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Die Stellung und Bedeutung von J. Dietzgens philosophischen Arbeiten / Anton Pannekoek, 1903Quelle: Die Stellung und Bedeutung von J[oseph]. Dietzgens philosophischer Arbeit / Anton Pannekoek. – In: Das Wesen der menschlicher Kopfarbeit : Eine abermalige Kritik der reinen und praktischen Vernunft / Joseph Dietzgen; mit einer Einleitung von Anton Pannekoek. – Stuttgart : Dietz Verlag, 1903. – xxvii, 151 S. – (Internationale Bibliothek ; Bd. 31); Transkription j.l.w. Die Geschichte der Philosophie ist die Geschichte des bürgerlichen Denkens; in ihr zeigen sich die einander folgenden Formen der Denkweise der herrschenden Klassen. Diese Denkweise tritt auf, nachdem sich aus dem Urkommunismus eine Gesellschaft mit Klassengegensätzen entwickelt hat, in der der Reichtum der Mitglieder der besitzenden Klasse diesen freie Zeit und dadurch den Ansporn gab, den Produkten ihres Geistes Aufmerksamkeit zu schenken. Im klassischen Griechenland ist ihr Beginn; die schärfste und entwickeltste Form aber fand sie, als im kapitalistischen Europa die moderne Bourgeoisie zur herrschenden Klasse geworden war und die Denker die Gedanken der Bourgeoisie zum Ausdruck brachten. Ihr charakteristisches Kennzeichen ist ihr Dualismus, der unverstandene Gegensatz zwischen Denken und Sein, zwischen Natur und Geist – eine Folge ihrer Verwirrtheit und ihres Unvermögens, die Dinge richtig und klar zu sehen. Es ist die Spaltung der Menschheit in Klassen und der unverstandene Charakter der gesellschaftlichen Produktion, seit sie Warenproduktion wurde, die hierin zum Ausdruck kommen. Im urwüchsigen Kommunismus waren die Produktionsverhältnisse klar und durchsichtig; die Gebrauchswerte wurden gemeinschaftlich hergestellt und gemeinschaftlich genossen; die Menschen beherrschten die Produktion und waren, soweit es die sie beherrschenden Naturkräfte zuließen, ihres Geschickes Meister. Hier mussten die Gedanken noch einfach und klar sein; da ein Streit zwischen persönlichem und gemeinschaftlichem Interesse nicht vorhanden war, so gab es auch keinen tiefgehenden Gegensatz zwischen Gut und Böse. Nur die stärkeren Naturkräfte schwebten als unbegriffene, bald wohltätige, bald zerstörende geheimnisvolle Mächte über diesen primitiven Gemeinschaften. Mit dem Aufkommen der Warenproduktion ändert sich das Bild. Die zivilisierte Menschheit fängt an, sich freier von dem schweren, launenhaften Drucke der Naturkräfte zu fühlen; aber nun erhaben sich neue dämonischere Mächte, von gesellschaftlichem Ursprung. „Sobald die Produzenten ihr Produkt nicht mehr direkt selbst verzehrten, sondern es im Austausch aus der Hand gaben, verloren sie die Herrschaft darüber. Sie wußten nicht mehr, was aus ihm wurde, und die Möglichkeit war gegeben, daß das Produkt dereinst verwandt wurde gegen den Produzenten, zu seiner Ausbeutung und Unterdrückung.“ „Das Produkt beherrscht die Produzenten“ (Engels). Bei der Warenproduktion wird nicht der vom besonderen Produzenten beabsichtigte Zweck erreicht, sondern das, was die Produktionskräfte hinter seinem Rücken durchsetzen. Der Mensch denkt, aber eine stärkere gesellschaftliche Macht lenkt; er ist nicht mehr Herr seines Geschickes. Die Produktionsverhältnisse sind kompliziert und undurchsichtig; der Einzelne produziert zwar selbstständig, in seiner individuellen Arbeit aber verkörpert sich der gesellschaftliche Produktionsprozeß, dessen unbewusstes Werkzeug er ist. Die Früchte der Arbeit vieler werden von einzelnen genossen. Das gesellschaftliche Zusammenwirken verbirgt sich hinter heftigem Konkurrenzstreit der Produzenten unter einander. Das Interesse des Einzelnen ist im Streit mit dem der Gesellschaft; gut – d.h. das allgemeine Interesse berücksichtigen – steht im Gegensatz zu böse – alles dem eignen Vorteil aufopfern. Die Leidenschaften des Menschen sowohl als auch seine Geistesgaben sind, nachdem sie einmal losgelassen, entfaltet, geübt, gestärkt, verfeinert worden, zu ebenso vielen willenlosen Waffen geworden, die eine höhere Macht gegen den Besitzer wendet. So ungefähr waren die Eindrücke, aus denen der nachdenkende Mensch seine Weltanschauung bildete, während er, Mitglied der besitzenden Klasse, zwar Gelegenheit hatte, seine Ideen einem gewissenhaften Selbststudium zu unterwerfen, aber, ihrer Quelle, dem Arbeitsprozesse fernstehend, nicht im Stande war, ihren gesellschaftlichen Ursprung zu durchschauen. So musste er dazu kommen, sie als selbständige geistige Mächte anzusehen oder aber ihren Ursprung in einer übernatürlichen geistigen Macht zu suchen. Diese zwiespältige metaphysische Denkweise hat im Laufe der Zeiten die verschiedensten Formen angenommen, und zwar in Übereinstimmung mit der Entwicklung der Produktion von der antiken Sklavenwirtschaft ab, durch die Leibeigenschaft und die mittelalterliche Warenproduktion hin, bis zum modernen Kapitalismus. In der Entwicklung der griechischen Philosophie, in den verschiedenen Gestalten der christlichen Religion und in den modernen philosophischen Systemen sind diese aufeinanderfolgenden Formen verkörpert. Man darf diese Systeme und Religionen jedoch nicht als das ansehen, wofür sie ausgegeben werden, nämlich als – immer wieder missglückte – bloße Formulierungen der absoluten Wahrheit, sondern in ihnen verkörpern sich immer höhere Stufen der Erkenntnis, die der menschliche Geist von sich selbst und von der Welt erlangte. Der Zweck des philosophischen Denkens war, durch Begreifen Selbstbefriedigung zu finden; und wo das Verständnis nicht ganz auf natürliche Weise erreicht werden konnte, da blieb stets noch ein Feld für das Übernatürliche, das Unbegreifliche übrig. Durch die mühsame Geistesarbeit der tiefsten Denker aber wurde das Wissen stets größer und für das Unbegreifliche blieb immer weniger Raum zurück. Und das vor allem, seitdem das Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise zum beharrlich vorwärtsschreitenden Studium der Natur antrieb; denn hierbei hatte der menschliche Geist Gelegenheit, um, voll dem überreizten, hoffnungslosen Suchen nach der absoluten Wahrheit befreit, im Finden von sich stetig aneinanderreihenden Teilwahrheiten seine Kraft bei einfacher, stiller und fruchtbarer Arbeit kennen zu lernen. Der Drang, die Bedeutung und den Wert dieser neuen Wahrheiten festzustellen, gab den Anlaß zu den Fragen der Erkenntnistheorie. Die Versuche zu ihrer Lösung bilden einen integrierenden Bestandteil der neueren philosophischen Systeme, welche eine fortschreitende Entwickelung der Erkenntnislehre aufweisen und darstellen. Jhrer Vollendung stand jedoch der übernatürliche Charakter dieser Systeme im Wege. Durch die technischen Bedürfnisse des