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Antonie Pannekoek Archives

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1978

Jan Appel in the summer of 1978 in his appartment in Maastricht; photo made by C.d.N. (Source: a.a.a.p.)


Das russische Wiederaufbauprogramm / Max Hempel [Jan Appel], 1926


Das russische Wiederaufbauprogramm / Max Hempel [Jan Appel]. – In: Proletarier, (1926), Heft 8-9 und 10 (August-Oktober), S. 151ff und 175ff, transkribiert von F.C., 28.&nbdp;Mai 2021; Quelle: “Left Wing” Communism – an infantile disorder? , hier korrigiert.


I.

Im Mittelpunkt aller Debatten in der k.p.r. stellen die Fragen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus. Wer über diese Dinge Klarheit gewinnen will, muß sich mit der jeweiligen Stellungnahme der Bolschewiki zu den Wirtschaftsproblemen befassen, denn diese Partei ist in Rußland ja identisch mit der Regierungsgewalt. Die Basis der russischen Wiederaufbaupolitik ist dadurch gekennzeichnet, daß sich der größte Teil der Industrie und das Verkehrswesen in staatlicher Regie befinden. Hier kommen alle Regierungsmaßnahmen direkt zur Auswirkung. Auf der anderen Seite aber besteht Privatbesitz der Bauern, des Handwerks und des restlichen Teils der Industrie. Außerdem ist Rußland infolge seiner wirtschaftlichen Zurückgebliebenheit in hohem Maße von der kapitalistischen Umwelt abhängig. Wenn sich aus diesen tatsächlichen Bedingungen der Produktion die russische Wirtschaftspolitik ergibt, so muß die Einbettung der staatlichen Produktion in die bäuerische oder sonstige Privatwirtschaft untersucht werden, um das wirtschaftliche Programm der Bolschewiki, die forcierte n.e.p.-Politik in das richtige Licht zu versetzen.

Vom Kriegskommunismus zum freien Markt

Bei der Liquidierung des Kerenski-Regimes bemächtigten sich die Millionenmassen der Bauern des Bodens als der Grundlage ihrer Ernährung. Andererseits kamen die Werkstätten und Betriebe in die Hände Industrieproletariats, das sich in Sowjets und Fabrikkomitees zusammenschloß. Der Markt, das vermittelnde Band innerhalb der Industrie sowohl wie zwischen Stadt und Land, wie letzten Endes auch zwischen Produktion und Konsumtion war mit dem Sturz der Kapitalisten zerrissen. Um den gestürzten besitzenden Klassen jede Möglichkeit einer neuen Kräftesammlung zu nehmen, mußte sogar der unkontrollierte Güteraustausch, wie er sich auf dem freien Markt vollzieht, mit Gewalt verhindert werden.

An die Stelle des Marktes trat die zentrale Erfassung der Industrie durch den Staat, und wo bisher die Konkurrenz den Austausch der Produkte bewirkte, sollte jetzt bürokratische Verwaltung diese Aufgabe übernehmen. Der leitende Gesichtspunkt dieser Verwaltungsarbeit stand unter der Notwendigkeit, daß man jahrelang Bürgerkrieg gegen die Konterrevolution führen müßte, und wenn die benötigten Kriegsmittel nur von jener Industrie hergestellt werden konnten, so hatten die Industriearbeiter keine andere Wahl, als sich dem zwingenden Gebot einer solchen „Sozialisierung“ zu unterwerfen, noch dazu, wo beim Fehlen von Kapital und freiem Markt der Produktenaustausch und damit auch der Ersatz der verbrauchten Produktionsmittel für den einzelnen Betrieb unmöglich wird. Ohne hier näher auf die inneren Mängel und begrenzten Wirkungsmöglichkeiten einer derartigen bürokratischen Verwaltungsmaschinerie – die sich so drastisch in Rußland selbst gezeigt haben – einzugehen, soll zunächst nur die Frage der Lebensmittelbeschaffung für die arbeitenden Massen an der Werkbank und im Waffenrock untersucht werden. In der ersten Zeit requirierte man alles, was beim Bauern zu erfassen war und rationierte die Zuteilung der Lebensmittel in der Stadt. Diese Kriegsmaßnahme konnte das Problem selbst nicht lösen und wurde in demselben Maße unmöglich, als die Bauern zum passiven Widerstand übergingen, indem sie nicht mehr anbauten, als sie selbst verzehren und verstecken konnten. Man war gezwungen, den Bauern das Besitzrecht am Boden und seinen Produkten zuzusprechen und ihnen die Verwertung ihres Überschusses zu ermöglichen, d. h. den freien Markt wieder herzustellen. Mit den Kleinbetrieben und demjenigen Teil der Industrie, der durch staatliche Verwaltung nicht mehr erfaßt werden konnte, mußte dasselbe geschehen.

