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Thema: Entwicklung in Natur und GesellschaftCharles Darwin / Anton Pannekoek, 1909Quelle: Charles Darwin / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 54, 12. Februar 1909; publiziert in: Bremer Bürger-Zeitung, 12. Februar 1909, und (verkürzt?) als: Sozialismus und Darwinismus / [Anton Pannekoek]. – In: Leipziger Volkszeitung, 13. Februar 1909. Am 12. Februar sind hundert Jahre seit der Geburt des Mannes verflossen, dessen Forschungen mehr als irgendwelche in 19. Jahrhundert einen völligen Umschwung im Denken der Menschen gebracht haben. Die bürgerliche Wissenschaft stellt seine Entdeckungen an die Spitze aller wissenschaftlichen Ergebnisse dieses Jahrhunderts; für das Proletariat steht er ebenbürtig neben Marx als Begründer einer wissenschaftlichen Auffassung der ganzen Welt. Wir kennen eine Unmasse der verschiedensten Tierarten, die sich dadurch erhalten, dass die Individuen immer wieder Jungen derselben Art hervorbringen. Wo sind diese Arten hergekommen? Die christliche Tradition sagte: Gott hat alle Tiere, jedes nach seiner Art erschaffen, sowie er auch den Menschen erschuf. Und nach dem wissenschaftliche Grundsatz, dass die Tiere immer nur Jungen derselben Art hervorbringen, mussten am fünften Schöpfungstag die hunderttausenden Arten von Fischen und anderen Meerestieren, die wir kennen, in ihrer heutigen Gestalt auf einmal erschaffen sein. Dieser Wunderglauben musste selbstverständlich in den Köpfen der Naturforscher allmählich einer anderen Auffassung weichen. Die schöne Ordnung im Tiersystem führte von selbst dazu. Katze und Tiger sind einander äusserst ähnlich, weniger sind es Katze und Hund; mehr sind die noch vom Pferd verschieden; noch grösser sind die Unterschiede gegen einen Krokodil, noch viel grösser gegen einen Krebs oder einen Seestern. Der Gedanke lag hier nahe, dass das System der Tier im Grunde ein Verwandtschaft ist, dessen Glieder sich um so ährlicher sind, ja näher sie einander verwandt sind, und dass also die Arten sich aus einander enwickelt haben müssen. Diese Auffassung wurde dadurch bestätigt, dass man Tiere kennen lernte, die als Übergangsformen zwischen den Gruppen stehen, eund eigentlich nirgends gut passen, wie z.B. eierlegende säugtiere. Auch die aus der Erde begrabenen Überreste vorweltliche Tiere boten solche Übergangsformen von der einen zu anderen Gruppe dar. Der Gedanke einer gemeinsamen Abstammung aller Tiere kam deshalb schon bei manchen Vorläufer Darwins auf. Aber er blieb nur ein genialer Gedanke; sie konnten nicht die Kräfte aufzeigen durch die notwendigkeit die Tierarten sich zu anderen Tierarten entwickeln mussten. Das war die Grosstat Darwins, dass er die Ursache der Entstehung neuer Arten nachwies, bei der allbekannte Tatsachen, wie Vererbung und Veränderlichkeit, miet neuentdeckten, wie dem Kampf ums Dasein, zusammenwirken. Die Kinder erheben die Eigenschaften der Eltern, aber zugleich zeigen alle Kinder kleine Abweichungen von den Eigenschaften der Eltern. DerKampf ums dasein lässt nicht alle jungen Tiere das Alter der Fortpflanzung erreichen; es findet eine Auslese, eine Zuchtwahl staat; die „Tauglichsten“, die den UmstÄnden am Besten angepasst sinds, bleiben am Leben und vererben ihren Jungen ihre günstigen Eigenschaften; die Untauglichen werden in dem Kampf ums Dasein ausgemerzt. Dadurch wurde auf einmal die wundervolle Zweckmässigkeit verständlich, die wir überall in der Natur antreffen, und die man bis dahin nur als Absicht eines weisen Schöpfer zu erklären wusste. Die raschen Füsse des Hasen, der scharfe Auge des Falken, die starken Muskel des Löwen, alle besonderen Anpassungen der Hunderttausenden von Tierarten an ihre Lebensumstände, stellten sich als Prdukte des Kampfes ums dasein heraus. Was zuvor nur durch das übernatürliche Eingereifen eines Gottes erklärlich erschien, fand hier eine natürliche Erklärung. Darin liegt die geistesbefreiende Wirkung der Darwinschen Untersuchungen. Der gewältliche Beifall, den die Lehren Darwins sofort nach ihrem Erscheinen fanden, stammte zum grössten Teil daher, dass die bürgerliche Klasse gerade die wissenschaftliche Wahrheit brauchte, um die Autorität der reaktionären Gewalten, ihrer Klassengegner, zu brechen. Im Kampfe mit der religiösen Überlieferung brauchte sie eine natürliche, materialistische Weltanschauung. Die gesellschaftlichen