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Antonie Pannekoek Archives

Rätekorrespondenz

Quelle: a.a.a.p.


Rätekorrespondenz

Internationale Rätekorrespondenz 1934-1937 / Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland). – Transkribiert und herausgegeben für Rätekommunismus ; Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek, Dezember 2020, 504 S., € 13,16, ISBN 979-8551636052


Vom Okzident zum Orient, 1934


Quelle:  Vom Okzident zum Orient. – In: Internationale Rätekorrespondenz : Theoretisches und Diskussionsorgan für die Rätebewegung.  – Ausg[abe]. der Gruppe Int[ernationaler]. Kommunisten, Holland. – 1934, Nr. 5 (Oktober); Quelle der Transkription: Rätekommunismus , Dezember 2020, Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek.


Die ganze Unsicherheit der europäischen Lage geht hervor aus den wechselnden Aspekten von Pakten und Allianzen. Kaum sieht es so aus, als ob eine gewisse Klärung erfolgt sei, so verschieben sich schon wieder die Verbindungslinien. Schien es Herrn Barthou vor wenigen Wochen gelungen, die Donau- und Balkanstaaten einander näher zu bringen und in die Linie der französischen Politik einzuordnen, so droht jetzt wieder ein Auseinanderfall in Mittel- und Osteuropa, der von größter Tragweite sein kann. Man kann hier geradezu von einem „Stichtag“ sprechen und der ist der 25. Juli, der Tag des Naziputsches in Österreich. An sich war der Aufmarsch der italienischen Truppen an der österreichischen Grenze die richtige und zweckmäßige Methode, Hitler-Deutschland Halt zu gebieten, eine „vollendete Tatsache“ zu verhindern, die unter Umständen den Kriegshebel unmittelbar ausgelöst hätte. Frankreich hat, vielleicht von England gehemmt, sicher auch, um Mussolini nicht zu verprellen, das italienische Protektorat über Österreich, um das es sich praktisch handelt, stillschweigend sanktioniert. Nun mag Jugoslawien noch so sehr Gegner des Anschlusses sein, die Gleichschaltung Österreich-Ungarns mit Italien muss ihm wesentlich gefahrvoller erscheinen. Österreich-Ungarn statt Albanien als italienisches „Schutzgebiet“ in der Flanke - das ist ein schlechter Tausch. Und eine Wiedereinsetzung des Habsburger Otto als italienischem Strohmann macht die Sache nicht besser. Im Gegenteil: Der monarchistische Mythos würde sicherlich in den Dienst der ungarischen „Revolution“ gestellt, bliebe nicht ohne starke Anziehungskraft auf die katholische Bevölkerung Kroatiens und Slawoniens. Sie wäre um so stärker, als gerade aus diesen klerikalen Gründen der Vatikan dem italienisch-österreichisch-ungarischen Block seinen Segen gibt. Das hat zwar wenig mit Religion zu tun, am wenigsten mit der Religion des Friedens, aber sehr viel mit Kirchenpolitik. Es geschieht also keineswegs aus besonderer Neigung Jugoslawiens zu Hitlerdeutschland, dass es sich diesem nähert, und die mühsam geförderte Einigkeit auf dem Balkan wieder in die Brüche geht, die kleine Entente gar zerschlagen zu werden droht. Das gehört ja zu Mussolinis politischen Zielen und es darf nicht übersehen werden, dass dabei für die Tschechoslowakei der Anschluss das Bedrohlichere ist, so dass dieses Land eine Verständigung mit Italien erstrebt, mit dem Italien, das jetzt im schärfsten Gegensatz zu Hitlerdeutschland steht.

Es können in der gebotenen Kürze die verschiedenartigen Kombinationsmöglichkeiten, die vielleicht Italien wieder an Hitlers Seite treiben können, nicht ausgesponnen werden; zu erklären ist aber Frankreichs zögernde Haltung. Sein Ziel, dem es vieles zu opfern bereit ist, ist, Mussolini fest an seinen Kreis zu fesseln. Es scheint bereit, die von Mussolini beanspruchte Grenzregulierung in Afrika zu bewilligen; die zum französischen Tschad-Gebiet gehörenden Landstriche von Tibesti, Borkou und Ennedi Italien zu konzedieren, ja man spricht davon, dass Frankreich nicht abgeneigt sei, der Suggestion Englands zu folgen und Italien zu einem Protektorat über Abessinien zu verhelfen oder wenigstens solcher Entwicklung zuzusehen. Und hier ist wieder ein Beispiel dafür, dass Orient und Okzident nicht mehr zu trennen sind. Denn in Abessinien hat Japan durch seine Handelspolitik, unterstützt durch dynastische Heiratspolitik, Fuß gefasst. In Abessinien aber liegt der Tanasee, das Ursprungsgebiet des blauen Nils. Was der Nil und die Bewässerungsregulierung für England und seine Bauwollindustrie, bzw. den Baumwollmarkt bedeutet, ist bekannt. Wichtig ist zu wissen, dass die Techniker es als leichte Aufgabe erklären, den Spiegel des Tanasees zu heben, um durch zweckmäßige Bewässerung eine blühende Baumwollkultur in Abessinien zu erzeugen, und dass dieses Königreich über bedeutende Naturschätze wie Kaffee, Rizinus und unerschlossene Reichtümer unter Tage verfügt. Schon 1928 haben die u.s.a. 20 Mill. Dollar für das Verfügungsrecht über den Tanasee geboten; die Krise hat dann einen Strich durch die Rechnung und Verhandlungen gemacht. Es braucht kaum ausgeführt zu werden, dass Italien als Herr über den Tanasee nach der britischen Pfeife zu tanzen hätte. So hat also England diesmal ein weitergehendes Interesse an einer Verständigung zwischen Italien und Frankreich. Und das wiederum erklärt, wenigstens zum Teil, die besonders strenge Haltung der englischen Presse gegen das Hitlerreich. Die Frage ist, ob die Regierung Doumergue-Bartheu, so wie es ihr die Rechtspresse suggeriert, als Kaufpreis für das Desinteressement an dem abessinischen Geschäft und für die Grenzregulierungen eine Anpassung Italiens an die französische Linie auf dem kontinentaleuropäischen Plan fordert, was jedoch für Mussolini einen Verzicht bedeutet, der ihm sehr schwer fallen muss.

