat Tier sich nicht dazu erheben können, absichtlich einen Stein zu nehmen und als Werkzeug anzuwenden, weil ihm die Vorstellung fehlt, welche Wirkungen der Stein in einer anderen Lage ausüben würde.

Hier wird nun auch sofort klar, in welcher Weise der Gebrauch von Werkzeugen zu der Entstehung einer Werkzeugs besteht in der vorgestellten Heraushebung eines Gegenstandes aus der Gesamtmasse der Empfindungen in eine vorgestellte neue Lage. Die Möglichkeit dieser Vorstellung kann umgekehrt nur aus der wiederholt wahrgenommenen Heraushebung eines Gegenstandes aus der Gesammtumgebung, wobei jedesmal bestimmte Wirkungen auftraten, verstanden werden. Die Ansicht, die Vorstellung eines ursächlichen Verhältnisses sei aus der wiederholten Beobachtungen bestimmter einander folgender Naturvorgänge hervorgegangen, ist unrichtig; der kausale Zusammenhang bestimmter Naturvorgänge wird erst bei einer viel höheren Stufe der Entwicklung erkannt, wenn die Vorstellung von kausalen Beziehungen überhaupt schon zu einer festen Denkform geworden ist. Sonst müßten ja die Tiere auch diese Vorstellungen haben. So wie die Welt uns rings umgibt und uns anstrarrt, wie sie auch die Tiere anstarrt und von ihnen angestarrt wird, kann die diese Vorstellung nicht erwecken; sie ist dort eine Ganzes von Empfindungen, von dem kein Anstoß zur Entzündung eines Selbstbewußtseins ausgeht. Sie ist nicht unveränderlich; sie wechselt und ändert sich fortwährend, schon durch die Bewegung des Tieres, und auf bestimmte Änderungen, bestimmte Wahrnehmungen reagiert das Tier durch bstimmte zweckmäßige Bewegungen, die einen instinktmäßigen Charakter tragen, das heißt durch lange Vererbung zu festen Trieben geworden sind. So flieht der Hase bei jedem Geräusch, so verfolgt das Raubtier seine Beute, so bohrt und knabbert das Eichkätschen in bestimmter Weise an der Nuß. Auch die Tiere haben Erfahrung über die Wirkungen bestimmter Ursachen, denn sie fliehen oder suchen sie; aber diese Erfahrungen bleiben in dem Ganzen verschlungen, das wie eine Einheit empfunden wird.

Aus dieser Gesamtmasse hebt sich für den Urmenschen das von ihm geschaffene Werkzeug heraus. Während die ganze Umwelt, genau wie bei dem Tier, unbewußt wie ein Ganzes empfunden wird, zu dem er sich passiv verhält, bildet sein aktiven Wesen, seine eigene Tätigkeit den Gegenstand seiner ganzen Aufmerksamkeit. Darin tritt nun das Werkzeug und dessen Produkt als ein willkürliches auf; er benutzt es, und die Wirkung kommt; er wirft es weg, und die Wirkung bleibt aus; das Resultat der Tätigkeit als Wirkung, und das Werkzeug als Ursache treten als von seiner Willkür anhängige Erscheinungen aus der Masse alles anderen hervor. So erleuchtet sich das Selbstbewußtsein in der Gestalt des zuerst ausdämmernden Kausalbewußtseins an der schaffenden, unwandelnden Tätigkeit des Menschen mittels des von ihm selbst geschaffenen Werkzeugs.

Hier darf wohl die Bemerkung eingeschoben werden, daß auf jeder Stufe der Entwicklung die Erweiterung des Wissens in derselben Weise stattfindet. Aus einer Erfahrungsmasse, die zuvor als ein ununterschiedenes Ganzes durch eine einzigen Begriff dargestellt wurde, treten die einzelnen Elemente hervor und werden besonders benannt und unterschieden.

Bei dieser ersten Bewußtwerdung des Geistes war es also wesentlich, daß die Werkzeugtätigkeit innerhalb des Gesichtskreises des Auges fiel. Sie ist also eng verknüpft mit der Rolle, die die Hand in der menschlichen Entwicklung spielte. Bei den meisten Tieren fällt die bedeutendste Tätigkeit des Ergreifens und Zerstückelns der Nahrung den Zähnen zu, kann also nicht gesehen werden. Daß bei den Affen die Pfoten sich zu Greiforganen mit gegenüberstehendem Daumen entwickelt haben, deren Tätigkeit dem Auge sichtbar ist, bedingt zweifelsohne schon die höhere Intelligenz dieser Tiere. Doch behalten wir, wie bei den primitivsten Urmenschen die Zähne immer noch eine bedeutende Funktion. Erst mit dem Gebrauch von Werkzeugen tritt die Hand als stellvertretendes Organ für alle anderen auf, und treten alle wichtige Tätigkeiten in den Gesichtskreis und unter die Kontrolle des Auges.

Die Hand ist nicht wie die Organe der Tiere für eine bestimmte Tätigkeit ausgebildet, sondern ein Organ, das durch seinen feinen Bau und sein feines gefühl zur Handhabung und Führung aller Werkzeuge geeignet ist und dadurch Organ für Tätigkeit. Sie ist and die Stelle aller tierischen Arbeitsorgane getreten; was bei den Tieren durch Differenzierung der fest angewachsenen Leibesorgane selbst an spezieller Zweckmäßigkeit der auswechselbaren Werkzeuge statt. Nur mit Hilfe dieses als Gereiforgan ererbten wundervollen Organs konnte der Mensch zum Gebrauch von Werkzeugen gelangen, also zum Vernunfttier werden.