Kapitalismus vorwärtsgetrieben, gestaltete sich die Entwicklung der Naturwissenschaft zu einem Triumphzuge des menschlichen Geistes; die Natur wurde unterworfen, erst geistig, indem man ihre Gesetze entdeckte, dann materiell dadurch, daß man diese nun bekannten Kräfte dem menschlichen Willen unterwarf und sie dem höchsten Zwecke, der mühelosen Produktion unserer Lebensbedürfnisse, dienstbar machte. Um so schärfer (der Kapitalismus macht, wie die Klassengegensätze, so auch alle Kontraste schärfer, aber dadurch auch einfacher und klarer) hob sich hiervon die tiefe Finsternis ab, in welche die Natur der menschlichen Gesellschaft gehüllt blieb. Während die Naturkunde alle Geheimniskrämerei entbehren konnte, bot das Dunkel, worin sich der Ursprung der Ideen verbarg, nach wie vor dem Wunderglauben einen sicheren Zufluchtsort auf dem Gebiete des Geistigen. Der Kapitalismus geht zur Neige; der Sozialismus naht. Kräftiger kann die große Bedeutung dieses Überganges in der menschlichen Geschichte nicht ausgedrückt werden, als durch die Worte von Marx und Engels: „Damit schließt die Vorgeschichte der Menschheit ab; damit scheidet der Mensch endgültig aus dem Tierreich.“ Mit der gesellschaftlichen Regelung der Produktion wird der Mensch ganz zum Herrn seines eigenen Geschickes. Keine geheimnisvolle gesellschaftliche Macht durchkreuzt mehr seine Absichten und stellt ihren Erfolg in Frage; keine geheimnisvolle Naturmacht beherrscht ihn mehr. Nicht als Sklave, sondern als Meister steht er der Natur gegenüber. Er hat ihre Wirkungen untersucht, erkannt und sich dienstbar gemacht; nun erst ist er in Wirklichkeit der Herr der Erde. Nun erscheint die jahrhundertlange Geschichte der Zivilisation als notwendige Vorbereitung zum Sozialismus, als ein langsames Sichlosringen aus der Sklaverei der Natur, als eine allmähliche Steigerung der Produktivität des Arbeitsprozesses bis zu dem Grade, in dem der Lebensunterhalt aller fast mühelos beschafft werden kann. Das ist dann auch das Verdienst und die Rechtfertigung des Kapitalismus, dass er, nach so vielen Jahrhunderten des unmerklich langsamen Fortschritts, in schnellem Ansturm die Natur unterwerfen lehrte, die Produktionskräfte entfesselte und schließlich den gesellschaftlichen Arbeitsprozess so umformte und bloßlegte, dass er nun endlich vom menschlichen Geiste durchschaut und begriffen werden konnte – die unumgängliche Vorbedingung, um ihn beherrschen zu lernen. Eine solche tiefgehende ökonomische Revolution, wie sie seit dem ersten Erscheinen der Warenproduktion noch nicht dagewesen ist, muss eine ebenso tiefgehende geistige Revolution mit sich bringen. Sie ist der Abschluss der bürgerlichen Periode – im weitesten Sinne –, sie führt auch das Ende des bürgerlichen Denkens herbei. Mit ihr verschwindet das Geheimnisvolle der gesellschaftlichen Vorgänge; mit ihr endet auch der ideelle Ausdruck dieses Geheimnisvollen. Nie langsame Entwicklung des menschlichen Denkens von der Unwissenheit Zum stets besseren Verständnis findet nunmehr einen ersten Abschluss; dies bedeutet den Schluss, die Vollendung der Philosophie, was zugleich auch ihre Aufhebung und ihr Ende als Philosophie bedeutet. An ihre Stelle tritt die Wissenschaft vom menschlichen Geiste als Naturwissenschaft. Eine neue Produktionsordnung wirft ihren Lichtschein voraus in die Köpfe der Menschen. Dieselbe Wissenschaft, die uns die gesellschaftlichen Kräfte kennen und dadurch zügeln lehrt, befreit auch den Geist von der betörenden Wirkung dieser Kräfte; sie setzt ihn – schon jetzt – in den Stand, sich frei zu machen von überliefertem Aberglauben und Ideologien, die früher der Ausdruck des Unbekannten waren. Wir können uns mit unserem Geiste bereits in die kommende Zeit versetzen; so wachsen in uns schon, wenn auch unvollkommen, Ideen, die dann herrschen werden; so sind wir im stände, schon jetzt die bürgerliche Philosophie denkend zu überwinden und das Wesen unseres Geistes nüchtern und klar zu erkennen. Die Vollendung und das Ende der Philosophie braucht nicht auf die Herrschaft der sozialistischen Produktion zu warten. Die neue Erkenntnis fällt nicht wie ein Meteor vom Himmel; sie entwickelt sich, zuerst unvollkommen und unbemerkt, bei einigen Denkern, die am stärksten den Atem der nahenden Zeit fühlen. Mit dem Wachsen der Wissenschaft von der Gesellschaft und mit deren Praxis, der sozialistischen Arbeiterbewegung, zugleich und auf dieselbe Weise als sie verbreitet sie sich. Schritt für Schritt an Boden gewinnend, in unaufhaltsamem Kampfe mit den überlieferten Ideen früherer Zeiten, an die sich die herrschenden Klassen festklammern. Dieser Kampf ist der geistige Begleiter des gesellschaftlichen Klassenkampfes. Die Praxis der neuen naturwissenschaftlichen Forschung war bereits ein paar Jahrhunderte im Gange, ehe die Theorie aufkam, zu allererst in der Form der Verwunderung darüber, dass der Mensch mit so großer Sicherheit Erscheinungen vorauszusagen und ihren Zusammenhang festzustellen wagt. Unsere Erfahrung beschrankt sich auf die ein paarmal wiederholte Wahrnehmung der Regelmäßigkeit oder des Zusammentreffens von Ereignissen; den Naturgesetzen aber, in denen der ursächliche Zusammenhang der Erscheinungen ausgedrückt wird, schreiben wir einen allgemeingültigen und notwendigen Charakter zu, der weit über die Erfahrung hinausgeht. Der Engländer Hume stellte als Kausalitätsproblem die Frage nach einer Erklärung dieses Handelns; da er aber die einzige Quelle der Erkenntnis in der Erfahrung sah, konnte er keine befriedigende Antwort finden. Kant, der den ersten bedeutenden Schritt zur Lösung tat, war in der Schule des Rationalismus aufgewachsen, der damals in Deutschland herrschte und der eine den Anforderungen des Vermehrten Wissens angepasste Fortsetzung der mittelalterlichen Scholastik war. Von der These ausgehend, dass, was im Denken logisch ist, in der Welt wirklich fein muss, stellten die Rationalisten allein durch Deduktion allgemeine Wahrheiten über Gott, über die Unendlichkeit und der Unsterblichkeit auf. Durch Hume beeinflusst, wurde Kant zum Kritiker des Rationalismus und dadurch zum Reformator der Philosophie. Auf die Frage, wie es möglich ist, dass wir allgemein gültige Kenntnisse besitzen, deren wir unbedingt (apodiktisch) gewiss sind, wie z.B. mathematische Lehrsätze oder den Satz, dass jede Veränderung eine Ursache hat, war Kants Antwort: Erfahrung und Wissen werden sowohl durch dasjenige bedingt, was in der Organisation unseres Geistes liegt, als durch die Eindrücke von außen. Das erstere muss notwendigerweise in jedem Wissen und jeder Erfahrung enthalten sein; darum ist alles, was von diesem gemeinschaftlichen geistigen Teile des Wissens