Rationalisierung als „sozialistischer Aufbau“

Damit war der Reigen der Profitwirtschaft in all seinen Konsequenzen wieder eröffnet und auch der staatlich geleitete Teil der Wirtschaft vermochte sich auf die Dauer dem kapitalistischen Konkurrenzkampf nicht zu entziehen. Die verbrauchte Arbeitskraft wird wieder zum Maß der Werte, aber sie erscheint in der mystifizierten Form des wertbeständigen Geldes, des Tscherwonez. Die Arbeitskraft selbst wird wieder zur Ware und unterliegt jenem Gesetz, das ihren Wert nach der Arbeitszeit bemißt, die zur Herstellung der voll ihr verbrauchten Lebensmittel notwendig ist. Erhöhte Produktivität und verlängerte Arbeitszeit bedeuten jetzt wieder größeren Profit. Beides suchte der russische Unternehmer auch sofort durchzusetzen und der Staat mußte dieses Streben der Kapitalisten unterstützen. Die staatliche Wirtschaft ist beim Bezug von Produktionsmitteln und beim Absatz ihrer Produkte auf den Markt angewiesen, sie muss konkurrieren und kann sich deshalb von den Maßnahmen der Unternehmer nicht ausschließen, um dem zufällig im staatliehen Betriebe tätigen Arbeiter gegenüber der Masse des Proletariats irgendwelche Privilegien zu gewähren. Lenin hat diesen Zustand – wenn auch verschleiert – selbst ausgesprochen: „Es sind jetzt zugelassen und entwickeln sich der freie Handel und der Kapitalismus, der der staatlichen Regelung unterliegt und andererseits werden die sozialistischen Staatsbetriebe auf wirtschaftliche Kalkulation überführt, was bei der allgemeinen kulturellen Rückständigkeit und Erschöpfung des Landes unvermeidlich mehr oder weniger dazu führen wird, daß im Bewußtsein der Massen die Administration der betreffenden Betriebe in Gegensatz zu den von ihnen beschäftigten Arbeitern gerät.“ Wenn Lenin die Staatsbetriebe sozialistisch nennt, so entbehrt das jeder Begründung, wenn anders er nicht den Staat selbst als Sozialismus bezeichnen will. Die „wirtschaftliche Kalkulation“ in Staatsbetrieben aber bedeutet ganz einfach, sich auf den Konkurrenzkampf mit der Privatindustrie einzurichten und wie sollten die Arbeiter nicht merken, daß sie ausgebeutet werden.

