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Antonie Pannekoek Archives

Herman Gorter

Herman Gorter, 1923
Quelle: Letterkundig Museum , Den Haag.


Herman Gorter an Lenin, 26. September 1921


Quelle:  nie zuvor veröffentlichter Brief von Herman Gorter an Lenin; Original in den Archiven der Komintern in Moskau, diese getippte Kopie von die Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, vorher Institut für Marxismus-Leninismus in Berlin, Fotokopie Kollektion Ph.B.; Quelle der Transkription und zweite redaktionelle Armerkung:  left-dis.nl ; hier überprüft.


Berlin, 26. September 1921.

Lieber Genosse Lenin!

Wie Sie wahrscheinlich wissen, bin ich mit der k.a.p.d. aus der dritten Internationale ausgetreten, und versuche jetzt mit ihr eine allgemeine Bewegung nach ihren Prinzipien zu gründen.

Darüber will ich nicht schreiben. Die Geschichte wird zeigen, ob wir Recht hatten.

Jetzt möchte ich mich nur bei Ihnen, den ich so hoch schätze, gegen einige Lügen und Verleumdungen, die auf dem internationalen Kongress und vom e.c. der 3ten Internationale geäußert worden sind (*), verteidigen.

Erstens ist über mich gesagt, ich stehe dem Kampf fern. Das ist unwahr. Ich stehe seit 26 Jahren mitten im Kampfe. Sie, die das sagen, sind meine Gegner, die versucht haben, mich aus dem Kampfe auszuschliessen. Ich habe an allen praktischen und theoretischen Kampfe teilgenommen, auch nehme daran Teil, in Holland und nun in Deutschland. Zweitens ist auf dem Kongress und vom e.c. gesagt, ich kehre mich gegen die russische Revolution und habe den Aufstand in Kronstadt verteidigt. Das letzte ist eine feige Verleumdung. Ich habe – nur einmal über den Kronstädter Aufstand geschrieben, nämlich auf Seite 30 meiner deutschen Broschüre: „Die Klassenkampforganisation“. Dort steht zwar, dass aus diesem Aufstand hervorgeht, dass Klassendiktatur besser wäre als Parteidiktatur, sondern in Klammern ist hinzugefügt, dass die ganze Taktik, die von den Bolschewiki in Russland, in Russland, befolgt wird, notwendig, also richtig ist (**). Also gerade das Umgekehrte von dem, was die Verleumder sagen.

Und, Genosse Lenin, das habe ich über Ihre Taktik in Russland immer geschrieben. Ich bewundere ihre Taktik in Russland, auch darf eure Opposition es auch im Grossen nicht besser hatte tun können. Ich bin mit dieser Taktik, die Sie persönlich dort befolgen ganz und gar einverstanden. Mit der Veränderung der Taktik in 1921, mit dem freien Handel, den Konzessionen, der Naturalsteuer usw. Das habe ich alles ausdrücklich und ausführlich hundert mal geschrieben. Ich war sogar, wenn ich nicht irre, der erste, der hier in Westeuropa diese Taktik aus historisch-materialistischen Gründen als die notwendige bewiesen habe.


Aber, lieber Genosse, wir müssen hier die Russische Taktik nicht nur nach dem beurteilen, was sie in Russland ist.

Es gibt für uns drei Gesichtspunkte, aus welchen wir sie beurteilen müssen.

Die erste Frage für uns ist, wie gesagt,: Wie erscheint sie uns in Russland. Mit ihr bin ich einig.

Die zweite ist: Wie wirkt sie auf uns? Auf unsere Aktion, auf unsere (deutsche) Revolution? Und dann müssen wir natürlich ganz anders urteilen wie in der ersten. Denn was in Russland notwendig, also richtig ist, kann hier sehr schädlich sein. Freier Handel, Konzessionen usw. usw. und ihre Folgen, auch die Folgen der ganzen Schwankung. Ihre Taktik sind hier schädlich, und werden immer schädlicher werden. Das ist nicht Eure Schuld, versteht sich. Ihr könnt nicht anders.

