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VormärzlichesQuelle: Vormärzliches / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 6, 7. März 1908 Eine vormärzliche Luft (*) hängt über Deutschland. In den vierziger Jahren, als die erstarkende preußischen Bourgeoisie immer kräftiger in Opposition zu dem feudal-romantischen Königtum geriet, führte sie den ideologischen Kampf vorwiegend in theologischer Gesstalt. Die Kritik des überlieferten Bibelglaubens und der Orthodoxie verschüttete den Boden, auf dem die feudale Reaktion ihr ewiges Herrschaftsrecht über das Volk gegründet hatte. Ihrerseits suchte die Regierung ihre Macht dadurch zu festigen, dass sie den neuen Ideen möglichst den Weg versperrte und dem Volke den alten Glauben zu erhalten suchte. Sie verweigerte den Bekämpfern der Orthodoxie den Zutreitt zu den akademischen Lehrämtern und suchte durch die Zensur über die Revuen und Zeitungen die Verbreitung ihrer Ansichten zu hindern. In diese vormärzliche Zeit glaubt man sich wieder versetzt, wenn man die krampfhaften Versuche der Studt[?] und der Holle (**) ansieht, durch Maßregelung aller noch so bescheiden auftretenden fortschrittlichen Regungen die Frömmigkeit und damit die Unterwürfigkeit im Volke zu erhalten. Vor ein paar Monaten ging der liberalen Pastor Pfannkuche in Osnabrück eine Rüge und ein Schweigegebet zu, weil er einen Lehrerverein über die Ergebnisse der neueren Bibelforschung aufgeklärt und damit Anstoß und Ärgernis bei den Behörden erregt hatte. Dazu gesellte sich neulich die Geschichte mit der „Vereinigung für Volksbildung“, die sich durch den Versand von Schriften Haeckels, Darwins und Straußens (†) an Volksbibliotheken die Ungnade der Regierung zuzog. Dies sind ein paar Beispiele für den erzreaktionären muckerischen Geist, der in der preußischen Regierung herrscht und die Volksbildung zu dem Zustande, der vor einigen Jahrhunderten herrschte, herunterdrücken möchte. Die Übereinstimmung der reaktionären Bildungsfeindlichkeit in der vormärzlichen Zeit mit der heutigen entspringt einer wirklichen Übereinstimmung in den politischen Verhältnissen. Heute wie damals fühlt die herrschende Klasse sich bedroht durch eine sich immer mächtiger erhebende Opposition; es wird ihr bei dem wachsenden Revolutionsgeist, den sie nicht fassen und vernichten kann, immer unheimlicher zu Mute. Sie sucht durch Verfolgung der neuen Ideen die Unzufriedenheit einzudämmen, von ihrer Seite nicht ohne Logik, da sie die neuen Ideen für die Ursache der Unzufriedenheit hält. Dabei verfällt sie aber in den Irrtum aller überlebten herrschenden Klassen; nicht, wie liberale Feuilletonschreiber das so schön ausdrücken, „weil die Wahrheit immer siegreich bleibt“, oder „weil gegen die Macht neuer Ideen die Mächte der Finsternis nichts vermögen“, sondern einfach, weil diese Ideen selbst nur eine Folge, eine Begleiterscheinung und einen Ausdruck einer Klassenbewegung bilden, die aus der ökonomischen Entwicklung entspringt. Die gesellschaftliche Entwicklung macht den Ansturm der aufsteigende Klasse und daher auch die Verbreitung der Ideen unwiderstehlich, durch die sie die offiziel herrschenden Anschauungen bekämpft. Deshalb bewirkt das Wüten der Finsterlinge gegen die neuen Anschauungen nichts als Erbitterung und Hass bei ihren Gegnern und erweist es sich als ein lächerlicher Versuch, die Entwicklung der Welt aufzuhalten oder gar zur Umkehr zu nötigen. Für den Gang der Geschichte bedeutungslos kann es höchstens als Symptom, als Gradmesser für die Furcht der Herrscher dienen, und in diesem Sinne ist eine vormärzliche Atmosphäre immer Vorbote eines März. Aber damit hört auch die Übereinstimmung auf; dringt man weiter in die Einzelheiten ein, so tritt eine immer grösßere Differenz in der Bedeutung der vormärzlichen und der heutigen geistigen Reaktion hervor. Damals war das Bürgertum, heute ist das Proletariat die revolutionäre Klasse. Die bürgerliche Revolution suchte eine veraltete, unzeitgemäße Klassenherrschaft durch eine neue, zeitgemäße zu ersetzen. Die alte feudal-absolutistische Herrschaft stützte ihre Ansprüche auf die geheiligte Traditien, das Gottesgnadentum, die göttliche Weltordnung, die zu stürzen ein sündiger Frevel wäre. Demgegenüber konnte das Bürgertum, dessen Forderungen der damaligen Wirklichkeit entsprachen, sich auf das berufen, was offenbar Vernunft und Wissenschaft lehrten. Daher musste der Kampf des Bürgertums gegen den Absolutismus in dieser Weise geführt werden, dass es durch Vernunft und Wissenschaft die