Die seit dem 14.  Parteitag von den Bolschewiki mit Hochdruck betriebene Propaganda für das neue Wirtschaftsprogramm soll die Aufmerksamkeit der Arbeiter von dieser Tatsache ablenken, soll den Arbeitswillen der Massen für diesen Staatskapitalismus fördern und steigern. So ist es denn auch nicht zu verwundern, daß man unter Brechung jeglicher Opposition, jedem Parteigenossen die Pflicht auferlegte, die Staatsbetriebe als „konsequent sozialistischen Typus" anzusprechen. Den Arbeitern muß eingebläut werden, daß sie trotz aller Ausbeutung, die sie am eigenen Leibe erfahren, letzten Endes doch für den Sozialismus, oder gar Kommunismus arbeiten. In Wirklichkeit enthält das Programm – außer der Verschleierung des tatsächlichen Zustandes der Ausbeutung – nichts anderes als staatliche Maßnahmen zur Rationalisierung der Wirtschaft. In diesem Zeichen vollzieht sich der russische Wiederaufbau.

Das wohlhabende Dorf – die „sozialistische Akkumulation“

Das Programm spricht als erstes den „Kurs auf die Industrialisierung“ aus. In allen Reden der führenden Bolschewiki kehrt als Begründung dafür die Redewendung wieder, daß der Bedarf des Landes an Industriewaren in Rußland selbst nicht gedeckt werden kann. Rykow spricht darüber: „Die Hauptursache des Warenhungers ist das forcierte Wachstum der zahlungsfähigen Nachfrage. Im Budget des Bauern ging eine starke Veränderung gegenüber der Vorkriegszeit vor sich. Schon die Nationalisierung des Grund und Bodens, die Befreiung der Bauernwirtschaft von den Lasten des Bodenankaufs und der Pachtzahlung an den Gutsbesitzer allein vergrößern Hand in Hand mit dem Aufschwung der Landwirtschaft die Kauffähigkeit des Bauern. Dank der bedeutenden Herabsetzung der landwirtschaftlichen Einheitssteuer und dem Wachstum der Getreidepreise, dank einer freigebigen Kreditgewährung an unsere Getreideaufbringungsorgane ist die Kaufkraft des Dorfes in diesem Jahre stark gewachsen.“ (*) Sieht man nun davon ab, – was auch Rykow anführt, – dass Erweiterung und Neuanlage von Industrie wohl Fertigwaren verbraucht, aber vorerst noch keine Waren auf den Markt bringt, damit also den Warenhunger noch verschärft, so verbleibt als Käufer einer größeren Warenmenge der Privatbesitz. Das wesentliche hierbei aber ist für uns Kommunisten, daß die Berechtigung zum Bezuge der größeren Warenmenge durch Ausbeutung der Arbeitskraft erworben ist. Die Ausbeutung erstreckt sich nun durchaus nicht [nur] auf die Arbeiter in den Privatbetrieben. Durch die erhöhten Getreidepreise werden auch die staatlichen Arbeiter geschröpft. Rykow erwähnt auch, daß die Entlohnung der Arbeiter gestiegen sei; ob aber der Reallohn auch gestiegen oder gar gefallen ist, davon spricht er nicht.

Weil also die Kaufkraft des Privatbesitzes sich verstärkt hat, soll die Industrie – um der Nachfrage zu genügen – erweitert werden. Damit tritt der zweite Programmpunkt, den man bedachtsam „sozialistische Akkumulation“ nannte, in den Vordergrund. Der russische Staat kann die Mittel hierzu – wenn man von der Besteuerung des Landes absieht – nur durch die Ausbeutung der Arbeiter in den staatlichen Betrieben gewinnen. Nicht zuletzt sieht deshalb das Programm eine Kampagne zur Hebung der Produktivität der Arbeit vor. Stalin kleidet das in folgende Worte: „Wir müssen schließlich eine Kampagne gegen die Zeitversäumnisse in den Werken und Betrieben führen, für die Hebung der Produktivität der Arbeit, für die Festigung der Arbeitsdisziplin in unseren Unternehmungen. Man muß den Arbeitern erklären, dass dadurch, dass sie die Arbeitszeitversäumnisse zulassen und die Arbeitsleistung nicht weiter bringen, sie der allgemeinen Sache schaden.“ – Der Glaube also, für den Sozialismus zu arbeiten, soll die Arbeiter zur verstärkten Arbeitsleistung veranlassen. Untersuchen wir nun, an Hand der Ausführungen der leitenden Personen, was mit dem Mehrprodukt, das die Arbeiter erzeugen, geschieht.

