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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Theorien über kapitalistischer Krisen und Imperialismus


Die Krisen und der Sozialismus / Anton Pannekoek, 1913


Quelle:  Die Krisen und der Sozialismus / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 285, 26. Juli 1913; abgedruckt in: Bremer Bürgerzeitung, 26. Juli 1913, und in: Leipziger Volkszeitung, 26. Juli 1913.


Unter den vielen Erscheinungen des Kapitalismus treten wohl die wirtschaftlichen Krisen als diejenigen hervor, die am meisten die Eigenart dieser Produktionsweise bestimmen und ihr einen besonderen Charakter geben. Daher sind die Krisen auch für den Sozialismus im höchsten Grade wichtig. Und zwar in zweierlei Hinsicht. Sowie der Sozialismus die theoretische Kritik des kapitalismus mit dem praktischen Klassenkampf zur Überwindung des Kapitalismus vereinigt, so treten auch in den Krisen diese beiden Seiten auf; sie bieten eine Handhabe zur theoretischen Kritik des Kapitalismus, und sie beeinflussen aufs tiefste die Arbeiterbewegung, die den Kapitalismus besiegen muß.

Gäbe es keine Krisen, so wären die theoretische Kritik des Kapitalismus viel weniger schlagend und wuchtig. Gewiß würde dann noch immer die Ausbeutung Grund genug zur Kritik und zum Kampf bieten, aber diese Kritik trüge dann einen ganz anderen Charakter. Sie drückte nur eine subjektive Stellungnahme der Arbeiter aus, der eine entgegengesetzte Stellungnahme der Bourgeoisie gegenüberstände. Wenn es in einer Gesellschaftsordnung irgend eine Gruppe schlecht geht, so ist sie unzufrieden; diejenigen, denen es gut geht, sind zufrieden. Natürlich bleibt dabei die Unzufriedenheit der Arbeiter vollkommen berechtigt, wie auch ihr Streben, diese Ordnung zu beseitigen. Aber ebenso berechtigt wäre die Zufriedenheit der Bourgeoisie, die diese Ordnung verteitigt; sie sagt: daß die weniger Geschickten und Tùchtigen, die gescheitert sind, ùber eine Ordnung schimpfen, die die Tùchtigen emporsteigen läßt, beweist nichts gegen diese Ordnung. Da der Standpunkt jeder Klasse nur ihre eigene Lage ausdrückt, kann keiner von beiden gegen den anderen als objektive unabhängige Wahtheit gelten.

Diese Sachlage ändert sich völlig durch das Auftreten der Krisen. In ihnen treten die inneren Mängel des Kapitalismus als ein zweifellos nachweisbares Über hervor, das jeder anerkennen muß. Die Krisen decken einen inneren Widerspruch in seinem Wesen auf, eine Widersinnigkeit, die als objektive Tatsache nichts mit subjektiven Meinungen, nichts mit Zufriedenheit oder Unzufriedenheit zu tun hat.

„In der Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche alle früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt: eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben, die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zu viel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industie, zu viel Handel besitzt“.

In diesen Worten drückte das Kommunistische Manifest den Widersinn aus, daß im Kapitalismus der Überfluß doch Hunger und Not mit sich bringt. Es ist nur allzu begreiflich, das die Krisen in der sozialistischen Kritik des Kapitalismus von Anfang an eine erste Rolle spielten. Hier hatte man ein objektives Merkmal der Unhaltbarkeit der bestehenden Ordnung; sie ist nicht bloß für die Arbeitermassen schädlich, sondern sie ist noch dazu innerlich widersinnig. Die Arbeiter, die sie beseitigen wollen, können sich auf noch mehr und bessere Gründe berufren, als auf die Unzufriedenheit mit der eigenen Lage; sie beseitigen damit eine Ordnung, die durch ihre eigenen Widersprüche unhaltbar und dem Untergange geweiht ist.

Es bot die Erscheinung der Krisen, in der das wahre widerspruchsvolle Wesen des Kapitalismus als unbestreitbare objektive Tatsache hervortritt, den Sozialisten die schärfsten Waffen fùr ihre Kritik des Kapitalismus – in dem kommunistischen Manifest und dem Anti-Dühring zeigt sich, wie sehr Marx und Engels ihre theoretische Bedeutung einschätzten. Aber diese Bedeutung beschränkt sich nicht auf die Feststellung, daß der kapitalismus widerspruchsvoll ist; die Erklärung der Krisen deckt zugleich auch die Ursache des Widerspruchs auf und zeigt den Weg, ihn zu beseitigen. Die eine Seite der Krise ist die Überproduktion; in ihr tritt die Fähigkeit des Kapitalismus hervor, die Produktion rasch und fast maßlos zu steigern. Die Produktivkräfte, über die die Menschheit verfügt, sind unter dem Kapitalismus ungeheuer gewachsen: mit unseren technischen Hilfsmitteln und unserem Vermögen, in kürzer Zeit die Zahl der Maschinen, der Fabriken, der Werkstätten beliebig zu vermehren, wäre es eine leichtes, für die ganze Menschheit Überfluß zu schaffen. Diese wunderbare Expansionskraft der Produktion, die uns die Möglichkeit einer Wirtschaftsordnung ohne Not und Armut sichert, tritt in dem Aufschwung der Konjunktur während der Prosperität hervor. Weshalb endet dieser Aufschwung aber immer mit einer Krise? Weil nicht der wirkliche Bedarf, sondern die kaufkräftige Nachfrage den Absatz bestimmt; weil Kapitalprofit die bestimmende Kraft und der Regulator der Produktion ist, so daß bei nicht genügend rascher Erweiterung der Kaufkraft und bei der daraus folgenden Verringerung der Profite die Produktion eingeschränkt und damit das ganze Gebäude der Hochkonjunktur zusammenbricht.

