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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?


Massenaktionen / Anton Pannekoek, 1911


Quelle:  Massenaktionen / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 197, 11. November 1911


In der „Neuen Zeit“ hat Kautsky vor kurzem eine Reihe von Artikeln über die Aktion der Masse veröffentlicht, worin er untersucht, welche Rolle bisher Massenaktionen in der Geschichte spielten, und ob solche Aktionen auch für die Zukunft zu erwarten sind. Der Anlaß zu dieser Untersuchung ist zweifellos in der Tatsache zu finden, daß in den letzten Jahren Massenaktionen in der proletarischen Bewegung immer mehr hervortraten und daß in den Diskussionen immer mehr auf sie als neue taktische Waffe des Proletariats hingewiesen wurde. Daher muß von vornherein betont werden, daß dabei unter Massenaktion etwas anderes verstanden wurde als in diesen Artikeln. Kautsky behandelt ausdrücklich die Aktion unorganisierter Massen; er mußte das tun, weil in der bisherigen Geschichte die große Volksmasse immer unorganisiert war, sich nur für einen Augenblick durch einen gemeinsamen Willen zusammenstand und dann wieder zerfiel. Auch heute ist die große Masse noch unorganisiert; wer also an eine Aktion der gtanzen großen Volksmasse denkt, muß notwendig die Aktion unorganisierter Massen untersuchen. Wo aber in den Parteidiskussionen der letzten Zeit über Massenaktionen geredet wurde, handelte es sich immer um die Aktion organisierter Massen. Es handelte sich nicht darum, statt der kleinen Kerntruppe von Organisierten das ganze noch unorganisierte Volk ins Feld zu führen, sondern um eine neue Betätigungsweise des organisierten Massen.

Fragen, die die Parteidiskussionen lebhaft beschäftigen, sind nie abstrakte oder weit abliegende theoretische Fragten, sondern Fragen der unmittelbaren Praxis. Die Praxis des modernen Kapitalismus hat den organisierten klassenbewußten Arbeitern neue Ationsformen aufgezwungen. Bisher bestand ihre Praxis in den Wahlen, dem parlamentarischen Kampf ihrer Vertreter und dem gewerkschaftlichen Kampf um bessere Arbeitsbedingungen. Die imperialistische Entwicklung hat nicht nur das Wettrusten gesteigert, hohe Zölle, Verbrauchssteuern und Teuerung gebracht, die Macht des Unternehmertums und die Reaktion im Innern gestarkt, sie hat auch den Einfluß des Parlaments in hohem Maße verringert. Daher müssen die Massen den politischen Kampf schärfer aufnehmen, während zugleich die bisherige Methode, der Kampf im Parlament, wirkungsloser wurde. Sie mußten also selbst auf den Plan treten und ihre Stimme unmittelbar hören lassen. Der Kampf für das demokratische Wahlrecht, die Teuerung und die Kriegsgefahr bildeten nacheinander den Anlaß zu solchen Massenaktionen. Wenn wir also über Massenaktionen und deren Notwendigkeit reden, meinen wir damit nichts weiter, als eine politische Betätigung der organisierten Arbeiterschaft, wobei sie nicht durch Vertreter, sondern unmittelbar selbst auftritt.

Unsere Massenaktionen haben auch ein anderes Ziel und eine andere Wirkung als jene alten Volksbewegungen. Für die politische Revolution, für die Eroberung der Macht sind unsere Bataillone noch nicht stark genug; zunächst handelt es sich nur um die Kundgebung des proletarischen Willens, um ihn möglichst stark gegenüber den anderen mächtigen Kräften in der Gesellschaft zur Geltung zu bringen. Allerdings ist die Eroberung der Macht auch unser Endziel; aber wir wissen, daß sie nur durch eine organisierte, sozialistisch aufgeklärte Volksmehrheit möglich ist. Daher ist das unmittelbare Ziel aller Aktionen Steugerung unseren Macht; auch unsere Massenaktionen haben diese Wirkung, weite Kreise aufzurütteln, politisch aufzuklären und zur Organisation heranzuziehen; und damit wächst der Umfang der Masse in der Aktion. Das stetige Aufbauen unserer Organisationsmacht ist der Inhalt alles proletarischen Fortschreitens, das bleibende Resultat aller Kämpfe. Dadurch unterscheiden sich die heutigen Massenaktionen von der früheren; früher konnte die Volksmacht nicht sterig und sicher aufgebaut werden, sondern sie konnte sich nur in plötzlicdhen, gewaltsamen Erhebungen zeigen; die Massenaktionen mußten entweder das ganze Ziel erobern, oder sie scheiterten. Unsere Massenaktionen können nicht scheitern, weil wir über die Waffe der Organisation verfügen und dadurch die Volksmacht allmählich und unerschütterlich aufbauen können, bis zu den Grade, daß der Sieg über die Staatsgewalt der Bourgeoisie dem Zufall völlig entrückt ist.

