Home | Contact | Links       
Antonie Pannekoek Archives


Thema: Gewalt

Thema: Arbeiterräte gegen die bürgerliche Demokratie (Parlamentarismus)


Der gewaltsame Umsturz


Quelle:  Der gewaltsame Umsturz / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 147, 26. November 1910 [BB-LV]


Wenn unsere Gegner das Wesen der Sozialdemokratie, wie es ihnen erscheint, in einem knappen Ausdruck zusammenfassen wollen, so bezeichnen sie sie als die Partei des gewaltsamen Umsturzes. Das ist die Vorstellung, die, durch systematische Propaganda geweckt, in den Köpfen der bürgerlichen Kreise lebt und als eine unanfechtbare allbekannte Wahrheit betrachtet wird. Die bürgerliche Gesellschaft unter dem Schutze eines starken vaterländischen Staates will sich in ruhigen, friedlichen Bahnen weiterentwickeln. Aber diese Entwicklung wird bedroht von der roten Rotte, die auf einen gewaltsamen Umsturz alles Bestehenden sinnt und eine neue Gesellschaft auf den Trümmern der alten gründen will; wird sie nun auch glücklicherweise durch die Macht der Polizei und der Armee im Zaume gehalten, so bleibt es immerhin bedauerlich und unerfindlich, dass sie trotz dieser verruchten Pläne immer größere Massen zu betören und als Anhänger zu gewinnen weiß. Das bleibt auch immer das letzte Wort jedes Bürgers, mit dem man über unsere Ziele spricht: ich stimme Ihrer Kritik der heutigen Zustände vielfach bei, ich bin auch mit vielem, was Sie wollen, einverstanden, aber bloß auf friedlichem Wege; von dem gewaltsamen Umsturz will ich nichts wissen, und daher bleibe ich ein Gegner Ihrer Partei.

So fest diese Auffassung in der bürgerliche Welt lebt, so wenig ist sie der Wahrheit entsprechend. Es ist damit gerade umgekehrt. In Wirklichkeit kämpft die Sozialdemokratie mit aller Macht für die friedliche Entwicklung, während unsere Gegner, die bürgerliche Parteien, auf einen gewaltsamen Umsturz hinarbeiten.

Dass die bürgerliche Welt die Wirklichkeit so auf den Kopf stellt, ist nicht einfach eine Wirkung böswilliger Verleumdung. Es stammt aus demselben Grunde, dem jene Wirklichkeit selbst entsprang, aus der Unkenntnis der gesellschaftlichen Entwicklung. Die ökonomische Entwicklung führt mit Notwendigkeit zu einer neuen Gesellschaftsordnung; das Fortschreiten der kapitalistischen Konzentration, das gewaltige Anschwellen der Produktivkräfte schafft die materielle Möglichkeit einer Gesellschaft, worin mit mäßiger Arbeit Überfluss für Alle zu produzieren ist; die Vermehrung, Konzentration und Schulung der Arbeitermassen und die Ausschaltung der kapitalistischen Bourgeoisie aus der Produktion geben dem Proletariat eine steigende und schließlich erdrückende Macht, die imstande ist, diese Umwälzung durchzuführen. Eine solche Umgestaltung entspricht so sehr dem tatsächlichen Entwicklungsgang der Gesellschaft, dass sie mit einigen einfachen selbstverständlichen Reformen, die nur zur Wegräumung unzeitgemäßer Hemmnisse dienen, in den Weg zu leiten ist und sich dann glatt, wie von selbst, vollziehen wird.

