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Antonie Pannekoek Archives


Zu Marxens Todestag


Quelle:  Zu Marxens Todestag / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 6a, 13. März 1908


Am vierzehnten März ist ein Viertelhundert seit dem Tode Marxens verflossen.

Unter dem unmittelbaren Eindruck des Sterbens seines Freundes schrieb Engels an Sorge (*):

„Die Bewegung des Proletariats geht ihren Gang weiter, aber der Zentralpunkt ist dahin, zu dem Franzosen, Russen, Amerikaner, Deutsche in entscheidenden Augenblicken sich von selbst wandten, um jedesmal den klaren unwidersprechlichen Rat zu erhalten, der nur das Genie und die vollendete Sachkenntis geben konnte. Die Lokalgrößen und die kleinen Talente, wo nicht die Schwindler, bekommen freie Hand. Der endliche Sieg bleibt sicher, aber die Umwege, die temporären und lokalen Verirrungen – schon so unvermeidlich – werden jetzt ganz anders anwachsen. Nun – wir müssen’s durchfressen, wozu anders sind wir da? Und die Courage verlieren wir darum noch lange nicht“ (**).

Manchen mag es damals gewesen sein, als ob es auf einmal finster geworden wäre um die Kämpfer, die mühsam den Weg dorthin suchten, wo die schwache erste Morgenröte den künftigen Tag der Freiheit anzeigte. Aber die Courage hat die Arbeiterklasse nicht verloren; im Gegenteil, mit immer wachsender Zuversicht, in immer wachsenden Schaaren, mit immer größerer Kraft ist sie von Erfolg zu Erfolg geschritten, dem Ziele des Kampfes, der sozialen Revolution, immer näher. Die Arbeiterbewegung entsprang ja nicht den Lehren eines Mannes, sondern der ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft, und diese Entwicklung rastete nicht. Gewaltig hat sich der Kapitalismus in dem letzten Vierteljahrhundert ausgedehnt, ganze Weltteile hat er erobert und mit ihm musste auch der Klassenkampf des Proletariats immer gewaltiger wachsen.

Freilich, die Lokalgrößen und die kleine Talente haben sich dabei auch stark entwickelt. Je mehr die Bewegung zu einer Massenbewegung emporwuchs, die auf allen Gebieten den Kampf gegen die Bourgeoisie aufnahm und bis in die kleinsten Dörfer hineindrang, umso mehr bedurfte sie der Lokalgrößen, und auch die kleinen und kleinsten Talente waren für sie notwendige Helfer. Wenn sich unter ihnen neben der Masse der tüchtigen Vorkämpfer, die voller Hingebung und die Sache ihre Schuldigkeit taten, auch mancher Gernegroß oder gar mancher Intrigant vordrängte, so war das bei einer Bewegung, die sich aus gewöhnlichen Menschen und nicht aus genialen Tugendbolden zusammensetzt, unvermeidlich. Namentlich die parlamentarische Tätigkeit, die in den letzten Dezennien eine Hauptwaffe des Proletariats war, bot Mittelmäßigkeiten und sogar Strebern wie Millerand (***) ein geeignetes Feld, sich als die großen Staatsmännern aufzuspielen, die das Proletariat, wenn es sich nur ihrer Führung anvertraute, ohne Mühe ins versprochene Land bringen würden.

Nun was dies kein unnatürliches Unglück, sondern eine natürliche Entwicklungsstufe. Unnatürlich wäre es gewesen, wenn immer ein überlegenes Genie dem Proletariate die Richtlinien angegeben und durch sein Überlegenheit den Einfluss der Mittelmäßigkeiten eingedämmt und die sich eindrängenden Schwindler entlarvt hätte. Das Proletariat musste selbst bewusst seinen Weg suchen, musste selbst erlernen, die falschen Freunde von den treuen Genossen zu unterscheiden, musste selbst die Führung seiner Führer übernehmen. Der große Befreiungskampf des Proletariats ist in erster Linie eine gewaltige Arbeit der Selbsterziehung zur Selbständigkeit im Urteilen, zur Selbstbestimmung seines Geschicks. Als blinde Gefolgschafgt eines noch so überlegenen Geistes, der für sie denkt und entschließt, kann eine Klasse die Freiheit nicht erobern.

