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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Religion - Weltanschauung


Weltanschauung


Quelle:  Weltanschauung / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 174, 3. Juni 1911


Der Sozialismus ist nicht nur eine politische Bewegung zur Einführung einer neuen Produktionsweise. Er kann die Welt nicht in ihren tiefsten Grundlagen umwälzen, ohne zugleich auch den Geist der Menschen völlig umzuwälzen. Er greift daher in alle Wissensgebiete ein, er tritt mit allen Wissenschaften in Berührung. Er führt zu einer, allem früheren entgegengesetzten Auffassung der Welt, er nimmt zu allen wichtigen Lebensfragen, die bisher das Objekt der Religion und Philosophie bildeten, in neuer Weise Stellung. Daher bildet er eine ganz neue Weltanschauung.

Von dem Augenblick an, dass die Menschen sich selbst als denkende Wesen bewusst wurden, suchten sie ihre Welt zu verstehen. Sie fanden sich ohne ihr eigenes Zutun in diese Welt versetzt, ohne dass sie wussten, weshalb und woher. Was war diese Welt, woher kam sie? Woher kamen sie selbst, und wozu waren sie da? Sie empfanden Schmerz und Freude, Glück und Unglück, und als bewusste Wesen grübelten sie darüber nach, weshalb das alles da war. Woher dieser Wechsel des Lebens, den man das Schicksal nannte; woher und wozu der Kampf und die wütende Feindschaft, womit die Menschen einander ins Verderben stürzten? Und dann kam der Tod; war er das Ende alles Daseins? Alle diese Fragen mussten bei den Menschen aufkommen, sobald sie ihre Welt denkend zu erfassen suchten. Die Philosophen grübelten darüber und erfanden Systeme; während sie die Antwort verstandesmäßig zu ergründen suchten, drückte sich in der Religion die Auffassungsweise der Massen in gläubig-dogmatischer Form aus.

Ein Teil dieser Fragen, diejenigen, die sich auf die Naturerscheinungen bezogen, schied allmählich aus, weil die wissenschaftliche Forschung den Weg zeigt, sie zweifelsfrei zu lösen. Aber die Probleme des Menschenlebens blieben. Diese sind aber für den Menschen die allerwichtigsten; sie berühren ihn am unmittelbarsten; die umgebende Welt ist für die Menschen in erster Linie die Menschenwelt, die menschliche Gesellschaft. Und da der Grundcharakter der Gesellschaft, trotz des Wechsels der äußerer Formen, durch alle Jahrhunderte derselbe war, Klassenherrschaft und Not, Ausbeutung und Kampf ums Dasein, musste auch die Weltanschauung, trotz wechselnder Formen, in großen Zügen dabei die gleiche bleiben. Wir kennen sie als die bürgerliche Weltanschauung, die der Denkweise der bürgerlichen Klassen entspricht, offiziell als die einzig natürliche und selbstverständliche Anschauungsweise gilt und uns allen von Jugend an eingeprägt wurde. Nach dieser Anschauung waltet eine höhere Macht über den Menschen, die selbst nicht Meister über ihr Schicksal sind. In den Menschen leben erhabene sittliche Triebe und zugleich gewaltige Leidenschaften, vor allem der Trieb der Selbsterhaltung, und aus ihrer Kollision wachsen Glück und Unglück, Elend und Not, Verbrechen und Feindschaft empor. Da sie in der menschlichen Natur wurzeln, sind ihre Wirkungen natürlich auch unausrottbar. Die Welt ist böse; jeder kann versuchen, sich durch Anstrengung aller Kräfte möglichst viel Glück zu erobern. Aber eine bessere Welt muss hier auf Erden ein Traum bleiben. Und was der Sinn des Lebens ist, wozu das Menschenleben mit all seinem Leid dient, bleibt eine ungelöste Frage, über die die Philosophen sich vergebens das Gehirn zermartern.

Während diese aber in den Wolkenregionen grübelten, lebt und litt in der Tiefe die arbeitende Masse. Der Kapitalismus hatte den Druck auf die Massen immer schwerer gemacht, und in dumpfem Groll lehnten sie sich gegen die Ausbeutung auf. Ein neuer Ton klang aus diesen Tiefen empor, der Ton der scharfen Kritik an der materiellen Grundlage der Gesellschaft; und diese Kritik wuchs zu der Forderung, zu dem Ideal einer neuen Gesellschaftsordnung ohne Ausbeutung empor. Musste schon der Gedanke und die bloße Möglichkeit einer Gesellschaftsform, die weder Armut und Not noch Krieg und Wettbewerb, sondern nur brüderliches Zusammenarbeiten kennt, eine völlig andere Auffassung der Welt mit sich bringen, so konnte diese neue Weltanschauung doch erst durch die sozialistische Wissenschaft eine feste Grundlage bekommen. Der wissenschaftliche Sozialismus legt mit unanfechtbarer Sicherheit dar, dass die aufblühende Hoffnung der Ausgebeuteten keine Selbsttäuschung war, dass ihre Knechtschaft nicht immer und in derselben Form gestanden hatte und nur ein vorübergehendes Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung war. Die Sicherheit der neuen Produktionsweise und die wissenschaftliche Erklärung der alten Gesellschaftsform sind nur zwei Seiten desselben theoretischen Sozialismus, der eine völlige Umwälzung der Weltanschauung bedeutet. Wenn auch die neue Welt noch nicht verwirklicht ist, so muss doch schon die Einsicht, dass sie kommen wird, dass die alte Welt untergeht und mit ihr all ihr Druck und ihr Elend, eine ganz andere Stellung zu allen großen Lebensfragen mit sich bringen.

