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Zur Einführung / [Anton Pannekoek]Quelle: Vorbote , Heft 1 (Januar 1916), S. 1-4 Wir stehen inmitten einer Katastrophe der Arbeiterbewegung, wie sie in ihrer Geschichte keine zweite zu verzeichnen hat. Der Zusammenbruch der Internationalen durch den Weltkrieg ist nicht einfach ein Versagen des internationalen Empfindens vor der Macht des gesteigerten Nationalismus. Er ist zugleich ein Zusammenbruch der Taktik, der Kampfmethoden, des ganzen Systems, das in der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsbewegung der letzten Jahrzehnte verkörpert war. Die Erkenntnisse und Kampfmethoden, die dem Proletariat während des ersten Aufstiegs des Kapitalismus die besten Dienste leisteten, versagten der neuen imperialistischen Entwicklung gegenüber. Äußerlich zeigte sich dies in der steigenden Ohnmacht der Parlamente und der Gewerkschaftsbewegung, innerlich in dem Überhandnehmen von Tradition und Deklamation an die Stelle klarer Einsicht und kampfbereiter Tatkraft, in der Erstarrung der Taktik und der Organisationsform, in der Umdeutung der revolutionären Theorie des Marxismus in eine Lehre des passiven Abwartens. Während der Kapitalismus sich zum Imperialismus entwickelte, sich neue gewaltige Ziele stellte und sich energisch für den Kampf um die Weltherrschaft rüstete, blieb diese Entwicklung von der Mehrheit der Sozialdemokratie unbeachtet; sie ließ sich vom Traumbild naher sozialer Reformen narren und tat nichts, die Kampffähigkeit des Proletariats gegen den Imperialismus entsprechend zu steigern. Daher bedeutet die jetzige Katastrophe nicht bloß, dass das Proletariat zu schwach war, den Ausbruch des Krieges zu verhindern. Sie bedeutet, dass die Methoden aus der Zeit der zweiten Internationalen nicht imstande sind, die geistige und materielle Macht des Proletariats so hoch zu steigern, als nötig ist, um die Macht der herrschenden Klassen zu brechen. Daher muss der Weltkrieg ein Wendepunkt in der Geschichte der Arbeiterbewegung sein. Mit dem Weltkrieg sind wir in eine neue Periode des Kapitalismus eingetreten, die Periode seiner gewaltsamen intensiven Ausbreitung über die ganze Erde, unter erbitterten gegenseitigen Kämpfen der Völker und ungeheurer Vernichtung von Kapitalien und Menschen; eine Periode also des schwersten Druckes und Leidens für die arbeitenden Volksmassen. Aber damit werden die Massen auch zur Auflehnung getrieben; sie müssen sich erheben, wollen sie nicht völlig zermalmt werden. In gewaltigen Massenkämpfen, gegen die die bisherigen Kämpfe und Kampfmethoden nur harmloses Vorspiel sind, werden sie den Imperialismus angreifen müssen. Dieser Kampf für die elementarsten Lebensbedingungen des Proletariats, für die unentbehrlichsten Rechte und Freiheiten, für die notwendigsten Reformen, für das nackte Leben oft, gegen Reaktion und Unternehmergewalt, gegen Krieg und Elend, kann nur mit der Niederwerfung des Imperialismus, mit dem Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie ein Ende nehmen. Er wird zugleich der Kampf für den Sozialismus, für die Befreiung des Proletariats sein. Mit dem jetzigen Weltkrieg bricht daher auch eine neue Periode des Sozialismus an. Für den neuen Kampf ist eine geistige Neuorientierung nötig. Mangel an klarer sozialistischer Einsicht war eine der Hauptursachen der Schwäche des Proletariats, als der Krieg kam – weder kannte es den Imperialismus, noch seine eigenen Kampfmittel. Der Kampf gegen den Imperialismus, diese reifste und mächtigste Entwicklungsform des Kapitalismus, stellt jedoch die höchsten geistigen und materiellen, sittlichen und organisatorischen Anforderungen an das Proletariat. Es darf sich nicht dumpfer, machtloser Verzweiflung hingeben; aber es genügt auch nicht, dass es sich in spontanen Aktionen gegen den unerträglichen Druck auflehnt. Sollen diese zum Ziel führen und zu Etappen auf dem Weg des neuen Aufstiegs zur Macht werden, so ist geistige Klarheit über die Ziele, die Möglichkeiten, die Bedeutung solcher Aktionen nötig. Mit der Praxis muss die