abhängt, vollkommen sicher und von den besonderen Sinneseindrücken unabhängig. Aller Erfahrung gemeinsam und notwendige, nicht loszudenkende Bestandteile davon sind die reinen Anschauungsformen, Raum und Zeit, während die vielerlei Erfahrungen, um miteinander Erkenntnis formen zu können, durch die reinen Verstandesbegriffe, die Kategorien, zu denen unter anderem auch die Ursächlichkeit gehört, verknüpft werden müssen. Kant erklärt nun die Notwendigkeit und allgemeine Gültigkeit der reinen Anschauungsformen und der reinen Verstandesbegriffe dadurch, dass sie der Organisation unseres Geistes entspringen. Den Sinnen bietet sich die Welt als eine Reihe von Erscheinungen in Raum und Zeit dar; vor unserem Verstand werden diese Erscheinungen zu Dingen, die durch Naturgesetze ursächlich zu einem Naturganzen verbunden sind. Für die Dinge, so wie sie an sich sind, haben weder Anschauungsformen noch Verstandesbegriffe Gültigkeit; von ihnen wissen wir nichts; wir können sie uns nicht vorstellen und nicht denken. Die Ergebnisse dieser Untersuchung, die für uns als erster wichtiger Beitrag zu einer wissenschaftlichen Erkenntnistheorie das Wertvollste an Kants Philosophie sind, waren für kant hauptsächlich als Hilfsmittel zur Beantwortung dieser anderen Fragen wichtig: welchen Wert hat Wissen, das über die Erfahrung hinausgeht? Können wir, nur durch Deduktionen mittels Begriffen, die über das Sinnliche hinausgehen, Wahrheiten ableiten? Die verneinende Antwort war eine vernichtende Kritik des Rationalismus. Wir können die Grenzen der Erfahrung nicht überschreiten; aus der Erfahrung allein ist Wissenschaft zu erlangen. Alle Kenntnis die man vom Unbegrenzten und Unendlichen, von den Ideen der reinen Vernunft, der Seele, der Welt und Gott zu haben meinte, ist nur Scheinkenntnis; die Widersprüche, in denen der Geist sich verwirrt, wenn er die Kategorien außerhalb der Erfahrung auf diesem Gebiet anwendet, offenbaren sich in dem fruchtlosen Streite zwischen den philosophischen Systemen. Metaphysik ist als Wissenschaft nicht möglich. Hierdurch wurde nicht nur der Rationalismus abgetan, sondern auch der bürgerliche Materialismus, der unter den französischen Aufklärern herrschte. Nicht allein alle positiven Behauptungen über das Übersinnliche und Unendliche wurden widerlegt, sondern auch die negativen; dadurch wurde dies Gebiet für den Glauben, für die unmittelbare Überzeugung frei gemacht. Von der Gewissheit objektiv beweisbarer Wahrheiten, die sich nur auf aus der Erfahrung hergeleitete Naturwahrheiten beschränken, sind Gott, Freiheit und Unsterblichkeit ausgeschlossen; doch steht ihre Gewissheit darum nicht minder fest, nur ist sie von anderer Art, subjektiv, eine notwendige persönliche Überzeugung. So ist die Willensfreiheit nicht ein Wissen, das der Erfahrung entnommen ist, denn die Erfahrung lehrt uns nie etwas anderes als Unfreiheit und Gebundenheit an Naturgesetze; dagegen ist sie eine notwendige Überzeugung eines jeden dessen, dem sie in dem kategorischen Imperativ: „du sollst“ fühlt, eines jeden dessen, der Pflichtgefühl besitzt und weiß, dass er darnach handeln kann; darum steht sie unbedingt fest, ohne eines empirischen Beweises zu bedürfen. Aus ihr entspringen mit derselben Art Gewissheit die Unsterblichkeit der Seele und das Bestehen eines Gottes; sie gibt allen den Ideen Gewissheit, welche die Kritik der reinen Vernunft ungewiss lassen musste. Zugleich bestimmt sie die Form, in welche die Erkenntnislehre gebracht wurde; in der ganzen Welt der Erscheinungen war für die Freiheit kein Raum, denn alles darin war streng ursächlich bestimmt, wie es die Organisation unseres Geistes erfordert. Darum musste anderswo Raum für sie geschaffen werden, und die Dinge an sich, bisher ein Wort ohne Wert und Bedeutung, erhielten nun einen höheren Sinn. Sie waren nicht an Raum, Zeit und Kategorien gebunden, sie waren frei; sie bildeten gewissermaßen eine zweite Welt, die Welt der Noumena, die hinter der Welt der Phänomena stand, und die den Widerspruch zwischen der kausalen Gebundenheit der Natur und der persönlichen Überzeugung der Willensfreiheit löste. Diese Auffassungen entsprechen vollkommen dem damaligen Stande der Wissenschaft und ökonomischen Entwicklung. Das Gebiet der Natur wurde ganz und gar der induktiven Methode, der Wissenschaft, eingeräumt, welche sich streng materialistisch nur auf Erfahrung und Wahrnehmung begründet, die alles in streng ursächlichen bringt und alle übernatürlichen Eingriffe ausschließt. Obwohl er aber aus der Naturwissenschaft endgültig verbannt war, konnte der Glaube doch noch nicht gemisst werden; die Unbekanntheit mit dem Ursprung des menschlichen Willens ließ Raum für eine übernatürliche Morallehre. Die Versuche der Materialisten, auch auf diesem Gebiet das übersinnliche auszuschließen, schlugen fehl; die Zeit für eine natürliche, materialistische Ethik war noch nicht gekommen, denn noch konnte ein irdischer Ursprung der sittlichen Normen und der Ideen im allgemeinen nicht durch die Wissenschaft als unbestreitbare, auf Erfahrung begründete Wahrheit nachgewiesen werden. Offenbart sich bereits hierin Kants Philosophie als unverfälschter Ausdruck des bürgerlichen Denkens, so kommt dieser Charakter noch stärker dadurch zum Vorschein, dass im Mittelpunkt des Systems, es beherrschend, die Freiheit steht. Der emporkommende Kapitalismus hatte zur Entfaltung der Produktionskräfte vor allem Freiheit für die Warenproduzenten nötig, Freiheit der Konkurrenz und der unbeschränkten Ausbeutung. Frei von allen Banden und Einschränkungen mussten sie nach eigener Einsicht, durch keinerlei Zwang gehindert, in den Wettstreit mit ihren freien gleichen Mitbürgern treten können. So wurde Freiheit der Kampsruf der damals um die Macht ringenden emporstrebenden jungen Bourgeoisie, und Kants Lehre von der praktischen Vernunft war der Widerhall der aufkommenden französischen Revolutionsbewegung. Aber die Freiheit war nicht unbeschränkt; sie war an das Sittengesetz gebunden; nicht um nach Glück zu streben, sollte sie gebraucht werden, sondern um dem Sittengesetz gemäß zu handeln, um seine Pflicht zu tun. Nicht das Interesse des Einzelnen durfte den Ausschlag geben, sollte die bürgerliche Gesellschaft möglich sein; höher als dieses galt das Heil der ganzen Klasse, und ihre Gebote gingen als sittliche Gebote über das Streben nach Glück. Darum aber konnten sie niemals im vollen Umfang befolgt werden, sondern jeder sah sich gezwungen, sie stets zu Gunsten seines eigenen Interesses zu verletzen; das Sittengesetz konnte als solches nur dadurch bestehen, dass es niemals erfüllt wurde. Deshalb stand es außerhalb der Erfahrung. In Kants Sittenlehre malt sich der