Das alles weiß die Sozialdemokratie; sie hat sich darauf eingerichtet und hat das Programm der Augenblicksforderungen fertig, die eine solche friedliche Umwälzung ermöglichen würden. Aber die bürgerlichen Klassen haben keine blasse Ahnung davon, dass ihre Welt zugrunde gehen muss, dass ihre Herrschaft sich unmöglich aufrechterhalten lässt. Eine herrschende Klasse, die von ihrer Herrschaft lebt, kann unmöglich den Gedanken ertragen, dass diese durch die geschichtliche Notwendigkeit fallen muss; sie klammert sich an das Leben fest, weil sie mit dem Willen zum Leben zugleich die Kraft des Widerstandes aufgeben würde. Sie hält ihre Welt für ewig, und alles, was diese Welt bedroht, dünkt ihr eine fremde, unnatürliche Gewalt. Ihr Selbsterhaltungstrieb gaukelt ihr die Möglichkeit vor, den ehernen Schritt der Geschichte mit künstlichen Hemmnissen aufhalten zu können. Alle Einrichtungen der Gesellschaft, die die steigende Macht des Proletariats in naturgemäßer Weise zum Ausdruck bringen, hält sie für die Ursachen dieses Aufsteigens. Mit ihrer Beseitigung glaubt sie die Entwicklung selbst aufzuhalten, während sie in Wirklichkeit nur beseitigt, was eine freundliche ruhige Entwicklung ermöglichen würde. So bewirkt sie, dass die Entwicklung gewaltsame, katastrophische Formen annimmt, durch dieselbe Einsichtslosigkeit, die ihr vortäuscht, die Ursache dieser Gewalt sei bei der revolutionären Klasse, statt bei ihr selbst zu suchen.

Am klarsten tritt diese Haltung der herrschenden Klasse bei dem Reichstagswahlrecht zutage. Das allgemeine, gleiche Wahlrecht für den Reichstag wurde eingeführt zu einer Zeit, als das Proletariat noch kaum als selbständige Macht mitzählte und nur als Gefolgschaft der einen oder anderen der miteinander kämpfenden herrschenden Klassen in Frage zu kommen schien. Damals, 1866, schrieb die Kreuz-Zeitung (*), das allgemeine Wahlrecht sei das Einzige, „was Logik und Prinzip enthält“, d.h. Logik und Prinzip für die preußischen Junker, die mit ihm die Volksmassen gegen die reiche Bourgeoisie führen und für die Revolution von oben interessieren wollten. Als es aber in die Verfassung des neuen deutschen Reiches als demokratischer Teil aufgenommen war, zeigte sich allmählich seine andere Wirkung.

Es ist in den letzten Jahren eine Gewohnheit bürgerlicher Politiker der verschiedensten Parteien geworden, auf das Reichstagswahlrecht zu schimpfen und seine Mängel zu betonen. Demgegenüber ist es angebracht, darauf hinzuweisen, wie sich an ihm der allgemeine Vorzug demokratischer Institutionen tatsächlich gezeigt hat. Es hat bewirkt, dass die wichtigste politische Körperschaft sich fortwährend mit der gesellschaftlichen Entwicklung umgestaltet hat. Jede Verschiebung in der Klassenschichtung der Gesellschaft spiegelt sich unter dem allgemeinen Wahlrecht sofort in der Zusammensetzung des Parlaments wider, jedes neu auftauchende Interesse findet dort Vertretung und kann sich im Kampfe mit anderen Interessen je nach seiner Kraft mehr oder weniger Geltung verschaffen. Von unserer Seite wird in der Regel nur hervorgehoben, wie das allgemeine Wahlrecht dem Proletariat genutzt hat, seine Kraft zur Entwicklung zu bringen. Aber es hat den anderen Klassen nicht weniger genutzt, da es ihnen die Vertretung ihrer jeweiligen Interessen gestattete. Alle neuen Bedürfnisse, die mit dem Kapitalismus emporwuchsen, konnten sich hier aneinanderreihen und sich durchkämpfen, das Bedürfnis der Bourgeoisie nach Militarismus und Kolonialpolitik so gut wie das Bedürfnis der Arbeiter nach Sozialreformen. Das allgemeine Wahlrecht bedeutet nicht schlechtweg die Herrschaft der Volksmasse, sondern es bedeutet die Herrschaft der wichtigsten, ausschlaggebenden Interessen. Daher ist das allgemeine Wahlrecht gerade das allerbeste Wahlrecht für die kapitalistische Gesellschaft mit ihren raschen und gewaltigen inneren Umwälzungen.