Tantiemen-Kommunismus

Stalin erklärt also: „Es ist notwendig, unseren Staats- und Genossenschaftsapparat, unsere Volkskommissariats und Wirtschaftsverrechnungseinrichtungen einzuschränken, zu verbilligen und zu gesunden. Nicht umsonst hat Lenin dutzende- und hunderte Male erklärt, daß die Arbeiter und Bauern die Überlastung und Kostspieligkeit unseres Staatsapparates nicht aushalten, daß man ihn um jeden Preis einschränken und verbilligen muß.“ Er führt als Beispiel an, daß bei der staatlichen Getreideaufbringung statt der errechneten 5 Kopeken pro Pud deren 13 verbraucht würden und erklärt dieses dadurch, daß „jeder mehr oder weniger selbständige Mitarbeiter sich, bevor er an die Arbeit ging, mit einem Heer von Stenographinnen und Maschinenschreiberinnen versah und unbedingt ein Automobil haben musste.“ „Da sieht man“ – so fügt er hinzu – „wohin die von uns angehäuften Mittel gehen und noch gehen werden, wenn wir nicht die strengsten Maßnahmen gegen die Gefräßigkeit unseres Staatsapparates unternehmen. Ich habe hier nur ein einziges Beispiel angeführt, aber wem ist es unbekannt, dass es bei uns Hunderte und Tausende solcher Beispiele gibt.“

Recht drastisch spricht er von dem willkürlichen Walten der Kommunisten als Staatsbeamte, die z.B. einer Reihe von Angestellten Zuwendungen machen, die Tantiemen genannt werden. Wörtlich: „Manchem Kommunisten macht es auch keine große Mühe in der Art von Schweinen in den Garten des Staates einzudringen und dort herumzuwühlen oder seine Freigebigkeit auf Kosten des Staates zu zeigen“ (**). Auch der Diebstahl von Staatseigentum ist weit verbreitet und Stalin hebt selbst hervor, daß die Umgebung des Diebes eher geneigt ist, ihn zu ermuntern, als ihn abzuhalten.

Wenn die Bolschewiki erklären, daß sie dieser „Schweinewirtschaft“ mit allen Mitteln zu Leibe gehen wollen, so werden sie es doch nur in beschränktem Maße schaffen, weil sie ihren Nährboden nicht angreifen können. Der Staat und seine Wirtschaft sind eben, solange sie auf Ausbeutung beruhen, den unterdrückten Mitgliedern der Gesellschaft ein Fremdkörper. Jeder einzelne sucht dann seinen persönlichen Vorteil wahrzunehmen und man wird sich damit abfinden müssen, daß in den Maschen des notwendig kolossalen bürokratischen Apparates ein groß Teil des von den Arbeitern erzeugten Mehrproduktes hängen bleibt.

Trotz alledem wird doch ein Teil des Überschusses verbleiben, der zur Akkumulation, zur Erweiterung der Industrie benutzt werden kann. Was aber diese Neuerrichtung von Fabriken und Werkstätten, in denen erneut die Lohnarbeit ausgebeutet wird, mit dem Sozialismus gemein haben kann, bleibt das Geheimnis der Bolschewiki, auf das wir in der nächsten Nummer weiter eingehen wollen.


II.