innere Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft, der die Triebkraft für die stetig fortschreitende ökonomische Entwicklung bildet. Auf diesem Widerspruch beruht der Gegensatz zwischen Tugend und Glück, zwischen Freiheit und Gebundenheit, zwischen Glaube und Wissenschaft, zwischen Erscheinung und Ding an sich. Er ist die tiefste Ursache aller Widersprüche und des ganzen scharf ausgeprägten Dualismus von Kants Philosophie. Diese Gegensätze bildeten die Elemente für den Untergang des Systems, durch die es zu gründe gehen musste, sobald die Widersprüche die in der bürgerlichen Produktion verborgen lagen, ans Licht kamen, d.h. unmittelbar nach dem politischen Siege der Bourgeoisie. Überwunden konnte es erst werden, wenn der irdische Ursprung der Moral aufgedeckt wurde; dann erst konnten diese Gegensätze als relative, also scheinbare, durchschaut und aufgehoben werden; dann erst konnte eine materialistische Ethik, eine Wissenschaft der Moral, den Glauben aus seinem letzten Schlupfwinkel vertreiben. Dies wurde erst möglich durch die Entdeckung der gesellschaftlichen Klassen und des Wesens der kapitalistischen Produktion, das bahnbrechende Werk von Karl Marx. Die Praxis des entwickelten Kapitalismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts forderte die proletarische Kritik an Kants Lehre der praktischen Vernunft geradezu heraus. Die bürgerliche und sittliche Freiheit entpuppte sich als Freiheit des Ausbeutens für die Bourgeoisie, als Sklaverei für die Arbeiter; die Wahrung der Menschenwürde verwirklichte sich als Vertierung und Elend der Proletarier, und der Rechtsstaat war nichts als Klassenstaat der Bourgeoisie. Es zeigte sich, dass Kants erhabene Sittenlehre, anstatt die Grundlage des ewigen und allgemein-menschlichen Handelns zu sein, nur der Ausdruck der begrenzten Klasseninteressen der Bourgeoisie war. Diese Kritik war das erste Material für die allgemeine Theorie, die, einmal ausgestellt, an immer mehr und früheren geschichtlichen Ereignissen ihre Richtigkeit bewies und diese Ereignisse wiederum ins richtige Licht setzte. Die gesellschaftlichen Klassen, unterschieden nach ihrer Rolle im Produktionsprozess, hatten durch diesen verschiedene und entgegengesetzte Interessen, und jede musste das als gut und heilig betrachten, was in ihrem Interesse lag. Diese allgemeinen Klasseninteressen drängten sich, im Gegensatz zu den besonderen persönlichen, in der erhabenen Gestalt sittlicher Triebe in den Vordergrund, und da die Klasseninteressen allgemein empfunden wurden, erkannten alle Mitglieder der Klasse sie an; ja, eine herrschende Klasse konnte selbst zeitweilig, solange die Notwendigkeit der Produktionsweise, in der sie die Hauptrolle spielte, gefühlt wurde, einer s überwundenen oder unterdrückten Klasse die Respektierung und Anerkennung ihrer Klasseninteressen als allgemeines Interesse, also ihre Moral aufdrängen. Infolge der Unbekanntschaft mit dem Wesen und der Bedeutung des materiellen Produktionsprozess es konnte der Ursprung dieser Triebe nicht entdeckt werden; sie wurden nicht aus der Erfahrung abgeleitet, sondern unmittelbar, intuitiv, empfunden; so schrieb man ihnen dann einen übernatürlichen Ursprung und ewige Gültigkeit zu. Gleichwie bei den sittlichen Normen, so wurde jetzt auch bei anderen Äußerungen des menschlichen Geistes (Religion, Kunst, Wissenschaft, Philosophie) ihr enger Zusammenhang mit dem wirklichen materiellen Wesen der Gesellschaft begriffen. Der menschliche Geist wird in allen seinen Äußerungen durch die übrige Welt bedingt; er wird einfach ein Teil der Natur, die Geisteswissenschaft wird Naturwissenschaft. Die Eindrücke von der Nutzenwelt bestimmen die Erfahrung, die Bedürfnisse des Menschen sein Wollen, die allgemeinen Bedürfnisse das sittliche Wollen; so greift der Mensch im gesellschaftlichen Arbeitsprozess aktiv in die ihn umgebende Welt ein. Hiermit werden die Grundlagen der Philosophie umgekehrt. Na nun der menschliche Geist zum gewöhnlichen Naturding geworden ist, mit der übrigen Welt in Wechselwirkung steht und durch größtenteils bekannte Gesetze kausal mit ihr verbunden ist, wird er ganz in Kants Phänomena eingereiht. Zum Reden über Noumena ist kein Anlass mehr; sie bestehen nicht mehr. Die Philosophie reduziert sich auf die Theorie der Erfahrung, auf die Wissenschaft vom menschlichen Geiste. Hier musste der Beginn, den Kant gemacht hatte, weiter entwickelt werden. Kant hatte Geist und Natur stets scharf einander gegenübergestellt; die Erkenntnis, dass diese Trennung nur zeitweilig, behufs besseren Untersuchens gemacht werden darf, und dass zwischen geistig und materiell kein absoluter Unterschied besteht, machte es möglich, die Wissenschaft vom Denken weiter zu bringen. Dazu aber war nur ein Denker imstande, der die sozialdemokratische Lehre vollkommen in seinen Geist aufgenommen hatte; indem er diese Aufgabe in der Schrift „Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit“ löste, von der 1869 die erste Ausgabe erschien und nunmehr die zweite erscheint, hat Josef Dietzgen sich den Namen des Philosophen des Proletariats erworben. Das war aber nur unter Zuhilfenahme der dialektischen Denkweise möglich, welche durch Hegel entwickelt worden war; dadurch erscheint nun die Entwicklung der idealistischen philosophischen Systeme von Kant bis Hegel als notwendiger Bahnbrecher und Vorläufer für die proletarische Weltanschauung. An ihrem Dualismus musste die Philosophie von Kant bald zu Grunde gehen. Sie hatte gezeigt, dass nur beim Endlichen, nur bei der Erfahrung Sicherheit ist, und dass der Geist sich in Widersprüchen verwirrt, wenn er sich darüber hinauswagt. Als Vernunft will er die absolute Wahrheit, aber er kann sie nicht erlangen; er tappt im Dunkeln, und die Kritik kann ihm zwar erklären, warum es dunkel ist, aber nicht den Weg weisen. Die Dialektik ist hier Resignation. Wohl findet er auf andere Weise, aus seinem sittlichen Bewusstsein heraus, Sicherheit über das, was außerhalb der Erfahrung steht, aber dieses unmittelbare Wissen bleibt, als Glauben, scharf vom denkenden Erkennen getrennt. Diese scharfe Scheidung, diesen unvermittelten Gegensatz aufzuheben, war die Aufgabe der philosophischen Entwicklung, die, unmittelbar an Kant anknüpfend, zuletzt in Hegel ihren Abschluss fand. Ihr Resultat war die Erkenntnis, dass der Widerspruch die wahre Natur aller Dinge ist; dieser Widerspruch kann aber nicht so ohne weiteres ruhend bestehen bleiben, sondern er muss aufgehoben und vermittelt werden. Darum kann die Welt nicht als ein ruhendes Sein verstanden werden, sondern allein als ein Handeln, eine Tätigkeit, ein Verändern; das Handeln ist die jedesmalige Ausgleichung des Gegensatzes in