Anschauungen bestimmen auch die Naturauffassung, wie sich geraden an diesem Beispiel klar zeigt. Seitdem die Bourgeoisie durch das Emporkommen des Proletariats die Zukunft der Gesellschaft nicht mehr hoffnungsfroh entgegensieht, reaktionär geworden is und Mystik hinneigt, sieht sie die Darwinsche Theorie auch mit anderen Augen an. Ihr Bedürfnis, die Welt in einem geheimnissvollen Lichte zu sehen, lässt sie vor Allem die Lücken, das von der Theorie noch unerklärte, als etwas Unerklärliches hervorheben. Die Natur des Lebens, aus der die Vererbung, die Veränderlichkeit und die Anpassung entspriessen, bleibt doch immer ein Rätsel, sagen sie; die lebenden Wesen sind keine toten Mechanismen, die von der äusseren Welt hin und hergezerrt[?] und Gekntet[?] werden. Für diese Verzweiflung an die Wissenschaft besteht nun kein anderen Grund, als eben die Abneigung gegen klare Wissenschaft bei der Bourgeoisie. Der Darwinismus löst selbstverständlich nicht alle Rätsel, er erklärt nur (was das Wesen alles wissenschaftlichen Fortschritts ist, einige sehr geheimnisvollen unerklärlichen Tatsachen – das Bestehen hunderttaussender zweckmässig gebauter Arten – aus anderen Tatsachen, die uns aus unserer unmittelbaren Erfahrungen bekannt sind. Dass an diesen bekannten Tatsachen, wie der Vererbung, selbst noch viel zu erforschen bleibt, verringert den Wert der Darwinischen Theorie nicht im geringsten. Vor Allem bleibt iht Wert für eine natürliche Weltauffassung vollständig bestehen; war es früher natürlich, zur Erklärung der Arten und ihrer Zweckmässigkeit einen übernatürlichen Schöpfer anzunehmen, so erscheint es jetzt lächerlich, zu einem solchen seine Zuflucht zu nehmen, bloss weil in den Vorgängen der Vererbung noch viel Unerforschtes und Unerklärtes liegt. Das Proletariat hat diese wissenschäftliche Reaktion nicht mitgemacht und würdigt daher die gewaltige Bedeuting des grossen englischen Naturforschers ohne Vorbehalt. Für seinen unmittelbaren Kampf braucht es zwar den Darwinismus nicht; seine geistigen Waffen liefert ihm die Gesellschaftswissenschaft von Marx. Aber es ehrt Darwin als den Forscher, dem es für seine geistige Befreiung aus den Fosseln des Aberglaubens neben Marx am meisten verdankt. Sozialismus und DarwinismusDarwinismus und Sozialismus bezeichnen die beiden grossen Geistesumwälzungen des 19. Jahrhunderts; keine anderen Theorien haben in dem Masse die Weltanschauung der Menschen umgeändert, wie die von Marx und von Darwin. Es versteht sich daher, dass sie manchen Zusammenhang und manche Analogie aufweisen und dass noch mehr solche gesucht wurden, die gar nicht bestehen. Zunächst behandlen sie verschiedene Gebiete und in diesem Sinne stehen sie unabhängig neben einander. Der wissenschaftliche Sozialismus handelt über die menschliche Gesellschaft, der Darwinismus über die Tier- und Pflanzenwelt. Sowie Darwin das Entwicklungsgesetz der organischen Welt enthüllte, hat Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Gesellschaft aufgedeckt, in dieser Weise hat Engels Zusammenhang ausgedrückt, der also nur darin besteht, dass sie einander ergänzen. Nun gehört auch der Mensch zum Tierreich, und die Gesetze, die Darwin für das ganze Tierwelt aufstellte, müssen also, mit den seiner besonderen Lebensweise entsprechen Änderungen, auch für die Menschen gelten. Daher suchten bürgerliche Gelehrte, die die Marxsche Gesellschaftswissenschaft nicht kennen, in den Darwinismus den Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Gesellschaft. Als sich dabei Argumente gegen den Sozialismus ergaben, wurde allmählich der auf die menschliche Gesellschaft angewandte Darwinismus systematisch zur Bekämpfung des Sozialismus verwendet. Der Gedankengang, wie man ihn z.B. bei dem berühmten Naturforscher Ernst Haeckel findet, erscheint auf den ersten Blick gar nicht übel. Der Sozialismus will den grausamen Kampf ums Dasein der kapitalistischen Gesellschaft aufgeben und ihn durch ein friedliches Zusammenarbeiten ersetzen, bei dem jeder seines Lebensunterhaltes sicher ist. Nun neigt aber der Darwinismus, dass gerade der Kampf ums Dasein den Hebel alles Fortschritts bildet; die anscheinend so grausame Ausmerzung der Schwachen, der Untauglichen ist die Quelle des Emporsteugens, der Vervollkommnung der Art. Der Kampf stählt die Energie; wird er aufgehoben und werden alle Untauglichen ins Leben erhalten, so hört die