Selbstverständlich bedeutet das zugleich, dass das Proletariat dabei zu immer größerer Macht kommt. Daher der Zorn der Herrschenden. Aber das liegt nicht am Wahlrecht; dies bringt nur parlamentarisch zum Ausdruck, was in der Gesellschaft zur Tatsache geworden ist. Wenn die ausbeutenden Klassen jetzt, wo die gesellschaftlichen Machtsverhältnisse sich immer mehr gegen sie wenden, von Aufhebung des Reichstagswahlrechts reden, so bedeutet das nichts anderes als den Versuch, die unvermeidliche Entwicklung durch gewaltsamen Umsturz aufzuhalten. Das Reichstagswahlrecht hat Deutschland während 40 Jahren vor inneren politischen Erschütterungen bewahrt; dass Deutschland in einer so langen Zeit so stürmischer und gewaltiger kapitalistischer Entwicklung ohne einschneidende Verfassungsänderungen ausgekommen ist, liegt wesentlich an der Anpassungsfähigkeit seiner Verfassung durch das allgemeine Wahlrecht. Die Demokratie hat sich hier als das Mittel der friedlichen Entwicklung bewährt.

Dagegen ist es der Mangel an Demokratie, der bewirkt, dass diese friedliche Entwicklung immer mehr in Frage gestellt wird. Die Beibehaltung der alten Wahlkreiseinteilung von 1870, die statt der stetigen Anpassung an das Neue die Versteinerung des Alten bedeutet, hebt die Demokratie des allgemeinen Wahlrechts immer mehr auf. Daher sind wir auch, trotz Bülow (), keine einfachen Verehrer des geltenden Reichstagswahlrechts; wir sind Anhänger des allgemeinen, gleichen Wahlrechts und wollen, dass durch eine Neueinteilung der Wahlkreise das ungleiche Reichstagswahlrecht gleich gemacht wird.

Aber wir wollen noch mehr: Wir wollen die vollkommene Demokratie überall; wir wollen sie vor allem in den anderen Parlamenten, namentlich im Preußenhaus, das jetzt als Macht der Reaktion die demokratische Seite des Reichstagswahlrechts immer mehr unfruchtbar macht. Dann erst, wenn die Demokratie überall durchgeführt ist, ist die Bahn für eine friedliche politische Umwälzung, die mit den wirtschaftlichen Bedürfnissen Schritt hält, völlig frei.

Wir fordern also die Demokratie, das allgemeine gleiche Wahlrecht für alle regierenden Körperschaften, nicht deshalb, weil sie uns den Sozialismus, die Befreiung der Arbeiterklasse aus Unterdrückung bringen wird; denn den Sozialismus, unsere Befreiung, bekommen wir sowieso. Wir fordern sie, weil sie uns den Sozialismus auf dem Wege einer friedlichen allmählichen Reformarbeit bringen wird. Wenn die herrschende Klasse demgegenüber das allgemeine Wahlrecht verkümmert und seine weitere Einführung mit aller Macht verweigert, so mag sie sich dem törichten Wahn hingeben, dass sie die Befreiung der Menschheit hintanhalten kann; in Wirklichkeit bewirkt sie damit nur, dass diese Umwälzung sich in gewaltsamen Katastrophen Bahn bricht. So liegt die Sache: wer für das allgemeine, gleiche Wahlrecht wirkt, wählt die friedliche Entwicklung der Gesellschaft; wer sich als sein Gegner betätigt, entscheidet für den gewaltigen Umsturz.

ap.


Redaktionelle Anmerkung

*) Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung)  (1848-1939); konzervativen überregionale Tageszeitung im Königreich Preußen und später im Deutschen Reich; „Vorwärts mit Gott für König und Vaterland“.

†) Bernhard von Bülow  (1849-1929); deutscher Politiker und Staatsmann, von Oktober 1900 bis Juli 1909 Reichskanzler des Deutschen Kaiserreichs.


© Obgleich die Kommunistische Linke im Allgemeinen keine Urheberrechte bzw. „intellektuelle Eigentumsrechte“ für sich eingefordert hat, können einige Veröffentlichungen auf dieser Webseite urheberrechtlich geschützt sein. In diesem Fall steht ihr Gebrauch nur zum Zweck persönlichen Nachschlags frei. Ungeschütztes Material kann für nicht-kommerzielle Zwecke frei und unentgeltlich verbreitet werden. Wir sind Ihnen erkenntlich für Ihren Quellenhinweis und Benachrichtigung. Bei beabsichtigter kommerzieller Nutzung bitten wir um Kontaktaufnahme.


Compiled by Vico, corrected by T.K., 10 Dezember 2024