Der Hinweis auf die tatsächlichen Zustände in Rußland wird von den Parteigängern der Moskauer Internationale – wenn ihr Versammlungslatein zu Ende ist – damit abgetan, daß die Wiederkehr des Kapitalismus im Sowjetland eben durch die Macht der Verhältnisse bedingt sei. Gesellschaftliche Verhältnisse sind keine überirdischen Gewalten, sondern menschliche Beziehungen. Und wenn in der russischen Oktoberrevolution die bäuerliche und proletarische Klasse zugleich um ihre Befreiung kämpften, so darf die k.a.p.d. für sich in Anspruch nehmen, daß sie die Schwierigkeiten der russischen Situation schon erfaßt hatte und zu aktiver, internationaler Solidarität rief, als die Kostgänger Sinowjews den arbeitenden Massen überall noch den Himmel der proletarischen Revolution – aus was für Gründen immer – voller Baßgeigen zeigten. Der Marxismus sieht im Klassenkampf die Lokomotive der Geschichte. Man darf also den Bolschewiki die ganze Verantwortung für ihre Politik nicht einfach unter Hinweis auf die „Verhältnisse“ abnehmen.

Leninismus ist Staatskapitalismus

Vom Standpunkt des Klassenkampfes wäre es unsinnig, die Bolschewiki aufzufordern, dass sie die Regierungsgewalt aus der Hand geben sollen, weil man ja doch zum Kapitalismus marschieren muß. Es war eben nur eine pathetische Geste, als Trotzki vor Jahren erklärte, dass die Bolschewiki, falls sie von der geschichtlichen Bühne abtreten müßten, die Tür hinter sich ins Schloß werfen würden, daß der Erdball erzittere. Man muß mit Blindheit geschlagen sein, um nicht zu erkennen, daß in den ökonomischen Lehren des Bolschewismus in seiner Auffassung von der Organisation der Volkswirtschaft und der daraus entspringenden Wirtschaftspolitik eine gerade Linie liegt, die im Resultat schließlich zu jenem neuartigen System der Ausbeutung führt, das wir Staatskapitalismus nennen.

Lenin hat schon im Jahre 1917 in seiner Schrift „Staat und Revolution“ die Grundlinien dieser neuen Wirtschaftsorganisation umrissen und die Politik der Bolschewiki ist bis auf den heutigen Tag eine einzigartige Fortsetzung des einmal eingeschlagenen Weges, die natürlich im Fluß des Lebens ihr jeweils spezifisch praktisches Gesicht bekommt. Lenin fordert als Aufgabe der Diktatur des Proletariats die Organisation der ganzen Wirtschaft „nach dem Muster eines staatlich kapitalistischen Trust“. Auf die Durchführung dieses Prinzips zielen deutlich erkennbar alle Maßnahmen der russischen Regierung ab. In der staatlich verwalteten Industrie ist es schon durchgeführt. Zentrale Handelsgesellschaften auf dem Gebiete der Zirkulation und Produktivgenossenschaften in Stadt und Land sollen den übrigen Teil der Wirtschaft unter staatliche Kontrolle bringen. „Zusammenfassen zum Trust“ also ist der leitende Gesichtspunkt staatlicher Wirtschaftspolitik in Rußland. Und der Streit, ob man die Unternehmungen des Staates als sozialistisch ansprechen kann, geht nur darum, ob man solchen staatlichen Trust „Sozialismus“ nennen will.

Vor die Praxis gestellt, zeigt sich allerdings, daß der Staat die Wirtschaft nur so zusammenfassen und führen kann, wie sie eben ist; d.h. eine Wirtschaft, die zum großen Teil direkt Privatwirtschaft ist, die – weil auf staatlich bürokratischem Wege der Güterausgleich nicht zu bewerkstelligen ist – eines freien Marktes bedarf und die beim Fehlen einer anderen ökonomischen Regelung auf der Ausbeutung der „freien“ Lohnarbeit beruht.

