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Antonie Pannekoek Archives

Rätekorrespondenz

Quelle: a.a.a.p.


Rätekorrespondenz

Internationale Rätekorrespondenz 1934-1937 / Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland). – Transkribiert und herausgegeben für Rätekommunismus ; Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek, Dezember 2020, 504 S., € 13,16, ISBN 979-8551636052


Ein Brief aus Deutschland

(Übersetzt aus Council Correspondence, Januar 1937)


Quelle:  Ein Brief aus Deutschland – In: Internationale Rätekorrespondenz : Theoretisches und Diskussionsorgan für die Rätebewegung.  – Ausg[abe]. der Gruppe Int[ernationaler]. Kommunisten, Holland. – 1937, Nr. 21 (April); Quelle der Transkription: Rätekommunismus , 23. November 2020, Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek.


Es ist den Nationalsozialisten bekannt, dass in breiten Schichten der Bevölkerung ein Mangel Lebensmitteln besteht. Sie scheinen sich des Ernstes der Lage bewusst zu sein und machen große Anstrengungen, die daraus entspringenden, ihre Herrschaft bedrohenden Probleme zu lösen. So versuchen sie mit alle möglichen Mitteln, die Zahl der Arbeitslosen zu vermindern. Wenn auch die Einführung der allgemeinen Dienstpflicht eine große Anzahl guter Fachleute aufsog und einigen selbst eine Perspektive eröffnete, wenn auch die Rüstungsindustrie bis zur Grenze ihrer Leistungsfähigkeit beschäftigt ist und Metallarbeiter gebraucht werden, besteht doch noch eine ziemlich große Arbeitslosigkeit. Diejenigen, die in der Rüstungsindustrie keine Arbeit bekamen, werden mit Fürsorgearbeit beschäftigt. Sie bauen Autostraßen oder unterstehen dem „Arbeitsdienst“ oder der „Landhilfe“. Dies trifft besonders auf junge Arbeiter zu.

Fürsorgearbeit bedeutet, dass man einen geringen Zuschlag auf den gesetzlichen Unterstützungssatz erhält. So beträgt der Stundenlohn beim Reichsautostraßen-Bau 6 Pfennige. Beim Arbeitsdienst und bei der Landhilfe erhalten die dort gezwungen tätigen Arbeiter neben Kost und Wohnung ein unbedeutendes Taschengeld. Nur diejenigen jungen Arbeiter, die eine der beiden Einstellungen durchlaufen haben, haben Aussicht auf bessere, reguläre Arbeit.

Die Landhilfe wird sehr gefürchtet. Die jungen Arbeiter erhalten hier einen „Lohn“ der monatlich 15 Reichsmark beträgt. Dafür wird dann jeden Tag gearbeitet, selbst der Sonntag ist nicht frei.

Der Arbeitsdienst und die Landhilfe spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle im öffentlichen Leben. Jedes Halbjahr Dienst in der Landhilfe wird bescheinigt. Es gibt Fälle, wo junge Arbeiter vier solcher Bescheinigungen beim Arbeitsamt vorzeigen konnten und doch keine reguläre Arbeit erhielten. Diejenigen, die in einem halben Jahr die Bedienung einfacher Maschinen erlernen können, dürfen hoffen, bei genügender Leistung für 63 Pfennig Stundenlohn in der Metallindustrie Arbeit zu bekommen. Auf diese Weise bilden sie nebenbei eine ernste Konkurrenz für die gelernten Metallarbeiter, welche noch immer einen Lohn von 92 Pfennigen erhalten.

Die Bemühungen des Staates, Arbeit zu beschaffen, tragen den Stempel des fieberhaften. Tausende Arbeiter, Drucker, Maler und dgl., also solche, die nicht Metallarbeiter sind, werden ungefähr drei Monate bei öffentlichen Werken beschäftigt und wandern dann zu den Arbeitsämtern zurück. Diese Tatsache beweist das Bestehen eines Arbeitsmangels selbst wenn in der Rüstungsindustrie bis zu 74 Stunden per Woche gearbeitet wird.