einer höhern Form, und der Widerspruch erscheint als Hebel für eine fortschreitende Entwicklung. Dasjenige, was diese dialektische Selbstentwicklung vollzieht, ist in diesen idealistischen Systemen nicht die materielle Welt selbst, sondern das Geistige, die Idee. Bei Hegel kleidet sich diese Auffassung in die Form eines allumfassenden Systems, der Selbstentwicklung des Absoluten“ das der Geist (Gott) ist; zuerst unterschiedsloses Sein, entwickelt es an sich die logischen Begriffe; dann bringt es fein Gegenteil aus sich hervor, worin es in anderer, äußerlicher Form auftritt, die Natur, in welcher sich, immer auf dem Wege der sich setzenden und in einer höheren Form aufhebenden Gegensätze alle besonderen Formen entwickeln. Schließlich kommt es darin als Menschengeist zum Selbstbewusstsein, das sich auf dieselbe Weise zu immer höherer Stufe entwickelt, bis es dort, als Abschluss seiner Entwicklung, zur Kenntnis seiner selbst, zum unmittelbaren Wissen vom Absoluten gelangt. Unbewusst ist dies in der Religion der Fall. Die Religion, die sich, als Glaube, bei Kant mit einem bescheidenen Winkelchen begnügen muss, tritt hier selbstbewusst als höhere, über allem anderen Wissen stehende Erkenntnis auf, als unmittelbares Wissen von der absoluten Wahrheit (Gott). Bewusst geschieht das in der Philosophie; und der logischen Entwicklung des Menschengeistes entspricht die historische Entwicklung, die in der Hegeischen Philosophie selber ihren Abschluss und ihr Endziel findet. So werden in einem meisterhaften System – in welchem die revolutionäre Dialektik, die Entwicklungslehre, die alles Endliche Vergänglich macht, die konservative Gestalt erhält, dass mit dem Erreichen der absoluten Wahrheit aller weiteren Entwicklung ein Ziel gesetzt wird – alle Wissenschaften und alle Teile der Welt zu einem harmonischen Ganzen vereinigt. Alle Erkenntnis jener Zeit fand in diesem System irgendwo, auf einer der Stufen der dialektischen Entwicklung, ihren Platz; hierbei erscheinen viele damaligen Auffassungen der Naturwissenschaft, die sich später als unrichtig herausgestellt haben, als notwendige Wahrheiten, die nicht auf der Erfahrung, sondern auf Deduktion beruhen. Dieser Anschein, als ob sie die empirische Forschung als Quelle der besonderen Wahrheiten überflüssig machte, hat bewirkt, dass die Hegelsche Philosophie unter den Naturforschern wenig Ansehen gewonnen hat; sie ist auf diesem Gebiet viel minder fruchtbar gewesen als sie hätte sein können, wenn ihre wirkliche Bedeutung, nämlich dass sie zwischen weit auseinander liegenden Ergebnissen und Disziplinen eine harmonische Verbindung herstellt, unter dem falschen Scheine besser verstanden worden wäre. Größer war ihr Einfluss auf die abstrakten Wissenschaften, wodurch sie ihrem Urheber eine außergewöhnliche zentrale Stellung in der damaligen wissenschaftlichen Welt verschaffte. Einerseits war die Auffassung der Geschichte als fortschreitender Entwicklung, in welcher jeder unvollkommene frühere Zustand als notwendige Phase und Vorbereitung für spätere Zustände eine natürliche Vernünftigkeit erhielt, ein großer Gewinn für die Wissenschaft; andererseits kamen die Ausführungen über Rechts und Religionsphilosophie gerade den Bedürfnissen und Auffassungen jener Zeit entgegen. In der Rechtsphilosophie wird der Geist auf jener Stufe betrachtet, wo er als Menschengeist in die Realität tritt, mit bewusstem freiem Willen als Haupteigenschaft. Zu allererst ist er dort Einzelpersönlichkeit, die ihre Freiheit in ihrem Eigentum verkörpert findet; diese tritt in Gegensatz zu den anderen Persönlichkeiten ihresgleichen; ihre Willensfreiheit drückt sich dabei in den sittlichen Bestimmungen aus. In dem sämtliche Personen zu einem einheitlichen Ganzen werden, wird der Gegensatz aufgehoben in den gesellschaftlichen Einheiten: der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staate. Dort werden die sittlichen Bestimmungen von innerlicher zu äußerlicher Wirklichkeit gebracht; als Ausdruck eines höheren, gemeinschaftlichen, allgemeineren Willens treten sie in den allgemein anerkannten sittlichen Vorschriften, in den natürlichen Gesetzen der bürgerlichen Gesellschaft und in den autoritären Gesetzen des Staates auf. Jm Staate, dessen höchste Form die Monarchie ist, sieht sich der Geist als Staatsidee zur höchsten Stufe objektiver Wirklichkeit gebracht. Nicht allein in dieser Verherrlichung von Staat und Königtum, die nach der Restauration Hegels Philosophie zur preußischen Staatsphilosophie machte, liegt ihr reaktionärer Charakter. In ihrem ganzen Wesen war sie ein Produkt der Reaktion, welche damals noch den einzig möglichen Fortschritt nach der Revolution darstellte. Nie Reaktion war die erste praktisch-gesellschaftliche Kritik auf die bürgerliche Gesellschaft. Nachdem diese einmal fest begründet war und ihre Gebrechen sich herauszustellen begannen, erschien das verhältnismäßig Gute des Alten in schönerem Lichte. Die Bourgeoisie war vor den Konsequenzen ihrer Revolution zurückgeschreckt, als sie im Proletariat ihre Schranke erkannte; sie gebot der Revolution Halt, als diese ihr bürgerliches Ziel erreicht hatte, und wollte gern die feudalen Mächte Staat und Königtum, deren Schutz sie brauchte, als ihre Meister anerkennen, falls sie als Diener ihrer Interessen auftreten wollten. Die feudalen Mächte, die vorher von der Last ihrer Sünden und der unbedingten Vortrefflichkeit der neuen Gesellschaftsordnung zu Boden geworfen waren, richteten ihr Haupt empor, als auch diese zu wohlbegründeter Kritik Veranlassung gab. Sie konnten jedoch die Revolution nur dadurch in Schranken halten, dass sie sie beschränkt anerkannten; sie konnten die Bourgeoisie wieder beherrschen, indem sie sich, soweit nötig, der Bourgeoisie unterwarfen; sie konnten nicht mehr gegen den Kapitalismus herrschen, wohl aber für den Kapitalismus, dessen Mangelhaftigkeit durch ihre Herrschaft zum Ausdruck kam. Die Theorie der Restauration musste also in erster Linie in einer gründlichen Kritik der bürgerlich-revolutionären Philosophie bestehen; diese konnte aber nicht schlechthin als unrichtig verworfen werden. Ihre Wahrheit als Kritik des Alten musste anerkannt werden, aber der scharfe Gegensatz zwischen der Unwahrheit des Alten und der Wahrheit des Neuen stellte sich als unzutreffend heraus. Ihre eigene Richtigkeit war relativ, beschränkt, wie die eines Vorläufers einer höheren Wahrheit, die auch dem von ihr Überwundenen denselben Charakter der beschränkten zeitlichen Wahrheit zuerkannte. So wurden die Gegensätze zu Momenten in der Entwicklung der absoluten Wahrheit; so wurde Hauptinhalt und Methode der nachkantischen Philosophie die Dialektik; so waren es gerade die