Selbstverständlich mussten da allerhand Irrgänge und Umwege durchgemacht werden, und erst nach vielen Verirrungen fand man den richtigen Weg heraus. Selbstverständlich wurde man da oft durch schöne Phrasen verlockt und erst nach herben Enttäuschungen konnte man sich der Schwindler entledigen. Jeder, der etwas erlernt, muss zuerst vieles verkehrt machen, bevor er selbständig richtig arbeiten kann; in ähnlicher Weise sind auch die Verirrungen der Arbeiterbewegung notwendige Stufen ihrer Selbsterziehung. Zu Marx’ Lebzeiten, als noch keine proletarische Massenbewegung da war, lag die Sache anders; da galt es einer verkehrten Propaganda, die das erst aufdämmernde Klassenbewusstsein verwirrt hätte, vorzubeugen; da war es ein unschätzbares Glück, dass ein genialer Geist durch seine Ratschläge die richtigen Linien vorzeichnete. Mit dem Aufkommen einer Massenbewegung in der Gestalt der sozialdemokratischen Parteien der einzelnen Länder mussten diese Massen ihre Geschicke selbst in die Hände nehmen. Und wenn sie dabei auch öfters irrten, umso gründlicher beseitigen sie nachher den Irrtum. So bestand der bekannte Konflikt der deutschen Partei, der ersten sozialdemokratischen Massenbewegung, mit Marx über das Gothaer Programm () grade darin, dass sie für sich das Recht in Anspruch nahm, sich so lange zu irren, bis die Masse der Arbeiter den Irrtum erkennen würde.

Behauptet in dieser Weise die emporkommende Arbeiterbewegung sogar diesem Vorkämpfer gegenüber ihre Selbständigkeit, umso mehr den kleineren Talenten und Lokalgrößen gegenüber. Freie Hand haben diese nicht bekommen; in dieser Hinsicht hat das klassenbewusste Proletariat Marxens Erbschaft angetreten; es hält jetzt selbst die Disziplin unter seinen Wortführern und Vertretern aufrecht und bestimmt den Weg, den sie zu verfolgen haben.

Dass dies aber möglich war, dass die Arbeiterschaft im Stande war, immer den richtigen Weg herauszufinden, dass sie den verführerischen Phrasen falscher Ratgeber gewachsen war, dass sie in neuen Umständen immer die dazu passende Taktik zu wählen wusste, das verdankt sie der Wissenschaft, die Marx ihr gelehrt hat. Durch sein nationalökonomisches Hauptwerk hat er dem Proletariats das Wesen der Gesellschaft, die Ursache seines Elends, aber auch die unvermeidliche Aufhebung dieses Elends kennen gelehrt, und durch die materialistische Geschichtsauffassung hat er ihm den Schlüssel zum Verständnis aller gesellschaftlicher Vorgänge und Erscheinungen gegeben. Gerade in seinem Todesjahr wurde die erste wirklich wissenschaftliche sozialistische Zeitschrift gegründet (††), die den Arbeitern durch mannigfache Anwendungen das Verständnis dieser Lehren erleichtert, und nicht zum wenigsten dazu beigetragen hat, sie zum Gemeingut des sozialistischen Proletariats zu machen. Mit dieser Wissenschaft, seinem Lebenswerk, hat Marx der Arbeiterklasse einen sicheren Führer durch alle Wechselfälle ihres Befreiungskampfes gegeben.

Nein, dunkel ist es nicht geworden, denn diese Wissenschaft, sein unsterbliches Werk, die Frucht seines Riesengenies blieb uns als ein strahlendes Licht auf unserem Weg. Sein Geist ist nicht gestorben; es lebt in der revolutionären Arbeiterklasse fort. Und wenn sie von Erfolg zu Erfolg geschritten ist und sich anschickt, die Welt zu erobern, so verdankt sie das vor Allem dieser geistigen Erbschaft, die ihr Marx hinterlassen hat.

(ap)


Redaktionelle Anmerkungen

*) Friedrich Adolf (Adolph) Sorge  (1828-1906); deutscher Musiklehrer, Revolutionär und Kommunist und langjähriger Briefpartner von Karl Marx und Friedrich Engels; emigrierte 1852 nach der u.s.a., 1877 Mitbegründer der Socialist Labor Party of America.

**) Friedrich Engels an Friedrich Adolph Sorge, 15. März 1883, M.E.W., Bd. 35 , S. 460-461).

***) Alexandre Millerand  (1859-1943); französischer Politiker der Dritten Republik. 1920-1924 Staatspräsident. Zunächst Radikaler, dann Sozialist; gründete nach seiner Präsidentschaft die rechte Ligue républicaine nationale. 1904 ausgeschlossen aus der Sozialistische Partei, und sagte sich denn auch los von der Freimaurerei.

†) Gothaer Programm ; eine 1875 verfasste und erst 1891 postum veröffentlichte Kritik von Karl Marx, sehe: Kritik des Gothaer Programms , und: Thema: Die ökonomische Lösung für die Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus.

††) Die Neue Zeit (Revue) ; sie wurde 1883 begründet und bis 1917 geleitet von Karl Kautsky  und Emanuel Wurm .


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Compiled by Vico, corrected by T.K., 14 Dezember 2024