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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Arbeiterräte gegen die bürgerliche Demokratie (Parlamentarismus)


Der Verfall des Parlamentarismus


Quelle:  Der Verfall des Parlamentarismus / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 156, 28. Januar 1911 [BB-LV]


Vor einiger Zeit brachte die Parteipresse diese kurze Notiz aus Italien: „Die sozialdemokratische Fraktion im Parlament ist zur Opposition übergegangen“. Mehr nicht; eine ganz einfache Nachricht, ohne Kommentar, zwischen Dutzenden von anderen politischen Tagesberichten versteckt, als unterscheide sie sich kaum von allen anderen. Und doch sprechen diese einfachen Zeilen mehr als ganze Bücher; sie werfen ein grelles Schlaglicht auf die Entwicklung und den Verfall des Parlamentarismus. Man denke sich nur diese Notiz durch ähnliche ergänzt, und auf andere Länder ausgedehnt: Da hat die Fraktion gestern beschlossen, die Regierung zu unterstützen; dort hat sie einen festen Block mit anderen Parteien gebildet; ein Jahr später tritt sie aus dem Block, weil eine Regierungsvorlage sie enttäuscht hat usw. Man hat hier eine bestimmte politische Methode vor sich, die Methode des grundsatzlosen Opportunismus, die reformistische oder revisionistische Taktik.

Dass diese Taktik in dem letzten Jahrzehnt in allen Ländern mit mehr oder weniger Entschiedenheit aufgetreten ist, beweist, dass sie nicht in den zufälligen Anschauungen führender Politiker und auch nicht in der zufälligen jeweiligen politischen Lage des Augenblicks wurzelt. Diese Entwicklung des Parlamentarismus in der Arbeiterbewegung wird durch allgemeine Ursachen bestimmt.

Deutschland hat dem Proletariat aller Länder das Beispiel gegeben, in welcher Weise der Parlamentarismus als mächtige Waffe in dem Befreiungskampf der Arbeiter zu gebrauchen und auszunutzen ist. Allerdings musste diese Waffe erst die Feuerprobe des Sozialistengesetzes bestehen, womit die herrschende Klasse sie zu brechen versuchte. Als sie aber siegreich, unversehrt und kräftiger als zuvor aus diesem Kampfe hervorgetreten war, beeilten sich die Arbeiter aller Länder, sie auch anzuwenden, und mit jubelnder Begeisterung griffen sie die neue Methode auf. Die neunziger Jahre bilden die schönste Blütezeit des Parlamentarismus; überall, in Frankreich, Italien, Holland, Belgien, drangen sozialistischer Vertreter in die Parlamentarischen Körperschaften ein und machten sie durch prinzipielle Stellungnahme zu allen Fragen zu einer Quelle der sozialistische Aufklärung der Massen. Wo kein allgemeines Wahlrecht bestand, wurde eine lebhaften Agitation dafür entfaltet, die oft durch schöne Erfolge gekrönt wurde, während zugleich Sozialreformen zustande kamen, die den Forderungen der Arbeiter einigermaßen entgegenkamen. Damit war aber der Höhepunkt der Entwicklung erreicht. Das nächste Jahrzehnt brachte zwar noch eine ständige Zunahme der sozialistischen Parlamentarier und Wähler, aber zugleich traten Blockpolitik, Ministerialismus und andere Formen des Reformismus an die Stelle des scharfen prinzipiellen Kampfes gegen die ganze bürgerliche Welt. Dieselben führenden Politiker, die früher durch ihren mustergültigen Kampf die sozialistischen Erzieher der Massen gewesen waren, schwenkten jetzt in die Bahnen der Kompromisspolitik ab. Von diesem inneren Verfall, der das äußere Wachstum begleitet, bietet die oben erwähnte Zeitungsnotiz ein Symptom: dass die sozialistische Fraktion nicht naturgemäß zu der bürgerlichen Regierung in Opposition steht, sondern zuerst Regierungspartei ist und dann, als die Regierung sie enttäuscht, in die Opposition geht, wird jetzt immer mehr als etwas unabänderliches und natürliches hingenommen.