Theoretiker der Reaktion, die die Philosophie in neue Bahnen lenken und zu Vorläufern des Sozialismus werden konnten. Zweifel und Kritik an allem überlieferten, mit vorsichtiger Sicherstellung des gefährdeten Glaubens, war die Geistesrichtung der revolutionären Bourgeoisie gewesen; gläubiges Annehmen der absoluten Wahrheit, des stolz sich selbst erhebenden Glaubens, war die der reaktionären Bourgeoisie. Der Praxis Metternichs und der Heiligen Allianz entspricht theoretisch die Philosophie Hegels. An der Praxis des preußischen Polizeistaats, der die Mängel des Kapitalismus ohne seine Vorzüge, also die Reaktion in höherer Potenz Verkörperte, ging die Hegelsche Philosophie zu Grunde, sobald die Praxis des inzwischen mächtig erstarkten Kapitalismus sich gegen die Formen auszulehnen begann, in welche die Reaktion ihn einschnüren wollte. Feuerbach kehrte in seiner Kritik der Religion aus den Höhen der phantastischen Abstraktion zum leiblichen Menschen zurück; Marx wies nach, dass die Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft ihr Klassengegensatz ist, worin zugleich ihre Mangelhaftigkeit und Vergänglichkeit besteht, und er fand die wirkliche historische Entwicklung in der Entwicklung der materiellen Produktion. Der absolute Geist, der sich in der Staatsverfassung des Vormärzlichen Despotismus verkörpern sollte, enthüllte sich nunmehr als der beschränkte Bourgeoisgeist, für den die bürgerliche Gesellschaft das Endziel der historischen Entwicklung vorstellt. Der Hegelsche Satz: alles Endliche ist dies, sich selbst aufzuheben, bewährte sich an seiner Philosophie selber, sobald ihre Endlichkeit und Beschränktheit durchschaut worden war. Ihre konservative Form wurde verworfen, ihr revolutionärer Inhalt aber, die dialektische Denkweise, bewahrt; sie fand ihre Aufhebung im dialektischen Materialismus, welcher sagt, dass die absolute Wahrheit sich nur verwirklicht in dem unendlichen Fortschritt der Gesellschaft und der wissenschaftlichen Erkenntnis. Damit wird Hegels Philosophie nicht schlechtweg als unwahr verworfen; sie wird nur erkannt als das, was sie ist, als beschränkte, relative Wahrheit. Die Schicksale des absoluten Geistes in ferner Selbstentwicklung sind nur eine phantastische Beschreibung des Prozesses, den der wirkliche Menschengeist beim Kennenlernen der Welt und bei seiner aktiven Einwirkung auf dieselbe durchmacht. Statt des Entwicklungsmodus der absoluten Idee wird nun die Dialektik zur einzig richtigen Denkmethode, die der wirkliche Menschengeist zum Kennenlernen der wirklichen Welt und zum Verständnis der gesellschaftlichen Entwicklung anwenden muss. Die große und bleibende Bedeutung von Hegels Philosophie auch für unsere Zeit ist diese, dass sie, wenn man sie ihrer Überschwänglichkeit entkleidet, die vortrefflichste Beschreibung des menschlichen Geistes und seiner Arbeitsweise, des Denkens, ist, welche die ersten mühevollen Beiträge Kants Zur Erkenntnistheorie weit hinter sich lässt. In dieser Eigenschaft kann sie aber erst zu ihrem Rechte kommen, seit durch Dietzgen die Grundlage für eine dialektisch-materialistische Erkenntnislehre geschaffen ist. Die Unentbehrlichkeit des dialektischen Denkens, von welchem die Werke von Marx und Engels monumentale Beispiele find, wird für die Erkenntnistheorie durch Dietzgen nachgewiesen; allein durch diese Denkweise konnte es ihm gelingen, die Erkenntnislehre zum ersten Abschluss und zur vorläufigen Vollendung zu bringen. Wenn man die Auffassungen, die Dietzgen in diesem Werke niedergelegt hat, als seine Philosophie bezeichnet, so sagt man damit zu viel, weil sie nicht den Anspruch erheben, ein neues philosophisches System zu sein, gerade darum aber zu wenig, weil sie dann mit anderen Systemen die Sterblichkeit gemein haben würden. Das Verdienst Dietzgens besteht darin, dass er die Philosophie zur Naturwissenschaft gemacht hat, so wie Marx es mit der Geschichte tat. Damit wird dem menschlichen Denkinstrument das Phantastische genommen; es wird als ein Teil der Natur betrachtet, wovon mittels der Erfahrung über sein besonderes, konkretes, historisch wechselndes und sich entwickelndes Sein stets fortschreitende Erkenntnis gewonnen werden muss. Dietzgens Werk gibt sich selbst als endliche, zeitliche Verwirklichung dieses Zieles, wie ja jede neue naturwissenschaftliche Theorie eine endliche, zeitliche Verwirklichung ihres Zieles ist; als solche wird es durch weiter vordringende Untersuchungen verbessert und vervollkommnet werden müssen. Sein Werk ist grundsätzlich anders und mehr als frühere Philosophien, gerade weil es weniger sein will; es gibt sich als das Acquisit der Philosophie, zu dem alle großen Denker mit beigetragen haben, von einem Sozialisten nüchternen Auges betrachtet, erwogen, zusammengestellt und nacherzählt. Zugleich teilt es diesen Charakter unvollkommener Wahrheit den früheren Systemen mit, die nun nicht mehr als zwecklos wechselnde Spekulationen erscheinen, sondern als in natürlichem Zusammenhang ansteigende Stufen der Erkenntnis, in welchen stets mehr Wahrheit, stets minder Irrtum enthalten ist. Hegel hatte ebenfalls bereits dieser soviel höher stehenden Auffassung gehuldigt; bei ihm findet diese Entwicklung jedoch ein sich selbst widersprechendes Ende in seinem eigenen System. Auch bei Dietzgen erkennt diese letzte Form sich selbst als die höchste an; der entscheidende Schritt, den sie in der Entwicklung darstellt, ist der, dass sie zum erstenmal diese naturwissenschaftliche Auffassung durchführt. Die neue Erkenntnis, dass der menschliche Geist ein gewöhnliches natürliches Wesen ist, ist ein entscheidender Schritt in der fortschreitenden Kenntnis des menschlichen Geistes, der ihr den höchsten Platz in dieser Entwicklung anweist; und dieser Schritt kann nicht ungetan gemacht werden, weil er die Entnüchterung nach jahrhundertlangem Wahne bedeutet. Dadurch, dass dieses System sich nicht als absolute Wahrheit, sondern als endliche, unabgeschlossene Wahrheit gibt, kann es nicht fallen, wie frühere philosophische Systeme fielen. Es bildet die wissenschaftliche Fortsetzung der früheren Philosophie, so wie die Astronomie die Fortsetzung der Astrologie und der Pythagoreischen Phantasien, die Chemie die Fortsetzung der Alchemie ist. Es füllt denselben Platz aus wie jene und hat außer seinem Gehalt an Erkenntnistheorie auch das mit ihr gemein, dass es die Grundlage für eine methodische Weltanschauung gibt. Die moderne Weltanschauung steht als sozialistische oder proletarische im scharfen Gegensatz zu der bürgerlichen; ihr Wesen und Inhalt sind durch Marx und Engels gegeben, ihre erkenntnistheoretischen Grundlagen hat Dietzgen hier entwickelt, ihr wirklicher Charakter wird durch