Ein gigantischer Staatsapparat bemüht sich, die Lage zu beherrschen, drohend entsteht die Frage, ob es dem Nationalsozialismus gelingt, die ökonomische Krise zu überwinden. Selbst der einfache Erwerblose, von dem man erwartet zu begreifen, dass die „Alten Kämpfer“ um des Prestiges Willen zuerst Arbeit erhalten müssen, erkennt dies. Die Diktatur des Parteibuches ist an den Stempelstellen deutlich fühlbar.

Neben den Metallarbeitern können auch fähige Stenografen auf Arbeit rechnen. Denn die Bürokratie wächst noch schneller als die Rüstungsindustrie. In Kursen für Stenografie und ähnlichem haben junge Mädels Gelegenheit, sich heranzubilden, um ihren Teil zur großen „Bewaffnung für den Frieden“ beitragen zu können.

Während der Olympiade wurden die Zügel merkbar gelöst. Der Besucher aus dem Auslande musste den Eindruck eines friedlichen Landes ohne Terror und Bespitzelung mit nach Hause nehmen. „Der Stürmer“, besonders durch die Jugend viel gelesen, war damals nirgends zu finden. Vom Angestellten des Reisebüros bis zum gewöhnlichen s.a.-Mann war jeder auf den Empfang der Besucher gedrillt. Waren sie auch für „Gräuel-Märchen“ fassbar gewesen, als Spender von Valuta waren sie willkommen und wurden demgemäß behandelt.

In Verbindung mit den Olympischen Spielen wurden den leichtgläubigen, zahlungsfähigen Ausländern Zerstreuung und Unterhaltung geboten. So fand in Hamburg der „Weltkongress für Freiheit und Entspannung“ statt. Wenn auch die Zahl ausländischer Teilnehmer recht mager war, so tanzten doch vor dem begeisterten „Volk“ und dem vergnügten Doktor Ley einige Bulgaren in nationaler Tracht. Aus allen Gebieten Deutschlands waren Abgesandte in „Volkstracht“ erschienen. Es wurde viel gelacht und der Handel mit Abzeichen und Autogrammen blühte. Die Plätze wurden für 2 RM die Stunde den Zuschauern vermietet. Kurz: Interesse an Kunst wie am Verdienst in Bezug auf die alten Volksbräuche wachsen; der Deutsche lacht wieder.

Oberflächlich gesehen ist alles in bester Butter in Deutschland, es ist Ordnung und Glück. Ordnung jedoch in dem Sinne, die uns an jene Touristen erinnert, die Loblieder auf Mussolini sangen, weil doch nun endlich zumindest die Züge dem Fahrplan entsprechend fahren. Und Glück, weil Trachten, Uniformen, Flaggen im Überfluss vorhanden sind. In besseren Cafés und auf Vergnügungsbooten hört man schneidige Militärmusik; Soldaten füllen die Abteilungen der Züge, die sonst nicht so besonders besetzt sind. Die alte Romantik der Soldatenliebe blüht wieder auf und die Ausflüge von „Kraft durch Freude“ geben viel Verkehr. Diese Organisation für Entspannung hat die phantastischsten Resultate.

Die Menschen sind in unglaublicher Maße unkritisch und unpolitisch. Sprich mit einem „guten Deutschen“ über die Bewaffnung, welche seit der Wiedereinführung der Dienstpflicht kein Geheimnis mehr ist. Er wird dir sagen, dass Hitler der meist friedensliebende Mann auf Gottes Erdboden ist. Seine Bewaffnungen dienen einzig und allein der Sache des Friedens. Antworte ihm mit Auszügen aus den Reden Hitlers, die das Gegenteil beweisen, er wird dir sagen, dass er sich nicht für Politik interessiert und dass wahrscheinlich in diesem Zusammenhang bestimmt noch Faktoren sind, von denen man nichts weiß. „Aber der Führer… Nein, Herr!“

Doch wie ist die Einstellung der früheren Gegner des Hitlerismus in den Werkstätten und Fabriken? Ist auch von größeren Streiks und Demonstrationen nicht zu berichten, so kann doch keine Rede davon sein, dass die deutsche Arbeiterklasse als Gesamtheit nationalsozialistisch geworden wäre. Wer den Zusammenbruch der deutschen Arbeiterbewegung als Resultat des Überlaufens der Arbeitermassen zum Nationalsozialismus sieht, ist unfähig, die Möglichkeit des Emporsteigens zu erneuten Klassenkämpfen zu begreifen.