Der Sozialismus ist die neue Weltanschauung des Proletariats; er ist die Philosophie der Arbeit. Nur die Arbeiterklasse, deren ganzes Leben Arbeit ist, ist imstande, die Arbeit und in ihr den Sinn des Lebens zu verstehen. Denn Arbeit ist der Sinn, die Wurzel, der tiefste Kern des Menschenlebens. Daher waren die Ideologen und Philosophen der Bourgeoisie nie imstande, das Leben zu begreifen, weil sie fern von der Arbeit leben und in Wolkenregionen diese materielle Grundlage der Welt nicht erkannten. Die Arbeit bildet das Band zwischen Mensch und Natur; die stetige Vervollkommnung der Technik, die Entwicklung der Arbeitsinstrumente, der Ausdruck der wachsenden Herrschaft über die Natur ist die Basis aller gesellschaftlichen Entwicklung. Solange die Arbeit noch nicht genügend entwickelt war, war Überfluss nur für wenige möglich; für die Masse war Armut, Dürftigkeit und Barbarei unvermeidlich, und der Kampf ums Leben musste die Form eines Kampfes der Menschen gegeneinander, die Form von Krieg, Raub und Ausbeutung annehmen. Doch das ist nur ein vorübergehender Zustand. Sind einmal Technik und Wissen hoch genug gestiegen, dann wird der Mensch aus einem schwachen Sklaven zum Meister der Natur, zum Gebieter der Welt, der die Quellen seines Lebens vollkommen in seiner Gewalt hat. Dann wird für ihn die Freiheit im menschlichen Sinne des Wortes zur Wirklichkeit, als bewusste Meisterschaft über die Natur vermittelst der Arbeit.

Die Arbeit bildet auch das Band zwischen den Menschen selbst; die Formen der Arbeit bestimmen die Form der Gesellschaft, das Verhältnis, worin die Menschen zueinander und zu der Gesellschaft stehen. Der gesellschaftliche Arbeitsprozess steht, solange es nicht wissenschaftlich erkannt ist, mächtig über dem Wollen und Streben jedes Einzelmenschen, der mit seiner Arbeit nur ein kleines Rädchen in dieser großen Maschinerie ist, ihren Gesetzen machtlos gegenübersteht und je nachdem von ihr emporgehoben oder zerschmettert wird. Das Band der Arbeit ist hier eine Fessel, eine Abhängigkeit der Menschen voneinander, die sich in wütenden Kämpfen zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten um den Ertrag der Arbeit und den Besitz der Produktionsmittel äußert. Mit dem Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie, mit der Durchführung des Sozialismus wird die Gesellschaft organisierte, zur höchsten Vollkommenheit entwickelte Arbeit zu einem wirklichen Band, das die Menschen umschlingt und ihre vereinte Massenkraft zum ersten Male in den Dienst der Weiterentwicklung unseres Geschlechts stellt. Gemeinsame Arbeit zum höchsten Glück aller Menschen, das ist Sinn und Ziel unseres Lebens.

So gibt der Sozialismus eine neue Antwort auf die alten Fragen. Welche Gewalt beherrscht übermächtig die Menschen? Die gesellschaftlichen Kräfte der Warenproduktion. Was bestimmt Glück und Unglück, Erfolg oder Untergang? Die Gesetze der Konkurrenz. Was ist das Schicksal? Die zufällige Bewegung des Einzelmenschen im Strom der gesellschaftlichen Entwicklung. Weshalb ist die Welt böse? Weil die Menschen ihren Lebensunterhalt noch nicht völlig in der Hand haben. Weshalb sind Elend und Leid unvermeidlich? Sie sind nicht unvermeidlich, der Sozialismus wird sie beseitigen. Weshalb ist der Mensch schwach und machtlos? Weil er nur ein Glied im großen Organismus der Gesellschaft bildet. Aber diese Gesellschaft sind die Menschen selbst; Wenn sie mittelst der Organisation nur erst eine geschlossene Einheit bilden, werden sie die Gesellschaft zu einer bewussten Macht in ihren Händen machen und durch die sozialistische Organisation der Arbeit ihr Schicksal selbst bestimmen. Und sogar Tod und Sterben, die als unabwendbares Leid im Mittelpunkte der alten religiösen Weltanschauungen stehen, verlieren ihren Schrecken, wenn der Mensch sich nicht mehr als isoliertes Einzelwesen sieht oder fühlt, dessen Dahinscheiden die Seinen mittellos und einsam zurücklässt, sondern als Mitglied einer bleibenden festen Brüderschaft, in der alle Einzelmenschen als vergängliche Mitglieder aufgehen.

So bildet der Sozialismus eine neue, reichere und menschlichere Weltanschauung, die aus den engen, stickigen Tiefen des Aberglaubens und der Verzweiflung auf die Höhen führt, von der man die ganze weite Welt in seinem mächtigen Dahinbrausen überblickt. Sie erfasst immer neue Scharen, erhebt ihren Geist, entflammt ihr Herz und wird in ihnen zu einer Macht, die sie kräftigt in dem Kampf für die neue Gesellschaft.

ap.


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