den Namen dialektisch-materialistisch angegeben. Ihr Inhalt ist der historische Materialismus, die Entwicklungslehre der Gesellschaft, so wie sie zum erstenmal in großen Umrissen im Kommunistischen Manifest gegeben wurde und später in einer ganzen Anzahl Werke ausführlich entwickelt und durch unzählige Tatsachen besser begründet worden ist. Sie gibt uns einerseits die wissenschaftliche Sicherheit, dass das Elend und die Unvollkommenheit der heutigen Gesellschaft, welche die bürgerliche Weltanschauung als unvermeidlich und natürlich ansieht, ein vorübergehender Zustand ist und dass der Mensch sich in absehbarer Zeit durch Regelung der gesellschaftlichen Produktion von der Sklaverei seiner stofflichen Bedürfnisse befreien wird. Andererseits bildet diese Wissenschaft von Gesellschaft und Mensch zusammen mit den reifsten Resultaten der Naturwissenschaft ein Ganzes, eine Wissenschaft von der ganzen Welt, die allen Aberglauben überflüssig macht, und somit die theoretische Befreiung, die Befreiung des Geistes in sich schließt. Dass diese Wissenschaft dazu ausreicht, dass außer ihr nur Wahn ist, dass sie eine befriedigende und harmonische Weltanschauung bildet, darüber erhält man erst Sicherheit durch die erkenntnistheoretischen Grundlagen, die Dietzgen gibt. In dieser Hinsicht verleiht sie unserer Weltanschauung ein festes Fundament. Ihr Charakter ist in erster Linie materialistisch; im Gegensatz zu den idealistischen Systemen aus der Blütezeit der deutschen Philosophie, die das Geistige als Grundlage alles Seins betrachteten, geht sie vom konkreten materiellen Sein aus. Nicht, als ob sie die physische Materie als Grundlage betrachtete; sie steht dem vulgären bürgerlichen Materialismus direkt entgegen; unter Materie versteht sie alles was wirklich ist und also Material für das Denken abgibt, Gedanken und Hirngespinste mit einbegriffen. Ihre Grundlage ist die Einheit alles dieses konkreten Seins; hiermit weist sie dem menschlichen Geiste einen gleichwertigen Platz unter den andern Teilen des Seins an; sie zeigt, wie der Geist mit allem andern ebenso eng verbunden ist, wie dieses andere untereinander, nämlich dadurch, dass er nur als Teil eines und desselben Weltganzen besteht, so dass all sein Inhalt Wirkung des andern ist. So bildet sie die theoretische Basis für den historischen Materialismus; konnte der Satz „das Bewusstsein des Menschen wird bestimmt durch sein gesellschaftliches Sein“ vorher nur als Generalisation vieler historischen Tatsachen gelten, anfechtbar und unvollkommen wie jede wissenschaftliche Theorie und durch spätere Erfahrungen noch zu verbessern: so wird nunmehr die völlige Abhängigkeit des Geistes von der übrigen Welt zu einer Denknotwendigkeit, ebenso wie die Kausalität, unanfechtbar und unabänderlich. Das bedeutet zugleich die Vernichtung alles Wunderglaubens; nachdem sie aus der Natur bereits länger verbannt waren, werden die Wunder nun auch aus dem Reiche des Geistes verjagt. Die aufklärende Wirkung dieser proletarischen Philosophie besteht auch darin, dass sie allen Aberglauben widerlegt, die Widersinnigkeit jedes Götzendienstes demonstriert. Was die bürgerlichen Aufklärer nicht geben konnten, weil sie nur über Naturkenntnis im engeren Sinne verfügten und das Wesen des menschlichen Geistes für sie etwas Geheimnisvolles blieb: die bis auf den Grund gehende Kritik und Widerlegung des christlichen Aberglaubens, der ja gerade der Glaube an einen übernatürlichen Geist ist, das war erst der sozialistischen Erkenntnis möglich. In seinen dialektischen Erörterungen über Geist und Stoff, über Endlichkeit und Unendlichkeit, über Gott und Welt hat Dietzgen das verwirrt Mysteriöse, das bisher diese Begriffe verdunkelte, gründlich aufgeklärt, und allen übersinnlichen Glauben endgültig widerlegt. Nicht minder aber trifft diese Kritik die bürgerlichen Götzen: Freiheit, Recht, Geist, Kraft, die nichts als phantastische Bilder abstrakter Begriffe von begrenztem Umfang sind. Das war allein dadurch möglich, dass sie gleichzeitig als Erkenntnislehre die Beziehung feststellt, in der die Welt um uns zu dem Bilde steht, das unser Geist sich von ihr formt; in dieser Hinsicht ist Dietzgen der Vollender des Werkes geworden, das von Hume und Kant begonnen war. Als Erkenntnislehre sind die von ihm entwickelten Ansichten nicht allein die philosophische Basis des historischen Materialismus, sondern in gleichem Maße die aller anderen Wissenschaft. Aus der ausführlichen Kritik, die er an naturwissenschaftlichen Schriften namhafter Gelehrten ausübte, geht hervor, dass Dietzgen diese Bedeutung seines Werkes gut gefühlt hat; wie aber wohl zu erwarten war, drang die Stimme eines sozialistischen Handwerkers nicht bis in die akademischen Hörsäle durch. Erst viel später begannen unter Naturforschern gleichartige Ansichten aufzutauchen; und erst jetzt hat sich unter den vornehmsten Theoretikern der Naturkunde die Auffassung Bahn gebrochen, dass Erklären nichts anderes bedeutet, als auf möglichst einfache und vollständige Weise die Vorgänge in der Natur zu beschreiben. In der Erkenntnistheorie zeigt sich deutlich die Unentbehrlichkeit des Hilfsmittels der dialektischen Denkweise, um über das Wesen der Erkenntnis zur Klarheit zu kommen. Der Geist ist Einheitsvermögen; er bildet aus der konkreten Wirklichkeit, die voller Bewegung, ein fließender Strom ohne Grenzen, stets wechselnd ist, abstrakte Begriffe, die ihrer Natur nach starr, ruhend, begrenzt, unveränderlich sind. Damit wird der Widerspruch gegeben, dass die Begriffe sich stets aufs neue der Wirklichkeit anpassen müssen, ohne das jemals ganz zu können, dass sie das Lebende durch das, was tot, das Unbegrenzte durch das, was begrenzt ist, abbilden müssen, und dass sie an sich selbst endlich sind und doch auch die Natur des Unendlichen in sich tragen. Dieser Widerspruch wird verstanden und vermittelt durch die Einsicht in die Natur des Erkenntnisvermögens, das sowohl Einheits- als auch Unterscheidungsvermögen ist, einen begrenzten Teil des Alls bildet und zugleich alles umfasst, und durch die daraus entspringende Einsicht in die Weltnatur. Die Welt ist Einheit des unendlich Vielen, wodurch sie alle Gegensätze in sich zusammenfasst, sie zu relativen macht und ausgleicht; in ihr gibt es keine absoluten Gegensätze; der Geist aber legt sie hinein, da er zugleich Unterscheidungsvermögen ist. Die praktische Aufhebung der Widersprüche ist die umwälzende Praxis der unbegrenzt fortschreitenden wissenschaftlichen Forschung, die stets aufs neue die Begriffe umformt, wegwirft, ersetzt und verbessert, verbindet und zerlegt, indem sie zu gleicher Seit nach immer größerer Einheit und nach immer größerer Differenzierung