Darin liegt also der Widerspruch, der in den Krisen zutage tritt, daß die ungeheuren Produktionskräfte über die die Menschheit verfügt, in den Dienst des Privatprofits gestellt werden. Statt dem großen Ziel der Befriedigung aller menschlichen Bedürfnisse zu dienen, wird die persönliche Gewinnsucht ihr Lenker, und sie werden brach gelegt, wenn kein genügender Profit die Kapitalisten lockt. Die Produktivkräfte sind zu groß, zu gewaltig geworden für das auf kleine beschränkte Verhältnisse zugeschnittene Privateigentum. In den Kapitalismus steht das großartig gestiegene Produktionsvermogen der Menschheit im Widerspruch zu der alten Eigentumsform. Da die Produktivkräfte nicht aufzugeben und zu vernichten sind, besteht die einzig mögliche Lösung des Widerspruchs darin, daß ihre Fessel, das Privateigentum, gesprengt wird. Damit tritt der Sozialismus an die Stelle des Kapitalismus.

So bieten die Krisen, weil sie das innere theoretische Begründung der Notwendigkeit des Sozialismus. Aber mit theoretische Beweisführungen läßt sich eine Wirtschaftsordnung nicht beseitigen; dazu ist eine materielle Macht nötig, die Macht einer Klasse, die gegen sie kämpft. Die Arbeiterklasse bekämpft den Kapitalismus nicht wegen theoretischer Mängel, sondern weil die Ausbeutung für sie unerträglich ist; nehmen da nun unter den Kräften, die sie zur Revolution anstacheln, auch die Krisen eine einigermaßen bedeutende Stelle ein?

Das muß schon deshalb der Fall sein, weil Theorie und Praxis aufs engste zusammenhangen. Die Theorie des Kapitalismus ist nur der Ausdruck der Lebenserfahrung des Proletariats; jede Erscheinung, die Anlaß zu einer schwerwiegenden Kritik des Kapitalismus gibt, muß zugleich von den Massen als ein schwerer Übelstand empfunden werden. Die Krisen gehören in der Tat für das Proletariaat zu den schlimmsten Übelstanden der heutigen Wirtschaftsordnung; sie werfen die Arbeiter massenhaft aufs Pflaster, lassen die Arbeitslosigkeit stark schwellen und drücken damit auch die Löhne herunter. In Zeiten der schlechten Konjunktur gehen oft die in der Prosperität erwarbenen Vorteile wieder verloren; oft gelingt es den Gewerkschaften nur mit großer Mühe, die Löhne aufrecht zu erhalten, und so bilden die Krisen das schlimmste Hindernis für ein regelmäßiges kräftiges Aufsteigen der Lebensverhältnisse der Arbeiter.

Daher steckt in den Krisen eine stark revolutionierende Wirkung. Wäre der Wechsel von Prosperität und Krise nicht da, so würde eine jetzt unbekannte Festigkeit in den Arbeitsverhältnissen bestehen. Man könnte zwar arbeitslos werden, aber in der Regel rasch wieder Arbeit finden, wenigstens wenn man zu den jungen, kräftigen, tüchtigen Arbeitern gehörte. Die Ausbeutung würde zwar zum Kampfe, die Armut zum Streben nach Verbesserung treiben, aber die Unzufriedenheit würde meht den Charakter einer bleibenden Unbehaglichkeit als einer scharfen Empörung annehmen. Unter der Beständigkeit der Verhältnisse würde ein verknöchterter Konservatismus den Geist der Klassen beherrschen. Wenn sich aber hier und da derartiges entwickelt, wird es von den Krisen umgestürzt. Der Wechsel von Prosperität und Krise bringt eine allgemeine Unsicherheit mit sich; jeder muß damit rechnen, daß er heute plötzlich die beste Arbeitsgelegenheit hat und in einem Jahre mit zahllosen Kollegen monatelang arbeitslos herumwandern muß. Die Krise rüttelt sie auf und läßt kein Gefuhl der Ruhe und Sicherheit aufkommen; der Wechsel der Konjunktur treibt den Geist zum Nachdenken und revolutioniert die Köpfe. So tragen gerade die Krisen in hohem Maße dazu bei, die Arbeiterbewegung revolutionär zu machen und revolutionär zu erhalten. Darin liegt ihre große Bedeutung für die Praxis des Sozialismus.

ap.


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Compiled by Vico, 23 July 2020