Es scheint, dass die Arbeiter jetzt aus dem langen narkotischen Schlaf seit der Niederlage erwachen. Keine der früheren Organisationen spielt noch eine Rolle. Die illegalen Gruppen, gering in der Anzahl, erscheinen nicht an der Oberfläche, für die große Masse bestehen sie einfach nicht. Eine Klasse kann sich jedoch bewegen, ohne „Politik zu treiben“, sie kann es selbst dann, wenn sie von ihren Organisationen beraubt ist.

Die Lohntüten sind nicht dicker geworden, die Arbeiter samt ihren Frauen fühlen dieses und sind gezwungen, den Existenzkampf fortzusetzen. – Dr. Ley besuchte vor Kurzem einen Metallbetrieb im Rheinland. Die Arbeiter grüßten ihn mit einem wüsten „Heil Hitler“ und hielten gleichzeitig demonstrativ ihre mageren Lohntüten in die Höhe.

Während dieses nur eine erste Äußerung der wachsenden Unzufriedenheit ist, werden auch mehr und mehr Zeichen kollektiven Widerstandes sichtbar. In einer großen norddeutschen Maschinenfabrik wurde der Belegschaft, einige tausend Mann, befohlen, in einer der großen Arbeitshallen eine der Wahlreden Hitlers anzuhören. Nur das Kontorpersonal und die Aufseher erschienen. Die Arbeiter versammelten sich dagegen auf dem Hof vor dem Eingangstor, welches solange geschlossen gehalten wurde, bis die Aussendung geendet war. Der Zustand wurde kritisch, die wenigen wirklichen Nazis unter den Arbeitern wagten es nicht, den Mund auf zu machen. – Im Allgemeinen geschehen heute Dinge auf den Arbeitsplätzen, die ein Jahr zuvor noch ausgeschlossen waren.

Ein Genosse erzählte mir von einem Rüstungsbetrieb in Groß-Berlin, wo 5000 Arbeiter tätig sind und wo er vor Hitlers Machtübernahme arbeitete. Nach dem Zusammenbruch der alten Arbeiterbewegung waren die Arbeiter völlig entmutigt und sahen kein Ende der neuen Sklaverei. Ein scharfes Kontrollsystem wurde eingeführt. Je zehn Mann unterstanden einem bewaffneten Aufseher; um zur Toilette zu gehen musste eine Karte geholt werden, während an besagtem Platze zwei Bewaffnete Wacht hielten. 74 Stunden wurde in der Woche gearbeitet, lediglich alle 4 Wochen gab es einen freien Sonntag. Noch bis vor einem Jahr wurden die Arbeiter terrorisiert, dann aber „akklimatisierten“ sie sich. Heutigentags kommen sie mit ihren alten Reichsbanner-, Eiserne-Front-, oder Antifa-Hemden zur Arbeit. Wenn ein Aufseher dagegen protestiert, sagen sie: „Heil Hitler! Kauf mir ein anderes.“ Niemand fürchtet mehr die „Jungens mit dem Revolver“. Die Arbeiter besprechen ziemlich offen während der Mahlzeiten die Probleme, die sie interessieren und bewegen sich so wie früher. Die Kontrolle ist machtlos; das gesamte Personal ist rebellisch und scheint zu glauben, dass es bestimmt noch eine völlige Umkehr der Dinge erleben wird.

Es ist sehr gut möglich, dass die Regierung wieder zu terroristischen Maßnahmen greifen wird, um solchem Zustand ein Ende zu setzen. Aber dann wird sie bestimmt nicht mehr die ohnmächtige Angst von vordem hervorrufen, sondern auf die wachsende Feindschaft der Arbeiter stoßen. Der Regierung gelang es nicht, die Betriebe zu erobern; sie kann die Arbeiter nur noch zu ihren erbitterten Feinden machen.