strebt. Durch diese Erkenntnislehre gibt der dialektische Materialismus zugleich auch die Lösung der sogenannten Welträtsel. Nicht, als ob er alle Rätsel löste – er sagt ja gerade, dass die Lösung nur das Werk einer unbegrenzt fortschreitenden Wissenschaft sein kann. Aber er löst sie in dem Sinne, dass er ihnen den Charakter des mysteriösen Rätsels nimmt und sie in eine praktische Aufgabe umändert, deren Lösung wir uns in unendlicher Progression nähern. Das bürgerliche Denken kann die Welträtsel nicht lösen; bereits wenige Jahre nach dem ersten Erscheinen dieser Schrift erkannte die Naturwissenschaft in Du Bois-Reymonds ignorabimus ihre Unfähigkeit an. Indem sie das Rätsel der Natur des menschlichen Geistes löste, gewährt die proletarische Philosophie die Sicherheit, dass hier überhaupt keine unlösbaren Rätsel vor uns liegen. Zum Schlusse gibt Dietzgen in dieser Schrift noch die Grundsätze unserer neuen Ethik. Aus der Einsicht, dass der Ursprung der Vorstellungen von Gut und Böse in den Bedürfnissen der Menschen gefunden und als das wirklich Sittliche das allgemein Zweckmäßige bezeichnet wird, folgt von selbst die Erkenntnis des Wesens der zivilisierten Morallehren als Ausdruck der Klasseninteressen. Zugleich wird für diese zeitweiligen Morallehren damit ihre Berechtigung und Vernünftigkeit ausgesprochen, da sie notwendigerweise aus den jedesmaligen gesellschaftlichen Bedürfnissen hervorgehen müssen. Das Band zwischen Mensch und Natur wird durch den zur Befriedigung der Bedürfnisse nötigen gesellschaftlichen Arbeitsprozess geknüpft. Solange diese Bande Fesseln waren, fesselten sie den Menschen durch eine unverstandene übernatürliche Sittenlehre; wird der Arbeitsprozess einmal erkannt, bewusst geregelt und beherrscht, dann fallen diese Fesseln, und an Stelle der Moral tritt das vernünftige Erkennen der allgemeinen Bedürfnisse. Die philosophischen Schriften Dietzgens scheinen bis jetzt keinen merkbaren Einfluss auf die sozialistische Bewegung ausgeübt zu haben; mögen sie auch manche stille Verehrer gefunden und viel zur Klärung ihrer Einsicht beigetragen haben: ihre Bedeutung für die Theorie unserer Bewegung wurde nicht erfasst. Das kann jedoch nicht wunder nehmen. Im ersten Jahrzehnt nach ihrem Erscheinen fanden sogar die ökonomischen Schriften von Marx, deren Wichtigkeit doch soviel unmittelbarer ins Auge fiel, wenig Verständnis. Die Bewegung entwickelte sich spontan, und nur vermittels der klaren Einsicht einzelner Führer konnte die Marxistische Theorie damals einen nützlichen leitenden Einfluss auf die Arbeiterbewegung ausüben; so ist es kein Wunder, dass die Philosophie des Proletariats, die an unmittelbarer Anwendbarkeit hinter seiner ökonomie zurücksteht, nicht allgemeinere Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Erst nach dem Sturze des Sozialistengesetzes war die ökonomische und politische Einsicht in der deutschen Arbeiterklasse, die in der internationalen Bewegung theoretisch an der Spitze stand, soweit entwickelt, dass als Grundsätze der Partei Thesen aus den Marxistischen Theorien angenommen wurden. Doch auch jetzt noch waren sie für die meisten Wortführer weit eher zusammengefasste Formulierungen notwendiger praktischer Überzeugungen als der Ausfluss einer gründlich gekannten und begriffenen Wissenschaft. Ohne Zweifel war die große Ausbreitung der Partei und ihrer Wirksamkeit, die alle Kräfte für die Organisation und Leitung in Anspruch nahm, die Ursache, dass die jüngeren intellektuellen Kräfte sich sämtlich auf die praktische Arbeit warfen und das theoretische Studium vernachlässigten. Diese Vernachlässigung hat sich in den theoretischen Zwisten der letzten Jahre gerächt. Die Abgelebtheit des Kapitalismus zeigt sich nunmehr so deutlich durch den Verfall der bürgerlichen Parteien, dass schon allein die Praxis der sozialistischen Bewegung jeden zu ihr zieht, der einen unabhängigen Geist und ein richtiges Gefühl besitzt. Solch ein Übergang wird dann nicht mit einer durch mühsames Studium erreichten Aneignung des ganzen Inhaltes der proletarischen Weltanschauung gepaart; an ihre Stelle tritt die Kritik der sozialistischen Wissenschaft vom bürgerlichen Standpunkt. Der Marxismus wird mit dem Maße der unreifen bürgerlichen Erkenntnistheorie gemessen, und die Neukantianer versuchen, in völliger Unkenntnis des Acquisits der Philosophie während eines ganzen Jahrhunderts, den Sozialismus an die Ethik Kants anzuknüpfen. Man spricht sogar von Versöhnung mit dem Christentum und Abschwörung des Materialismus. Diese bürgerliche Denkweise, die sich als anti-dialektisch und anti-materialistisch den Marxismus gegenüberstellt, finden wir jetzt im Revisionismus verkörpert; als Kombination bürgerlicher Weltanschauung und antikapitalistischer Gesinnung tritt er an die Stelle des früheren Anarchismus, und ebenso wie dieser verkörpert er im Kampfe wider den Kapitalismus vielfach die kleinbürgerlichen Tendenzen. Demgegenüber wird eine regere Beschäftigung mit der Theorie, insbesondere mit Dietzgens philosophischen Werken, zur Notwendigkeit. Marx hat das Wesen des materiellen Produktionsprozesses enthüllt, und seine entscheidende Bedeutung als Triebfeder der gesellschaftlichen Entwicklung festgestellt. Er hat aber nicht ausführlich erklärt, wie aus dem Wesen des menschlichen Geistes die Rolle entspringt, die er in diesem materiellen Prozess spielt. Bei der starken Macht der Tradition des bürgerlichen Denkens zählt diese Beschränkung zu dm Hauptursachen, warum seine Theorien so unvollkommen und so verkehrt begriffen werden. Diese Lücke füllt nun Dietzgen aus, der gerade das Wesen des Geistes zum Gegenstand seiner Untersuchung machte. Darum ist das gründliche Studium von Dietzgens philosophischen Schriften ein wichtiges und notwendiges Hilfsmittel, um die grundlegenden Werke von Marx und Engels zu verstehen. Dietzgens Arbeit zeigt uns, dass das Proletariat nicht allein in seiner ökonomie, sondern auch in seiner Philosophie eine mächtige Waffe besitzt. Lernen wir, sie zu führen. Leiden, Dezember 1902. Anton Pannekoek. © Obgleich die Kommunistische Linke im Allgemeinen keine Urheberrechte bzw. „intellektuelle Eigentumsrechte“ für sich eingefordert hat, können einige Veröffentlichungen auf dieser Webseite urheberrechtlich geschützt sein. In diesem Fall steht ihr Gebrauch nur zum Zweck persönlichen Nachschlags frei. Ungeschütztes Material kann für nicht-kommerzielle Zwecke frei und unentgeltlich verbreitet werden. Wir sind Ihnen erkenntlich für Ihren Quellenhinweis und Benachrichtigung. Bei beabsichtigter kommerzieller Nutzung bitten wir um Kontaktaufnahme. Compiled by Vico, 8 April 2018 |
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