überlieferte Religion bekämpfte und durch Verbreitung der neuen Anschauungen die Volksmasse aus einer gläubigen Gefolgschaft der Herrscher zu einer aufgeklärten Gefolgschaft der liberalen Bourgeoisie machte. Der Kampf der Regierung gegen die Aufklärung traf also ihren Feind grade auf den Kopf, und er musste nur deshalb ein Schlag ins Wasser bleiben, weil die Bedürfnisse der ökonomischen Entwicklung trotz allen Widerstandes den neuen Ideen zum Durchbruch verhalfen. Ganz anders liegt die Sache heute. Das Proletariat führt seinen geistigen Kampf durch die Verbreitung ökonomischen Wissens, durch Aufklärung über die Einrichtung und die Entwicklung der Gesellschaft. Es führt ihn gegen das Bürgertum, gegen seine unmittelbaren Ausbeuter in erster Linie. Seine Agitation beruht nicht auf einer unklaren Empfindung, dass die heutige Gesellschaftsordnung unzeitgemäß und unvernünftig ist, und durch eine vernünftige ersetzt werden soll. Nein, sie beruht auf dem klaren Erkenntnis, dass die Gesellschaft sich nach bestimmten Gesetzen entwickelt und dass die kapitalistischen Ausbeutung erst aufhören wird, sobald das Proletariat zur Eroberung der Herrschaft stark genug geworden ist. In der revolutionären Bewegung der Gegenwart spielt also nicht das naturkundige sondern das ökonomische Wissen die Hauptrolle. Die alten Schlagworte von „Vernunft“ und „Natur“ gegenüber dem „Glauben“ beschäftigen uns nicht. Einen Kampf gegen die Religion durch die „Wissenschaft“ führen wir als Partei nicht. Wir verstehen es vollkommen, dass die herrschende Klasse sich ihrer Haut wehrt und dazu unsere Lehren von den Kathedern der Hochschulen fernhält. Aber es trifft uns nicht; ausserhalb des ganzen offiziellen Lehr- und Erziehungswesens hat das Proletariat sich schon längst seine eigne Bildungsanstalten, Bildungsliteratur und Aufklärungsgelegenheiten geschaffen in Versammlungen, Presse, Broschüren und Büchern. Man urteile nun über die Fülle an Einsicht bei der preußischen Regierung, die diese Aufklärung dadurch zu bekämpfen sucht, dass sie Haeckel und Strauß aus den Volksbibliotheken vertreibt. Nicht Strauß und Haeckel sondern Kautsky und Bebel (‡), die nie in solchen Volksbibliotheken geduldet wurden, machen die Menschen zu Revolutionären. Ein Verbot antireligiöser Schriften wäre in einer Lage, wie sie in der veriziger Jahren bestand, ein Schlag ins Wasser gewesen; heute ist sie ein Schlag in die Luft, der nicht den Gegner trifft; sondern ein wesenloses Gespenst, das die Herrscher sich in ihrer Angst selbst ausmalen. Waren die Liberalen in der vormärzlichen Zeit empört über die sie treffenden Streiche der Reaktion, so kann die Arbeiterklasse heute bei jenem täppischen Herumschlagen, das sie gar nicht berührt, nur verächtlich die Achsel zucken über seine solche Unfähigkeit. So ist die vormärzliche Atmosphäre, die über Deutschland hängt, für uns in doppelter Hinsicht verheißungsvoll: sie zeigt nicht nur die Furcht unserer Feinde, sondern zugleich ihre Dummheit. (ap) Redaktionelle Anmerkungen*) Vormärz , Epoche der deutschen Geschichte zwischen der Julirevolution von 1830 und der Märzrevolution von 1848. **) Vom 24. Juni 1907 bis zum 14. Juli 1909 amtierte Ludwig Holle (1855-1909) als preußischer Minister für geistliche-, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten (Kultusminister). Conrad von Studt (1838-1921) war sein Vorgänger. †) Ernst Haeckel (1834-1919); deutscher liberaler Mediziner, Zoologe, Philosoph, Zeichner und Freidenker; sozial-Darwinist. Charles Robert Darwin (1809-1882); britischer Naturforscher, Begründer der Evolutionstheorie. David Friedrich Strauß (1808-1874); deutscher Schriftsteller, Philosoph und evangelischer Theologe. ‡) Karl Johann Kautsky (1854-1938); österreichisch-tschechischer Philosoph, marxistischer Theoretiker und sozialdemokratischer Politiker. Ferdinand August Bebel (1840-1913); deutscher sozialdemokratischer Politiker und Publizist. © Obgleich die Kommunistische Linke im Allgemeinen keine Urheberrechte bzw. „intellektuelle Eigentumsrechte“ für sich eingefordert hat, können einige Veröffentlichungen auf dieser Webseite urheberrechtlich geschützt sein. In diesem Fall steht ihr Gebrauch nur zum Zweck persönlichen Nachschlags frei. Ungeschütztes Material kann für nicht-kommerzielle Zwecke frei und unentgeltlich verbreitet werden. Wir sind Ihnen erkenntlich für Ihren Quellenhinweis und Benachrichtigung. Bei beabsichtigter kommerzieller Nutzung bitten wir um Kontaktaufnahme. 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