Der ausländische Tourist sieht von den wirklichen Zuständen nichts. Er kann die wirkliche Einstellung der Arbeiter nicht ergründen, sondern bestenfalls Zeuge sein von Äußerungen der Unzufriedenheit der kleinen Geschäftsleute oder der Bauern. Diese waren erst blinde Folglinge Hitlers; heute, gedrückt vom andauernden Elend, verfluchen sie öffentlich den jetzigen Zustand. Andererseits sieht er wenig von der Intensität der deutschen Rüstung, obwohl Paraden und Fliegerübungen zur gewöhnlichen Tageserscheinung gehören.

Wenn irgend möglich, werden solche Dinge geheim gehalten. Von bestimmten Zentren spannt sich das Netz der Rüstungsindustrie über das ganze Land. Die einzelnen Betriebe verfertigen Einzelteile, deren Bestimmung den Belegschaften unbekannt ist. Draußen trägt so ein Betrieb einen harmlosen Namen, z.B. Hansa Ketten Fabrik; drinnen wird Munition verfertigt. Das Personal solcher Fabrik, worunter sich vielfach 15-jährige Mädels befinden, ist zur Geheimhaltung verpflichtet. Jeder Einzelne musste einen Revers unterschreiben, worin unter anderem eine Bestimmung aufgenommen ist, die für „Verrat“ die Todesstrafe vorsieht.

Die neuen Munitionsfabriken gleichen wahren Gärten. In den Innenhöfen befinden sich Blumenbeete, die Dächer sind mit Grünanlagen versehen. Gartenanlagen erhöhen die Arbeitsfreude, bilden eine ausgezeichnete Maskierung gegen Fliegerangriffe böser, missgünstiger Nachbarn, die Deutschland nicht in Ruhe bewaffnen lassen wollen. Um völlig verdeckt arbeiten zu können, sind diese Fabriken so ausgebaut, dass nachts keinerlei Licht nach außen scheint.

Krupp baut jetzt neue Fabriken in Norddeutschland, die den Eindruck harmloser Schuppen machen; die wirklichen Arbeiten werden an bombensicheren unterirdischen Arbeitsplätzen verrichtet.

Was Spanien betrifft, so ist die Berichterstattung der deutschen Blätter so einheitlich pro-faschistisch, dass ich später sehr erstaunt war, als ich in ausländischen Zeitungen vom mutigen Standhalten der Volksfront las. Diese Isolierung kommt zum Ausdruck in der völligen Passivität der deutschen Arbeiter gegenüber den spanischen Kämpfen, aber im selben Maße sind sie passiv gegenüber dem deutschen Nationalismus.

Es bleibt noch die Frage nach der Form der neuen deutschen Arbeiterbewegung zu beantworten. Bis jetzt ist noch nichts von ihr wahrzunehmen. Nur ihre Basis ist vorhanden, gleichgültig, wie lange und schmerzvoll die Entwicklung sein wird. Neben der kleinen Anzahl namenloser Illegalen, die die dünnen Drähte ihrer Verbindungen gegen die überwältigende Macht des Terrors, der Gewalt und der Lüge in Stand zu halten trachten, während sie noch kaum passende Formen und Methoden für ihre Arbeit gefunden haben; neben diesen zersplitterten Gruppen, die keine bestimmte Bewegung bilden, beginnt sich jetzt die Arbeitermasse zu bewegen. Die Arbeiter sind nicht mehr willen- und gefühllos, wie in den ersten Jahren der Diktatur. Sie sammeln sich für die ersten, bescheidenen Solidaritätsaktionen gegen das Hitlerregime.

Die Arbeiterschaft ist nicht im Netz der Propaganda gefangen. Sie trachtet sich selbst wiederzufinden, die schwierige Lage zu begreifen und die Grundlage für den Kampf zu schaffen. Die Einheit, nicht nur des Widerstandes, nicht nur gegen die wachsende Ausbeutung, sondern gegen die ganze verdorbene Sphäre der lügenhaften und terroristischen Hitlerdiktatur.


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Compiled by Vico, 6 December 2020