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Antonie Pannekoek Archives


Das Wilsonsche Programm / Anton Pannekoek, 1919


Quelle: Das Wilsonsche Programm / Anton Pannekoek. – Moskau : [s.n.], 1919. – 6 S.; Transkription: j.l.w. für das Marxists Internet Archive , 2008.


Die deutsche Bourgeoisie betrachtet jetzt immer mehr – je nachdem die Wellen der Revolution höher schlagen – die siegreiche Ententemacht als ihren Schutz und ihre Rettung vor dem Proletariat. Jetzt sucht sie noch die Arbeiter zu schrecken mit der Drohung, die Entente werde kommen, der „Unordnung“ zu steuern; wenn das aber die Massen nicht vom Klassenkampf zurückhalten wird, kann man darauf rechnen, das; sie die Heere der Entente selbst herbeirufen wird.

Vor allem Wilson. Schweifwedelnd rühmen sie Wilson, den Mann des Völkerbundes, den neuen Heros, der eine bessere Zeit der Gerechtigkeit zwischen den Völkern bringen wird. Kautsky hat schon auseinandergesetzt, daß Amerika nicht für imperialistische Ziele in den Krieg ging, beileibe nicht, sondern nur aus edlen, ethischen Gründen, um den deutschen Militarismus zu vernichten. Jetzt, wo dies gelungen ist, wird Wilson seine schützende Hand über die deutsche Republik erheben und dem deutsche! Volke Gutes dringen. Mit diesen phantastischen Aussichten hoffen sie die Massen vor revolutionären Taten, vor revolutionärer Selbsthilfe zurückzuhalten. Immer war ihre Politik, kein Vertrauen in die eigene Kraft der Massen zu stellen, sondern auf fremde Hilfe zu blicken. Jetzt soll der edle Wilson der Retter sein vor den siegestrunkenen Ententegenerälen, die Deutschland ausplündern und ökonomisch vernichten wollen.

Das Programm Wilsons kommt auf diese einfachen Thesen hinaus:

  • Nicht die Gewalt, sondern das Recht soll über die Welt herrschen.
  • Nicht die Gewalt, sondern das Recht soll die Beziehungen der Völker bestimmen. Wer dieses Recht verletzt, soll bestraft werden.
  • Der Völkerbund soll den Weltfrieden sichern.

Als Wilson dieses Programm aufstellte, war es in erster Linie gegen den deutschen Imperialismus gerichtet. Diese neu emporstrebende Macht konnte ihre Ziele nur durch Umsturz der bestehenden Besitz- und Kolonialverhältnisse erreichen. Deshalb brauchte sie Wahrheit und ihre Vertreter sprachen diese Wahrheit offen aus: die Macht, die Gewalt regiert die Welt. Die siegreiche Macht bestimmt das Recht, und nennt sich Recht. Demgegenüber stellten sich die alten Gewalten auf den Boden des überkommenen Rechtes und denunzierten den deutschen Standpunkt als eine grausame Verhöhnung des Rechtes. Und nur allzuviele angeblich sozialistische Kritiker stellten sich in ihrer Kritik des deutschen Imperialismus auf denselben spießbürgerlichen Standpunkt, statt zu betonen, daß aller Imperialismus notwendig zum Kapitalismus gehört und in allen Ländern dieselben Grausamkeiten zeitigt. Das Verbrechen des deutschen Imperialismus war, daß er offen und brutal tat – und deshalb im schlimmerem Maße, als System – was alle anderen unter heuchlerischen Phrasen taten; und deshalb mußte er bestraft werden. Jetzt hat die Gewalt gesiegt, die stärkere Gewalt Englands und Amerikas, sie nennt sich Recht und ordnet die Welt nach diesem Recht.