Hand und Werkzeug entsprechen zusammen dem tierischen Organ. Das besondere dabei, das das Denken entzündet und anregt, ist dies, daß das Werkzeug zugleich wie ein Teil des eigenen Körpers erscheint und doch ein äußerliches Ding ist, das wieder weggeworfen wird. Deshalb kann es durch andere ähnliche Werkzeuge ersetzt werden. Hier findet das Abstraktionsvermögen seine erst Bestätigung; nicht wie ein ungeteiltes Ganze erscheint das werbende Organ, sondern es besteht aus der hand mit irgend einem Objekt zusammen. Der Name des Objekts ist von Anfang an Gattungsname, der einen abstrakten, viel konkrete Dinge darstellenden Begriff ausdrückt.

So wird verständlich, wie der Gebrauch von Werkzeugen das Abstraktionsvermögen und das Kausalitätsempfinden notwendig hervorrufen muß. Umgekehrt ist ein solches Abstraktionsvermögen und die Kausalitätsvorstellung, die ihrerseits wieder eine Sprache bedingen, nötig, um ein Werkzeug richtig zu gebrauchen. Um mit den Werkzeugen hantieren zu können, war die sein ausgebildete Hand nötig; umgekehrt hat sich die Hand erst durch das hantieren mit den Werkzeugen aus einem einfachen Greiforgan zu dem „Organ der Vernunft“, zu dem „außeren Gehirn“, wie man sie wohl bezeichnet hat, entwickelt. So ist die Entwicklung von Tätigkeit und Vernunft, von Denken und Sprache, von Hand und Werkzeug, die alle einander gegenseitig bedingen, als eine gemeinsame Entwicklung in stetiger Wechselwirkung zu verstehen.

Die selbstverständliche Grundlage zu dieser ganzen Enktwicklung bildet das gesellschaftliche Leben der Menschen. Nur in einer Gesellschaft war sie möglich. Eine Sprache kann nur in einer Gesellschaft entstehen und bestehen; außerhalb derselben ist sie nutzlos wie ein Auge im Dunkeln. Nur in einer Gesellschaft kann sich die Fähigkeit, Werkzeuge zu machen und zu benutzen, können sich alle dazu gehörenden Kenntnisse fortpflanzen.

Als gesellschaftlich lebende, mit Greiforganen ausgerüstete und zu verschiedenen Lauten fähige Wesen traten die Vorfahren der Menschen aus der Tierwelt heraus. Was ihre damalige Lebensweise ware, welche gemeinsame Arbeit sie machten, darüber kann man mehr oder weniger wahrscheinliche Mutmaßungen aufstellen, die zu Einzelforschung gehören. Noiré glaubt namentlich aus sprachliche Daten ableiten zu können, daß die erste gemeinsame Tätigkeit des Scharren un der Erde – und vielleicht das Flechten von Baumzweigen – zu Herstellung von Wohnungen war, wobei ihnen zufälig Steine in die Hände gerieten, die zuerst unbewußt, dann allmählich bewußt zu Arbeit benützt und dann absichtlich aufgesucht wurden. Jedenfalls darf man annehmen, daß aus der gemeinsamen Arbeit die ersten sprachliche Laute zu ihrer Bezeichnung entstanden, und daß allmählich bei dieser Arbeit vorgefundene Gegenstände unbewußt verwendet wurden. Dann fängt der oben skizzierte Prozeß an; wie ein erster schwacher Dämmerschein tritt die oft wiederholte Tätigkeit ins Bewußtsein und trennt sich das primitive Werkzeug von der bisher als ein ungeteiltes Ganzes empfundenen Tätigkeit; je klarer sie wird, um so bewußter wird das Werkzeug aufgesucht und angewandt. Seinen sichtbarer Ausdruck findet diese Entwicklung in der sprachlichen Absonderung des tätigen Werkzeugs von der Tätigkeit; es bekommt einen eigenen Namen, der seine Wirkung ausdrückt, und hebt sich dadurch von der ganzen Welt ab. Dieser Name ist Gattungs-, ist Begriffsname; der Anfang des abstrakten und kausalen Denkens und Vorstellens ist damit gemacht. Zugleich findet ein Prozeß der stetigen Differenzierung statt. Die primitiven Steine werden allmählich für andere Arbeiten angewandt, die geeignetsten ausgesucht und schließlich für den besonderen Zweck bearbeitet, und damit differenziert sich zugleich die Sprache zu einem immer größeren Reichtum an Begriffen.

Wir sehen also: dasselbe Prinzip, das in höher entwickelten Phasen den Fortschritt der Gesellschaft bestimmt, erklärt auch das erste Werden des Menschtums; nähmlich die stetige Wechselwirkung von Theorie und Praxis, von Arbeit und Wissenschaft, von Denken und Werkzeugen, von Vernunft und Tätigkeit. Dies erklärt auch, weshalb die Untersuchungen Noirés bei den bürgerlichen Gelehrten, die den Geist als ein selbständiges, über der sonstigen Welt stehendes Wunderding betrachten, so weinig Beachtung gefunden haben. Ihre volle Bedeutung läßt sich erst vom historisch-materialistische Standpunt heraus erfassen.


1. E. Haeckel, Die Weltanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck. Vortrag 1882. (Gemeinverständliche Vorträge, 1. Band, S. 240.)

2. L. Noiré, Das Werkzeug und seine Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Mainz 1880. Vergl. auch Engels, Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen („Neue Zeit“, XIV, S. 545)

3. Vergl. das Schopenhauersche Zitat in Kautskys „Ethik und materialistische Geschichtsauffassung“, S. 95.


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Compiled by Vico, 27 October 2019, latest additions 11 November 2019



























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