Rasse auf, sich zu verbessern oder geht gar zurück. Der Wettbewerb, bei dem dem Starken der Preis winkt und dem Schwachen der Untergang droht, kann für den Fortschritt nicht gemisst werden. Sieht man diesen Gedankengang jedoch genauer an, so bemerkt man, dass er auf der Verwendung allgemeiner Schlagworte beruht, deren Kraft verschwindet, sobald man sie näher unter der Lupe nimmt. Der Kampf vervollkommnet, das stimmt. Aber was kämpft, und was wird dabei vollkommner? Sagen wir: das ganze Tier, so kommen wir nicht weiter. Das Tier kämpft mit seinen Organen, die seine Werkzeuge und Waffen sind; die diese Organe vervollkommnen sich. Der Wettkampf der Hasen mit einander ist ein Kampf in der Schnelligkeit der Füssen, bei der Löwen ist er eins Wettbewerb der Muskelkraft, bei den Laubfröschen ein Wettbewerb in der grünen Hautfarbe. Diese Organe, diese Eigenschaften, bekommen durch den Kampf die höchste Ausbildung, in ihrer Vollkommenheit besteht die des ganzen Tieres. Womit kämpft aber der Mensch? Nicht mit seinen leiblichen Organen, sondern mit den von seinem Körper getrennten Werkzeugen. Daher vervollkommnet sich im Daseinskampf nicht sein Körper, sondern seine Technik. Das ist der grosse Unterschied zwischen Tier- und Menschenwelt, wodurch dieselbe Ursache verschiedene Wirkungen zeitigt. Im kapitalistischen Zeitalter sind die Maschinen und die Kapitalien die Waffen, womit der Wettkampf geführt wird. Durch den Kampf werden die Maschinen produktiver und die Kapitalien konzentrieren sich, während die Kapitalisten als Menschen zugleich entarten können. Das Grundgesetz des Darwinismus gilt also auch für die heutige Gesellschaft: der Kampf, die Auslese, die Ausmerzung der Untauglichen bringt Vervollkommnung; aber nicht der Menschen, sondern die Maschinen und die Kapitalien werden vollkommner. In dem Fortschritt der Technik besteht der Fortschritt der Gesellschaft; dass arme, durch das Grosskapital zerschmetterte Menschen Hungers sterben, hat damit nichts zu tun. Unter dem Sozialismus bleibgt der Wettkampf der Werkzeuge bestehen; die unproduktiven werden ausgemerzt, die Besten bleiben, der Fortschritt bleibt – nur fehlen dabei die Sorgen und die Tränen der untergehenden Privatbesitzer, deren Los jetzt mit dem ihrer Werkzeuge verkettet ist. Nur in einem Punkte besteht die Entwicklung des Menschen auch in der Entwicklung eines seiner körperlichen Organe. Mit der Technik musste sich auch das menschliche Gehirn, der menschliche Geist entwickeln. Darauf könnten sich die Verteitiger der bürgerlichen Gesellschaft noch berufen, dass sie sagen, der Wettkampf der Werkzeuge komme auf einen Wettkampf des Geistes hinaus, und der vorzüglichste Geist, der im Kampfe gewinnt, sitze an dem Körper fest, bedeute eine persönliche Vollkommenheit, die sich vererbt. Das mag zum Teil für frühere einfache Produktionsweisen stimmen; für den Kapitalismus stimmt es schon längst nicht mehr. Geist und Gehirn werden jetzt vom Kapitalbesitzer gekauft; er schlägt den Konkurrenten durch die Überlegenheit eines Geistes, der nicht seinem Körper, sondern dem Körper eines von ihm gemieteten Technikers angehört. Wer kennt nicht die Kontraktklausel, die die technischen Angestellten unterschreiben müssen, nach der jede Erfindung, die sie machen, nicht ihnen selbst, sondern ihrem Ausbeuter gehört? So Zeigt sich, dass die Versuche, dem Darwinismus Argumente gegen den Sozialismus zu entnehmen, fehlschlagen. Zwar gelten die Grundgesetze der Entwicklung, die Darwin für die ganze Tierwelt aufstellte, auch für die Menschen; zieht man aber die besondre Natur der menschlichen Gesellschaft in Betracht, so bemerkt man dass sie auf die den Sozialisten schon längst bekannten Entwicklungsgesetze der Gesellschaft hinauskommen. A.P. © Obgleich die Kommunistische Linke im Allgemeinen keine Urheberrechte bzw. „intellektuelle Eigentumsrechte“ für sich eingefordert hat, können einige Veröffentlichungen auf dieser Webseite urheberrechtlich geschützt sein. In diesem Fall steht ihr Gebrauch nur zum Zweck persönlichen Nachschlags frei. Ungeschütztes Material kann für nicht-kommerzielle Zwecke frei und unentgeltlich verbreitet werden. Wir sind Ihnen erkenntlich für Ihren Quellenhinweis und Benachrichtigung. Bei beabsichtigter kommerzieller Nutzung bitten wir um Kontaktaufnahme. Compiled by Vico, 30 July 2019 |
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