„Staatssozialismus“ ist Lohnknechtschaft

Soweit wie private Wirtschaft besteht und in diesem System auch bestehen bleiben wird, gelangt das Mehrprodukt der ausgebeuteten Arbeitskraft in die Hände der privaten Anwender der fremden Arbeitskraft. Das Mehrprodukt der Arbeiter in den staatlichen Betrieben steht zur Verfügung des Staates selbst, der auch hier keine chimäre Idee ist, sondern das reale Gesicht der die Macht besitzenden und ausübenden Bürokratie erhält. Wie dieser damit wirtschaftet, davon hat Stalin uns sprechende Beispiele gegeben.

Die wirtschaftlichen Sorgen des Staates können nun keine anderen sein als die der privaten Kapitalisten. Man drängt vor allem auf größere Produktivität der Arbeit, versucht die Organisation der Wirtschaft zu verbessern und den Verwaltungsapparat zu verbilligen. Das ist nichts anderes als die Konzerne und Trusts in kapitalistischen Ländern auch durchführen: Rationalisierung der Wirtschaft. Wenn man annimmt, daß dem russischen Staat die von den Bolschewiki in sozialistische Phrasen eingehüllte Rationalisierung gelingt, so bleibt das mögliche Resultat eben auch nur eine Stärkung der staatlichen Wirtschaft. Der größere Umfang der staatlichen Wirtschaft bringt eine größere Masse Mehrprodukt oder Mehrwert, die zur Verfügung des Staates stehen und dazu dienen – zur weiteren sozialistischen Akkumulation? Wo ist hier das Ende oder mit anderen Worten: Wie bleibt in dieser Entwicklung das Interesse des Produzenten, der Lohnarbeiterschaft gewahrt? Die Moskauer sind ja nie um eine Antwort verlegen und verweisen z.B. auf die Berichte der Arbeiterdelegationen nach Rußland, die vor allem von Erholungsheimen und sonstigen sozialen Zuwendungen des Staates zu erzählen wußten. Geflissentlich übersehen wird hierbei allerdings, daß es vor allem die staatliche Bürokratie ist, die auf diesem Wege für sich und ihre Ergebenen sorgt und daß sich auch auf diesem Gebiete notwendig eine soziale Abstufung durchsetzt. Ein einzigartiger „Sozialismus“ übrigens, der zuerst die Arbeiter ausbeutet, um ihnen später staatliche soziale Zuwendungen zu machen.

Den russischen Arbeitern wird von Staats wegen als Ergebnis der höheren Produktivität auch Erhöhung des Lohnes versprochen. Obwohl man in der Praxis nichts davon sieht – wenn die Löhne nominell erhöht werden, steigen auch die Preise, wie in jedem anderen Land – ist dies, selbst wenn tatsächlich eine Hebung des Lebensstandards der Arbeiter erfolgt, durchaus nichts dem Sozialismus Eigentümliches. Die amerikanische Industrie hat die Arbeitsproduktivität bis zum Höchstmaß gesteigert und gibt den Arbeitern weitaus höhere Löhne als der Kapitalismus in Europa. Andererseits ist es in Rußland ja der Staat, d. h. die ihn verkörpernde Bürokratie, der bestimmt, ob und in welchem Umfange Lohnerhöhungen und wie überhaupt soziale Zuwendungen erfolgen sollen. Der Staat der Arbeiter und Bauern – die kurze Formel für die Wirtschaftslehre des Leninismus – ist die Gewähr für den Sozialismus. Dementsprechend ist auch die ganze Wirtschaftspolitik der Bolschewiki auf Verstaatlichung der Wirtschaft gerichtet und steht in vollem Einklang mit dem tatsächlichen Verlauf der Entwicklung in Rußland.