Damit ist aber die Frage der Zukunft der Massenaktionen nicht gelöst. Denn Kautsky weist mit Recht darauf hin, daß die moderne Entwicklung des Kapitalismus ähnliche Situationen schafft, wie diejenigen, die früher spontane revolutionäre Volkserhebungen erzeugten. Die Geschichte wird nicht einfach darauf warten, bis wir durch unsere allmählich steigenden Massenaktionen die proletarisch Armee systematisch ausgebaut haben; er können unerträgliche Verhältnisse eintreten, wodurch plötzlich die ganze millionenköpfige Volksmasse gegen die Regierenden in den Kampf getrieben wird. Kautsky weist nach, daß der Parlamentarismus, anstatt solche Massenaktionen überflüssig zu machen, vielmehr est recht ihre Grundbedingungen verwirklicht, indem er die entlegensten Volkstreife zum politischen Kampf aufrüttelt. Unde Teuerung und Krieg, die beiden großen historischen Ursachen der Revolutionen, tauchen auch jetzt wieder als furchtbare Gespenster in nächster Nähe vor den Augen der erschreckten Volksmassen auf. Es ist daher nicht ausgeschlossen, daß sie das ganze Volk aufpeitschen, und ählich wie in früherer Zeit, gewaltige Aktionen der zumeist noch unorganisierten Massen herbeiführen.

Aber solche Aktionen der Masse werden sich doch erheblich von früheren Volksbewegungen unterscheiden. Daß heute starke Kerntruppen in der Gestalt der bestehenden Arbeiterorganisationen bestehen, die naturgemäß die Führung übernehmen, ist dabei noch nicht das Wesentliche, wenn es auch von großer Bedeutung ist. Das Wesentliche ist die ganz andere Klassenzusammensetzung der modernen Massen. Die alten Massen waren kleinbürgerlich; sie bestanden aus Handwerkern und Arbeitern im Kleinbetrieb, gelegentlich durch eine Aktion der Bauern ergänzt. Die heutigen Massen sind Arbeiter im Dienste des Großkapitals. Die Lebensverhältnisse einer Klasse bestimmen ihre Anschauungen, ihre Charakter und ihre Aktionsweise. Der Unterschied im Klassencharakter, der Gegensatz zwischen der kleinbürgerlichen und der proletarischen klassenpsychologie ist viel wesentlicher als der Unterschied, ob die Arbeiter jetzt – organisiert oder unorganisiert sind.

Wiederholt ist schon darauf hingewiesen, daß nicht alle Arbeiterschichten in demselbe Maße organisierbar sind. Und gerade die Arbeiter in den kapitalistisch höchst entwickelten und konzentriertesten Betrieben, in der kartellierten schweren Industrie, in dem Eisenbahnbetrieb, teilweise auch in den Bergwerken, stehen in der Organisation weit hi9nter denen der weniger konzentrierten Großindustrie zurück. Die Ursache liegt darin, daß die Macht des Kapitals ihnen gegenüber so ungeheuer groß und erdrückend auftritt, daß Widerstand auch mittels Organisation aussichtlos erscheint. Diese Massen sind in ihrem tiefsten Charakter so proletarisch wie keine andere; in der Schule der kapitalistischen Produktion haben sie eine instinktive Disziplin erlernt. Wo sie ein einziges Mal plötzlich in den Ausstand traten – ihre Kämpfe tragen den Charakter spontaner Rebellionen – da haben sie eine erstaunliche Solidarität und Disziplin gezeigt; in Amerika hat z.B. die unerschütterliche Festigkeit der unorganisierten Streikenden gegen die mächtigen Trusts die alten Gewerkschaftler nur zu oft beschämt. Sie haben natürlich nicht die Erfahrung, die politische Einsicht,die Ausdauer, die sie auch bei Niederlagen aufrecht erhalten und die nur aus der längeren Praxis hervorgeben können; daher sinken ihre gewaltigen Erhebungen of wieder rasch zusammen. Aber sie sind völlig verschieden von dem Individualismus des unorganisierten Kleinbürgertums; ihre Klassenlage bewirkt, daß sie blitzschnell die Lehren der Organisationen und des sozialistischen Klassenbewußtseins auffassen und anwenden werden. Jetzt sind die unorganisiert; sobald durch irgend ein Ereignis ihnen die Macht des Kapitals nicht mehr überwältigend und unantastbar erscheint, werden sie mit ins Feld rücken, und in den Massenaktionen vielleicht eine noch größere Rolle spielen, wie die Masse der jetzt Organisierten.

Geht damit der Gegensatz zwischen organisierten und unorganisierten Massen auf ein kleines Maß zurück, so ändert sich auch die Bedeutung der Organisation im Massenkampfe. Die bewußte Vorbereitung, die einheitliche Leitung und der Beamtenapparat, der die Erfolge festzuhalten hat, gehören zu den festen Vereinsformen, worin sich jetzt das Organisationsleben bestätigt. Diese Formen können im Kampfre zugrunde gehen; das Wesentliche aber, das bleibt, ist der Organisationsgeist, die Disziplin, die gleichsam instinktiv zum organisierten, geschlossenen Handeln führt und sich in jeder neuen Situation die Formen und Organe schafft, worin der Willen der Massen sich Ausdruck verschaffen kann. Dieser Organisationsgeist, der aus der proletarischen Klassenlage entspringt, der in dem ganzen modernen Proletariat schlummert und oft nur auf den richtigen Stoß wartet, gibt nicht nur unseren heutigen Massenaktionen, sondern auch den künftigen größeren Aktionen der Masse einen ganz neuen Charakter, der sie völlig von allen früheren Massenbewegungen unterscheidet.


Compiled by Vico, 2 September 2020