Es soll weiter nur angedeutet werden, wie sich Interessen und Interessengegensätze dauernd verwirren und verknäulen und in Wahrheit die ganze nationale politische Autarkie, von der wirtschaftlichen ganz zu schweigen, ad absurdum führen, immer wieder die Welt als Schauplatz sich bekämpfenden Imperialismen oder Asperiationen der Kleineren, und als künftigen Kriegsschauplatz zeigen. Die Gefällslienen [?] der italienischen Politik sowohl nach dem Balkan wie nach Afrika-Asien hin, die im wesentlichen zugleich die Englands sind, haben die Türkei und Persien aufgestört und zu engerem Anschluss an Russland bewogen. Zugleich wirbt Japan energisch und nicht ohne Erfolg in diesen und in einer Reihe anderer Staaten und Länder. Die Politik Italiens wird, wie Francesco Coppola in der „Gazetta del Popolo“ auseinandersetzt, durch drei wichtige Faktoren bestimmt: 1. Die Opposition gegen den Anschluss, 2. die Opposition gegen die Donauföderation, und 3. die Opposition gegen die panslawistische Expansion Russlands; seine Einflussnahme auf die Völker des Balkans, die Nachbarn Italiens. Und hier finden sich wieder Berührungspunkte zur schwankenden Haltung Polens. Wir sagen schwankend, weil sie uns endgültig noch nicht entschieden scheint, trotz aller Meldungen auch der wohlinformierten französischen Rechtspresse von einem deutsch-polnischen Geheimbündnis. Aber kein Zweifel; die Abneigung gegen ein Ostlocarno, dessen fragwürdigen Wert es mit der Wirkung des „richtigen“ Locarno begründet, die Furcht, gerade dadurch sein Staatsgebiet zum Kriegsschauplatz im Gefolge eines Angriffs Deutschlands werden zu sehen, die Angst um den Besitz Wilnas – das sind, außer der Abneigung gegen das bolschewistische Russland, vielleicht auch der Hoffnung auf ein Stück der Ukraine und den ungestörten Besitz des Korridors, einige der Gründe, die die eifersüchtige „Großmacht“ Polens zu einer Sonderpolitik an der Seite Hitlerdeutschlands bestimmen.

Inzwischen betreibt Frankreich eifrigst die Aufnahme Russlands in den Völkerbund und wird damit aller Wahrscheinlichkeit nach auch Erfolg haben. Schwerlich wird sich Japan dadurch imponieren lassen, wenn es entschlossen wäre, den Krieg gegen Russland zu versuchen. Gute Kenner Ostasiens und speziell Japans glauben jedoch versichern zu können, dass je stärker die Worte, um so geringer die Wahrscheinlichkeit der Aktion. Tatsächlich wären Herbst und Winter für die Japaner die wenigst günstige Jahreszeit zum Kriegsbeginn, und sie sind wohl so klug, die Wirkungen der Missernte auf Russlands Kriegsfähigkeit zu überschätzen. Verlockend für die Hinausschiebung des Kriegstermins – am Kriegswillen ist bei den „Preußen des Ostens“ so wenig zu zweifeln wie bei den echten Preußen – dürfte auch die Möglichkeit sein, die japanische Stellung in Asien durch Zusammenspiel mit Tschiang-Kai-Scheck, dem Nankinger Diktator, zu festigen. Die Regierung von Nanking, also Tschiang-Kai-Scheck, ist bereit, die Hilfe gegen die Rote Armee in Fukien gut zu bezahlen. Wiederaufnahme des Bahnverkehrs zwischen Peiping und Mukden, Errichtung von Zollstationen an der Großen Mauer, bevorstehende Aufhebung der postalischen Verkehrsverbote mit Mandschukuo bedeuten im Grunde nichts anderes als die indirekte, stillschweigende Anerkennung des japanischen Marionettenstaates. Der Tatsache mag vielleicht bald das „Recht“ folgen.


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Compiled by Vico, 29 November 2020