Staatsgläubigkeit und Führermacht

Im Staate konzentriert sich nach der Auffassung des Leninismus das ganze Leben, zu ihm strömen als zentralen Kulminationspunkt alle Energien der Gesellschaft und von ihm wiederum strahlt die vereinigte Energie in alle Glieder der Gesellschaft zurück. So muß diese Lehre zu einem komplizierten mechanischen System des gesellschaftlichen Lebens werden, in das der vielgestaltige Fluß der Dinge hineinzupressen versucht wird. Mit Notwendigkeit wird dadurch die Frage der Durchführung des Kommunismus, das heißt des Verfügungsrechtes der vom Kapital enteigneten Produzenten über die zurückeroberten Produktionsmittel auf das Gebiet verschoben, wo die Arbeiter um eine mehr oder weniger große Beeinflussung des mechanisch, bürokratischen Verwaltungsapparates kämpfen müssen. Möglichkeiten dazu bieten Sowjetwahlen, Betätigung in den Gewerkschaften und in der regierenden Partei. Durch diese Kanäle soll der Wille der Arbeiter und Bauern zur zentralen Regierungsgewalt geleitet werden, der dann von hier ausstrahlend über den obersten Volkswirtschaftsrat, die Trustleitungen und sonstigen zentralen Verwaltungsstellen schließlich in der Person des „roten Direktors“ dem Arbeiter wieder entgegentritt. Man braucht nicht einmal ein a.b.c.-Schütze des Marxismus zu sein, um zu wissen, welche Umwandlung der „Volkswillë“ auf diesem Wege erfährt.

An der Tatsache der Beherrschung und Ausbeutung ändert ein noch so fein ausgeklügeltes System, daß den Arbeiter und Bauer die Staatspolitik bestimmen lassen will, nichts; sie besteht und zwar ausgeübt von dem bürokratischen Staatsapparat. Der einzige Weg, um innerhalb dieses Systems einen Fortschritt zu erzielen, ist die „Demokratisierung“ des Staates.

Der werdende staatliche Wirtschaftskoloß in Rußland, der sich schon in seiner Jugend mit aller Widerwärtigkeit präsentiert, ist nicht nur das Ergebnis spezieller russischer Verhältnisse, sondern zugleich auch das Produkt des aktiven Eingreifens der Bolschewiki, die in diesem Zusammenhang eine ganz bestimmte Geistesrichtung der alten Arbeiterbewegung verkörpern. Durch die Sozialdemokratie von Lassalle bis Lenin zieht sich wie ein roter Faden der Glaube an die Allmacht des Staates. Die Auffassungen variieren im Einzelnen und laufen doch an dem Brennpunkt zusammen, wo der Staat, das heißt die zentralisierte politische Kommandogewalt mit Produktionshilfe – wie bei Lassalle – oder vermittels Diktatur– wie bei Lenin – das soziale Problem löst. Hinter dem Staatskultus steht in Wirklichkeit der Unglaube an die Kräfte des Proletariats und in der Praxis die Harmonie zwischen Arbeit und Kapital.

Die Gewerkschaften als wirtschaftliche Organisationen atmen denselben Geist; sie verkörpern das Prinzip der Bindung der Massen an den Führer, um von diesem aus Not und Elend in den befreienden Sozialismus geführt zu werden. Die Auffassung von Sozialismus, die diesem Geist entspricht, sieht deshalb auch in der Person des Führers die Gewähr für die Befreiung der Arbeiterschaft. Sie kann, wenn die Arbeiterschaft in diesem Geiste handelt, in der Praxis zu nichts anderem führen, als daß die Arbeiterklasse alle Macht den Führern übergibt, sie zum Herren über sich setzt und von ihnen die Erfüllungen ihrer Hoffnungen und Wünsche erwartet. Der tüchtige, gesinnungstreue, nicht verräterische Führer wird dadurch zum Kernproblem und Ideal der Arbeiterbewegung. – Welch ein Kontrast besteht doch zwischen dieser Ideologie und dem revolutionären Marxismus!