Das Recht, das die Welt beherrscht, ist die Allmacht des englisch-amerikanischen Imperialismus. Deutschland war die einzige Macht, die die Weltherrschaft England-Amerikas ernsthaft bedrohen konnte, deshalb mußte es niedergeworfen werden. Und der erste Satz Wilsons spricht es klar aus: keinem neu aufkommenden Staate soll es gestattet sein, sich durch eigene Macht zu erheben und das ererbte Recht, die jetzigen Machtverhältnisse, also die Weltherrschaft England-Amerikas zu stören.

Als Mittel dazu wird Europa gespalten in eine Anzahl kleiner Nationen, jede selbständig und machtlos, durch fortwährenden Hader über Grenzgebiete – weil jede bürgerliche Regierung möglichst großes Gebiet haben will – noch machtloser. Aber sie dürfen keinen Krieg führen und keine Sonderverträge schließen, damit nicht ein größeres Reich daraus entstehe; deshalb sollen sie einen Völkerbund bilden, in dem England-Amerika den Vorsitz, die Führung haben und alle strittigen Fragen entscheiden, daß der Hader immer neu geschürt wird. Keine Armee durch allgemeine Wehrpflicht werden sie halten dürfen, sondern nur kleine Gendarmeriekorps zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung, das heißt zur Niederhaltung des Proletariats.

So zeigt sich, daß das Wilsonsche Programm, der Völkerbund und die Weltherrschaft des Rechts, nichts anderes sind, als die ideologische Verkleidung der Weltherrschaft des englisch-amerikanischen Kapitals, das jetzt ohne Konkurrenz die Ausbeutung der ganzen Welt, Asiens, Afrikas und Europas, selbst betreiben kann.

Aber das Programm hat noch einen anderen Sinn. Es war nicht nur gegen den deutschen Imperialismus, sondern von Anfang an auch gegen das sozialistische Proletariat gerichtet. Die Losung: Recht gegen Gewalt, war schon seit langem in Amerika im Klassenkampf beliebt. Wenn die Arbeiter in Streiks durch ihre Geschossenheit nahe daran waren, den Sieg zu erringen, trat ein bürgerliches Komitee zusammen, um die „Rechtsansprüche“ beider Parteien zu untersuchen; und wollten die Arbeiter sich dem nicht fügen, so wurden sie ins Gefängnis geworfen oder, erschossen, im Namen des Rechts, Richter verboten Streikpostenstehen und Agitation, weil die Methoden der Streiks einen Versuch darstellen, durch Gewalt, durch Machtentfaltung das Recht, das ererbte Ausbeutungsrecht der Kapitalisten zu schmälern. Immer wurde diese Formel benutzt, um das emporstrebende amerikanische Proletariat, das seine Macht zu steigern suchte, gewaltsam niederzuwerfen, damit das Recht herrschen bleibe.

Die sozialistischen Arbeiter wissen es und sprechen es offen aus, daß sie die Freiheit nur erobern, den Sozialismus nur gewinnen, den Kapitalismus nur beseitigen können durch den Kampf, durch Ausbildung der eigenen Macht, durch gewaltsame Niederwerfung der Ausbeutermacht – und unsere Theorie, der Marxismus, bringt diese Wahrheit klar zum Ausdruck. Gegen diese Lehre und diese Ziele stellt sich das Wilsonsche Programm: so wenig wie einer Nation, soll es einer Klasse gestattet sein, sich durch eigenen Kraft zu erheben und die Welt zu erobern. Und wenn sie es trotzdem versucht, wird sie durch die ganze Gewalt der siegreichen englisch-amerikanischen Macht erdrückt werden – im Namen des Rechtes. Das ist die Bedeutung des Wilsonschen Programmes.

Aber die Entente ist im Innern verwundbar, in allen Ententeländern gährt es unter den Arbeitern; und diese Gährung wird durch ihr Auftreten gegen die europäische Revolution wachsen. So wird ihr Auftreten nur die Ausbreitung der Weltrevolution fördern.


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Compiled by Vico, 2 April 2018