Die Ursache dieser Entwicklung liegt in der Natur des Parlamentarismus selbst. Mag auch der Kampf und die Agitation für den Sozialismus seine Grundlage sein, so besteht doch seine Praxis in der Behandlung der politischen Tagesfragen. Darin liegt auch gerade seine Kraft. Solange der Sozialismus bloß als die Lehre einer Sekte, als eine abstrakte Theorie oder ein utopischer Traum erscheint, bleibt er den Massen fern und fremdartig. Sobald er aber als proletarische Stellungnahme zu allen Fragen der unmittelbaren Praxis erscheint und überall den Standpunkt und das Interesse der Arbeiterklasse gegen die besitzenden Klassen verteidigt, wird der Sozialismus für diese Massen greifbar, gemeinverständlich und praktisch. Aus einer Zukunftsfrage wird er zu einer Gegenwartsfrage. Und zugleich wird er jetzt überall gehört, wo Interesse für politische Fragen besteht. Dadurch macht der parlamentarische Kampf den Sozialismus zum gemeingut der Massen, und zugleich werden die Parlamentarier zu Vorkämpfern der Sozialreformen, die das Proletariat braucht und fordert. Der Kampf um Sozialreformen, d.h. um alle politischen Maßnahmen, die die Lage des Proletariats betreffen, ist die Form, worin der Kampf für den Sozialismus geführt wird.

Dabei ist es nun unvermeidlich, dass diese Form des Klassenkampfes zum alleinigen und höchsten Ziel des Kampfes gemacht wird. Das Leiden der Arbeitermassen ist so groß, Sozialreformen sind so dringend notwendig, dass alle Aufmerksamkeit auf dieses Ziel gerichtet wird. Sind sie aber auf dem Wege des Kampfes zu erreichen? Zuerst scheint es, als ob die Mobilmachung der großen Massen gegen die kapitalistische Unterdrückung eine gewaltige Macht entfesseln wird; und der Schrecken der Bourgeoisie, die ihre Sünden ganz gut kennt, vor den Anfängen dieser Empörung bringt einige Zugeständnisse. Aber bald wird klar, dass die Sammlung und Aufklärung der Massen in solchen noch stark kleinbürgerlichen Ländern ein langwieriger Prozess ist; die verschiedensten Gegenaktionen setzen ein; die Sozialdemokratie bleibt im Parlament eine kleine Minderheit, die dort aus eigener Kraft nichts durchsetzen kann. Die Sozialreformen hören auf. Aber die Masse will sie, braucht sie. Sie ist noch nicht genügend sozialistisch durchgebildet zu sehen, was unter dem Kapitalismus erreichbar ist und durch welche Kräfte es allein erreichbar ist. Sie verschafft sich die Politiker, oder, wenn man will, sie fällt den Politikern zum Opfer, die das Programm aufstellen, mit allen Mitteln für Sozialreformen zu wirken und als das sofort auf der Hand liegende Mittel das Bündnis mit anderen demokratischen Parteien oder die Unterstützung der bürgerlichen Parteien und Regierungen betrachten, die Reformen versprechen. So wendet sich dann die Partei unter Führung der Fraktion von dem Wege des prinzipiellen Klassenkampfes ab; sie wird zum Schwanz einer bürgerlichen Partei und lässt sich von leeren Versprechungen nasführen. Statt Kampf gegen die bürgerliche Welt predigt sie Zuvertrauen in einen Teil dieser Welt. Statt sozialistische Aufklärung trägt sie Unklarheit, Verwirrung und Mutlosigkeit in die Massen, die sich zum Teil anarchistisch-syndikalistischen Tendenzen zuwenden.