Theorie Hand in Hand gehen, die sie aus bewusstloser zu bewusster Tat macht und Klarheit über den Weg verbreitet, «Materielle Gewalt kann nur durch materielle Gewalt gebrochen werden. Aber auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift» (Marx) (1). Zu dieser Theorie, diesem neuen geistigen Rüstzeug, waren die Anfänge schon vorhanden als geistiger Niederschlag aus der bisherigen Praxis des Imperialismus und der Massenaktionen. Jetzt hat der Weltkrieg ungeheuer viel neue Einblicke gebracht und die Geister aus dem Schlaf der Tradition aufgerüttelt. Jetzt ist es an der Zeit, alles was an neue Gedanken, Losungen, Vorschlägen aufsprießt, zu sammeln, zu sichten, zu prüfen, durch Diskussion zu klären und so dem neuen Kampfe dienstbar zu machen. Diesem Ziel soll unsere Revue dienen. Eine ungeheure Fülle neuer Fragen liegt vor uns. Zuerst die Fragen des Imperialismus, seiner ökonomischen Wurzeln, seines Zusammenhanges mit Kapitalexport, Rohstoffversorgung und schwerer Industrie, seiner Einwirkung auf Politik, Parlament und Bürokratie, seiner geistigen Macht über Bourgeoisie und Presse, seiner Bedeutung als neue Ideologie der Bourgeoisie. Dann die Fragen, die sich auf das Proletariat, die Ursachen seiner Schwäche, seine Psychologie beziehen und die Erscheinungen des Sozialimperialismus und Sozialpatriotismus. Weiter die Fragen der proletarischen Kampftaktik, der Bedeutung und der Möglichkeiten des Parlamentarismus, der Massenaktionen, der Gewerkschaftstaktik, der Reformen und Teilforderungen, der Bedeutung und der künftigen Rolle der Organisation; weiter die Fragen des Nationalismus, des Militarismus und der Kolonialpolitik. Der alte Sozialismus hatte auf viele dieser Fragen feste Antworten, die schon zu Formeln erstarrten – aber mit dem Zusammenbruch der zweiten Internationalen sind auch ihre Formeln hinfällig geworden. In den alten Normen und Ideen aus vorimperialistischer Zeit kann das Proletariat keine Richtlinien finden für sein Handeln unter neuen Verhältnissen. Die sozialdemokratischen Parteien können ihm auch keinen Halt mehr bieten. Sie haben sich in ihrer großen Mehrheit dem Imperialismus ergeben; die bewusste aktive oder passive Unterstützung der Kriegspolitik durch die Partei- und Gewerkschaftsvertreter hat zu tiefe Spuren eingegraben, um eine einfache Rückkehr zum alten Standpunkt vor dem Kriege möglich zu machen. Diese Unterstützung des Imperialismus in seinen entscheidenden Lebensfragen bestimmt den Charakter dieser Arbeiterorganisationen, mögen sie auch den alten sozialistischen Losungen zustimmen und den kleineren inneren Wirkungen des Imperialismus gegenüber scharfe Opposition treiben. Aber damit geraten sie in Widerspruch zu den notwendigen revolutionären Zielen, des Proletariats und werden selbst in eine schwere innere Krise hineingetrieben. MI>Zwischen denen, die die Sozialdemokratie zum Werkzeug des Imperialismus, und denen, die sie zum Werkzeug der Revolution machen wollen, wird keine organisatorische Einheit mehr möglich sein. Die Aufgabe, jene Probleme zu klären, die neuen Losungen aufzustellen, die Richtlinien für den neuen Kampf zu formulieren, fällt denjenigen zu, die sich durch den Krieg nicht haben beirren lassen und treu an dem Internationalismus und dem Klassenkampf festhielten. Ihr Werkzeug wird dabei der Marxismus sein. Der Marxismus, von den namhaftesten Theoretikern der Sozialdemokratie als Methode zur bloßen Erklärung der Vergangenheit und des Bestehenden betrachtet und angewandt, und in ihren Händen stets mehr zu einer dürren Lehre des mechanischen Fatalismus herabgesunken, kommt jetzt wieder zu seinem Rechte als Theorie der revolutionären Tat. «Die Philosophen haben die Welt verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.» (2) Als lebendige revolutionäre Methode wird dieser Marxismus wieder zur solidesten Grundlage, zur schärfsten geistigen Waffe des Sozialismus. Es gibt keine dringendere Aufgabe als diese Klärung der neuen Probleme. Denn es ist eine Lebensfrage für das Proletariat – und damit für die ganze