Aber die Tatsache bleibt. Das müssen wir aufrichtig dem Proletariat hier sagen. Wir müssen dies sogar gebrauchen, um die Arbeiter zu wecken. Wir müssen ihnen sagen: Seht, die russische Revolution wird schwächer, wenn ihr sie nicht hilft durch eure Revolution, dann ist die grösste Gefahr, dass sie zu Grunde geht. – In diesem Sinne agitiere ich, Genosse und auch die k.a.p.d. Wir sagen: die Russen sind gezwungen unserer Revolution zu schaden, eilt ihnen zu Hilfe.

Der dritte Gesichtspunkt ist: Wie ist die Taktik der Russen, der 3ten Internationale hier, in Westeuropa. Darüber brauche ich mich nicht zu verbreiten. Sie wissen, Genosse, dass ich sie für absolut schlecht halte, und dass ich ihr zum

Teil dem schlechten Gang der Revolution zuschreibe. Massenpartei, Parteidiktatur, usw. halte ich hier für absolut schädlich. Darüber jetzt nich weiter. Sie sehen also, Genosse,:

  1. In Russland bin ich mit ihnen einig.
  2. Ihre neue Taktik halte ich für die Revolution in Europa schädlich, aber in Russland für notwendig.
  3. Ihre west-europäische Taktik halte ich für schlecht. Ich wollte ihnen dies einmal deutlich schreiben, damit Sie diese Urteile unterscheiden, und damit Sie ein besseres Urteil über meine Taktik bekämen.

Ich möchte diesem noch hinzufügen, dass ich glaube zu verstehen, wie und wodurch Sie zu Ihrer westeuropäische Taktik gekommen sind. Ich glaube, oder besser, ich kann mir sogar vorstellen, dass Sie von ihrem (russischen) Standpunkt Recht haben. Aber dieser Standpunkt kann unmöglich der meine sein.

Ich wage zu hoffen, dass Sie nach einiger Zeit dies einsehen werden, und dass Sie über meine Taktik urteilen werden wie ich über die Ihrige.

Mit herzlichen Grüssen und den besten Wünschen für die russische Revolution.

Ihr

gez[eichnet]. Hermann Gorter.


Redaktionelle Anmerkungen

*) Die vierte Sitzung, 25. Juni 1921, S. 185-199. Die wichtige Broschure Der Weg des Dr. Levi : Der Weg der v.k.p.d., 1921 (auch auf Englisch verfügbar) war nicht von Herman Gorter geschrieben.

**) Die Klassenkampf-Organisation des Proletariats / Herman Gorter, 1921:
„Nachdem das Proletariat in Kronstadt gegen euch, die kommunistische Partei, aufgestanden ist, und nachdem ihr in Petersburg den Belagerungszustand auch gegen das Proletariat habt verhängen müssen (was bei euch, wie eure ganze Taktik, notwendig war), ist euch dann, auch dann noch nicht der Gedanke gekommen, dass es doch besser wäre, Klassendiktatur zu haben statt Parteidiktatur? Und dass es doch vielleicht besser wäre, wenn in Westeuropa und Nordamerika nicht die Partei- sondern die Klassendiktatur käme? Und dass die «Linke» dort vielleicht Recht hat?
Vielleicht ist dieser Gedanke euch damals gekommen. Aber, wenn dieser Gedanke auch gekommen ist, dann habt ihr die Sache doch noch immer nicht recht verstanden. Denn die Klassendiktatur ist hier nicht allein besser, sie ist absolut notwendig.
Das könnt ihr am besten auch wegen der schon genannten Gründe auf diese Weise verstehen: Bei euch konntet ihr, als ein Teil des Proletariats sich gegen euch in Kronstadt und Petersburg erhob, die Gegenrevolution noch unterdrücken. Weil sie bei euch schwach ist. Bei uns aber würde sie, wenn ein Teil des Proletariats sich gegen uns erhöbe, siegen. Denn die Gegenrevolution ist bei uns sehr mächtig.
Auch darum also ist die Klassendiktatur bei uns notwendig, absolut notwendig. Und Parteidiktatur unmöglich.“


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Compiled by Vico, 29 March 2021