Mutlosigkeit; denn das Ziel, worauf ihre Aktion hinzielte, erreicht sie nicht. Die ersehnten Reformen bleiben aus oder bleiben Scheinreformen. Und das ist auch leicht verständlich. Alle Reformen sind ein Produkt der Furcht der Bourgeoisie. Nicht in dem Sinne der bloßen Angst, dass jetzt das Ende der Welt da sei, sondern Furcht, dass das Proletariat zum klaren Klassenbewusstsein komt. Jedes Mal, wenn das Proletariat sich mit Kraft erhebt, sucht die herrschende Klasse es wieder mit der Gewährung eines Teiles seiner Forderungen, sofern diese nicht allzu gefährlich erscheinen einzulullen. So sind alle bedeutenden Reformen, Wahlrechtserweiterungen und Arbeiterschutzgesetze, eine Folge der Agitation und der Machtentfaltung der Arbeiter gewesen. Und daraus ergibt sich nun auch sofort klar, weshalb die reformistische Methode nicht zum Ziele führen und den Arbeitern gar keine wertvollen Reformen liefern konnte. Sobald das Proletariat diesen Weg einschlug, war es für die Bourgeoisie nicht mehr gefährlich. Statt seiner Macht zeigt es seine Schwäche. Als die Arbeiter ihre großen unversöhnlichen Forderungen fallen ließen, auf Kompromisse eingingen und damit ihren Mangel an klarem Klassenbewusstsein zeigten, fürchtete man sie nicht mehr. Sie brauchten nicht mehr geködert zu werden, sie kamen schon von selbst. Die Quelle ihrer Kraft war die Agitation im prinzipiellen Sinne, die Erweckung eines klaren sozialistischen Bewusstseins gewesen und diese war weg. Denn nur was selbständige Macht des Proletariats vergrößert, ist auch imstande, die Bourgeoisie zu Sozialreformen zu treiben.

Diese Wahrheit hat das Proletariat, das in der reformistischen Politik befangen ist, noch zu erlernen. So wird der Verfall des Parlamentarismus zu einer besonderen Episode in der sozialistischen Aufklärung der Massen zu einer Zeit, worin sie durch harte Erfahrung weise werden. Sie glaubten, um Sozialisten zu sein, genüge es, einen Sozialisten vor den bürgerlichen Parteien zu bevorzugen; aber der Parlamentarismus, der sich auf diesem Anfang des Klassenbewusstseins aufbaute, musste bald entarten und durch seinen Verfall die Notwendigkeit besserer sozialistischer Einsicht dartun.

In Deutschland haben sich von diesem Verfall des Parlamentarismus zwar Symptome gezeigt, aber sie sind nicht zur Herrschaft gekommen. Bei dem scharfen rücksichtlosen Kämpf, den die herrschende Klasse hier gegen das Proletariat führt, war jede Annäherung ausgeschlossen; der parlamentarischen Kampf musste dabei notwendig den Charakter eines scharfen Klassenkampfes behalten. Eine Abirrung vom Wege des unversöhnlichen Kampfes wurde auch durch die gute theoretische Durchbildung der Massen verhindert. Zwar trat auch hier immer klarer zutage, dass die sozialistische Fraktion eine Minderheit im Parlament bleiben muss, ohne selbständig etwas durchsetzen zu können. Aber hier hat das nicht zu solchen Kompromissen mit anderen Parteien geführt, die uns schwächen können, sondern zu der Ergänzung des Parlamentarismus mit anderen Kampfmethoden, die der Massenorganisation des Proletariats noch besser angepasst sind. Sowie das deutsche Proletariat früher die Arbeiter aller Länder auf diese neue Methode des Kampfes hinwies, so kann es jetzt den Ruhm für sich in Anspruch nehmen, zu einer Zeit, wo in so vielen Ländern der Parlamentarismus verfällt, den Genossen der anderen Länder durch sein leuchtendes Beispiel zu zeigen, wie der Parlamentarismus als Waffe des Klassenkampfes und der Machtvergrößerung des Proletariats zu handhaben ist.

ap.


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