Nirgends wird so klar wie hier, daß die russischen Bolschewisten Fleisch vom Fleische der alten Sozialdemokratie sind. Als Führer alten Schlages glauben sie von ihrer Kommandohöhe aus das Proletariat und die Gesellschaft in den Kommunismus hineinmanövrieren zu können und sind doch nur die Gefangenen ihres eigenen Systems. Wenn sie gleich kleine Napoleons zu sein wähnen, werden sie der Geschichte doch kein Schnippchen schlagen, denn die produktiven Kräfte der Gesellschaft werden, einmal in ein bestimmtes System gebunden, den dadurch bedingten Gesetzen folgen. Der Staat der Führer – wie diese Diktatur heißen muss –kann immer nur danach streben, seine Macht zu vergrößern und züchtet so selbst seinen Widerpart, das ausgebeutete Proletariat, bis es schließlich zur revolutionären Entladung kommt und eine neue Ordnung geboren wird.

Von unten auf

Wenn Marx die Aufgabe der proletarischen Revolution darin zusammenfaßt, dass sie den vom Kapital enteigneten Produzenten die Produktionsmittel wieder in ihre eigenen Hände legen soll, so ist der Staatssozialismus dem gerade entgegengesetzt. Die Verfügung über die Produktionsmittel ist den Arbeitern genommen und absolut in die Hände des Staates gelegt. Der Staat aber, der sich großspurig als Staat der Arbeiter und Bauern proklamiert, bekommt als zentralisierter, staatlicher Wirtschaftsapparat den Charakter der Herrschaft über die Gesellschaft, deren Machtvollkommenheit selbst die großen kapitalistischen Trusts in den Schatten stellt.

Wenn die proletarische Revolution zum Kommunismus führen soll, muß sie den Arbeitern die tatsächliche Verfügung über die Produktionsmittel bringen, denn so erst ist das Proletariat in der Lage, sein Geschick selbst bestimmen. In der k.a.p.d. und der Allgemeinen Arbeiter-Union wird zum ersten Mal in der Geschichte der Arbeiterbewegung praktisch der Weg eingeschlagen, bei größter Selbständigkeit und Selbstverwaltung der Gruppen im Wesen der Sache die höchste Einheit zu erreichen. Was hier in ersten Ansätzen im klassenbewußten Proletariat lebt, muß zum Grundzug kommunistischer Wirtschaft werden. Aufbauend auf die Selbstverwaltung der Betriebsorganisationen schlingt sich dann durch deren Vereinigung das einigende Band um die gesellschaftliche Produktion. Art und Inhalt der Verwaltung aber ist dann – im Gegensatz zum Staatskommunismus, wo dies Aufgabe des Staates und seiner Führer ist – eine öffentliche Angelegenheit. In Form von Gesetzen und Richtlinien, nach denen die Verwaltung von Betriebsorganisationen erfolgen muß, Regeln für den Ablauf der Produktion und Reproduktion wird durch Selbstverwaltung die höchste Einheit der Wirtschaft erreicht. Es wird unsere Aufgabe sein, an anderer Stelle die Grundzüge dieser Wirtschaftsordnung ausführlich darzulegen. Doch ohne dem vorzugreifen können wir mit aller Bestimmtheit feststellen, daß die Verwaltung der Wirtschaft durch den Staatstrust nie auf den Weg zur klassenlosen Gesellschaft führt, sondern nur den Wiederaufbau der Ausbeuterwirtschaft – wenn auch in veränderter Form – bedeutet.

Gerade in dieser Frage muss die k.a.p.d. Klarheit in die Köpfe der Arbeiter bringen, denn hier liegt in Wahrheit die Wurzel des grandiosen Verrats am Proletariat, dem wir jetzt überall auf Schritt und Tritt begegnen.

Max Hempel


Anmerkungen

*) Rykow: Die wichtigsten Charakterzüge der Wirtschaftslage in der Sowjetunion. Inprekorr., Nr. 61, 1926.

**) Stalin: Über die Wirtschaftslage der Sowjetunion, Bericht an die Parteiarbeiter in Leningrad, Inprekorr., Nr. 62, 1926.


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Compiled by Vico, 2 February 2022

































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