Entwicklung der Menschheit – dass es seinen Weg zum neuen Aufstieg klar und hell vor sich liegen sieht. Und es sind auch keine Fragen der Zukunft, deren Lösung aufgeschoben werden kann, bis man in Ruhe und Frieden darüber diskutieren kann. Sie leiden keinen Aufschub. Noch während des Krieges und sofort bei und nach seiner Beendigung bilden sie die wichtigsten unmittelbarsten Lebensfragen für die Arbeiterklasse in allen Ländern. Nicht nur die wichtige Frage, die überall schon das Kampfobjekt der Richtungen bildet, ob und wie das Proletariat auftreten kann, das Ende des Krieges zu beschleunigen und die Gestaltung des Friedens zu beeinflussen. Beim Abbruch des Krieges wird sich die ungeheure wirtschaftliche Erschütterung der Welt erst in ihrer ganzen Wucht zeigen, wenn unter allgemeiner Erschöpfung, Kapitalmangel und Arbeitslosigkeit die Industrie neu geregelt werden muss, wenn die furchtbare Verschuldung aller Staaten zu kolossalen Steuern treibt und der Staatssozialismus, die Militarisierung des Wirtschaftslebens, als einziger Ausweg aus den finanziellen Schwierigkeiten erscheint. Dann muss gehandelt werden, mit oder ohne Theorie; aber dann wird auch der Mangel an theoretischer Klarheit die folgenschwersten Fehler und Irrtümer mit sich schleppen. Hier liegt die große Aufgabe unserer Revue: durch Behandlung, Diskussion und Klärung dieser Fragen will sie den materiellen Kampf des Proletariats gegen den Imperialismus unterstützen. Als Organ der Diskussion und der Klärung ist sie zugleich Organ des Kampfes – der gemeinsame Wille zum Kampf, der gemeinsame Standpunkt in dieser Hauptfrage der Augenblickspraxis hat die Herausgeber und Mitarbeiter der Revue zusammengeführt. Kampf in erster Linie gegen den Imperialismus, den Hauptfeind des Proletariats. Aber dieser Kampf ist nur möglich durch einen gleich rücksichtslosen Kampf gegen alle Elemente der ehemaligen Sozialdemokratie, die das Proletariat vor den Karren des Imperialismus spannen: sowohl die offenen Imperialisten, die zu einfachen Agenten der Bourgeoisie geworden sind, wie die Sozialpatrioten aller Schattierungen, die die unvereinbaren Gegensätze auszusöhnen und das Proletariat vom Kampf mit den schärfsten Mitteln gegen den Imperialismus zurückzuhalten suchen. Die Konstituierung der dritten Internationalen wird nur möglich sein durch den entschiedenen Bruch mit dem Sozialpatriotismus. In dieser Erkenntnis stehen wir auf dem gleichen Boden mit der Zimmerwalder Linken. Was diese Gruppe internationaler Sozialdemokraten sich in ihrem praktisch-politischen Auftreten als Ziel stellt, daran will unsere Revue durch theoretische Arbeit mithelfen: durch den schärfsten Kampf gegen den Sozialpatriotismus, durch schonungslose Zergliederung der Unzulänglichkeiten des alten revisionistischen und radikalen Sozialismus die neue Internationale vorzubereiten. Indern das Proletariat die Schwäche und Verkehrtheit der theoretischen Anschauungen durchschaut, deren praktischen Zusammenbruch es jetzt grausam erlebt, wird es Zuversicht für den neuen Kampf und den neuen Sozialismus bekommen. Redaktionelle Anmerkungen1. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie : Einleitung , (1843); m.e.w., Bd. 1, S. 385. Etwas frei zitiert; die Stelle lautet wörtlich: „[…] die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“. 2. Karl Marx, Thesen über Feuerbach (1843); m.e.w., Bd. 3, S. 534. © Obgleich die Kommunistische Linke im Allgemeinen keine Urheberrechte bzw. „intellektuelle Eigentumsrechte“ für sich eingefordert hat, können einige Veröffentlichungen auf dieser Webseite urheberrechtlich geschützt sein. In diesem Fall steht ihr Gebrauch nur zum Zweck persönlichen Nachschlags frei. Ungeschütztes Material kann für nicht-kommerzielle Zwecke frei und unentgeltlich verbreitet werden. Wir sind Ihnen erkenntlich für Ihren Quellenhinweis und Benachrichtigung. Bei beabsichtigter kommerzieller Nutzung bitten wir um Kontaktaufnahme. Compiled by Vico, 13 April 2018, latest additions 29 July 2018 |
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