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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Religion - Weltanschauung


Religion Privatsache


Quelle:  Religion Privatsache / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 2, 8. Februar 1908 [BB-LV]


Zu den hartnäckigsten Missverständnissen, die als Waffe gegen uns verwertet werden, gehört die angebliche Religionsfeindlichkeit der Sozialdemokratie. Wir mögen noch si unzweideutig die Forderung: Religion sei Privatsache, erheben, immer aufs Neue kehrt die alte Beschuldigung wieder. Nun liegt es auf der Hand, dass doch Grund dafür vorhanden sein muss; wenn hier bloß eine grundlose Behauptung ohne den leisesten Schein der Berechtigung vorläge, so hätte sie sich schon längst als Waffe untauglich gezeigt und wäre verschwunden. In der Tat liegt für unaufgeklärten Köpfe ein Widerspruch zwischen dieser praktischen Forderung und der Tatsache, dass mit dem Überhandnehmen der Sozialdemokratie zugleich die Religion in den Arbeiterkreisen immer mehr schwindet, und dass auch unsere Theorie, der historische Materialismus in schroffem Gegensatz zu den religiösen Lehren steht. Dieser angebliche Widerspruch, der auch schon manchen Genossen verwirrt hat, wird von unseren Gegnern zu der Darstellung ausgenutzt, unsere praktische Forderung, die jedem seine Religion freilässt, sei nur eine Heuchelei, eine Vertuschung unserer wirklichen religionsfeindlichen Absichten, und zwar zu dem Zwecke, die religiösen Arbeiter massenhaft für uns zu gewinnen.

Wir fordern, dass die Religion als eine Privatangelegenheit jedes Einzelnen betrachtet werden soll, die jeder für sich selbst zu bestimmen hat, ohne dass andere dreinzureden oder etwas vorzuschreiben haben. Diese Forderung ist als etwas Selbstverständliches den Bedürfnissen unserer Praxis entsprungen. Es ist ja vollkommen richtig, dass wir dadurch die nicht-religiösen und die religiösen Arbeiter verschiedener Konfession massenhaft für uns gewinnen, d.h. sie zu einem gemeinsamen Kampfe für ihr Klasseninteresse vereinigen wollen. Das Ziel der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung ist kein anderes, als eine wirtschaftliche Umgestaltung der Gesellschaft, die Überführung der Produktionsmittel in Gemeineigentum. Da versteht es sich doch von selbst, dass man alles, was diesem Ziele fremd ist und zu Differenzen unter den Arbeitern führen könnte, fernhält. Est gehört die ganze interessierte Beschränktheit der Theologen dazu, uns statt dieses offen anerkannten Ziele ein anderes, geheimes zuzuschreiben, die Vernichtung der Religion. Wer seinen ganzen Sinn auf religiöse Tüfteleinen richtet und dabei kein Auge für die große Not und den großartigen Kampf der Proletarier hat, bei dem kann es am Ende nicht überraschen, wenn er in der großen weltbefreienden Umwälzung der Produktionsweise und der damit zusammengehenden geistigen und religiösen Umkehr nichts sieht als ein Überhandnehmen des Unglaubens und an dem Aufheben des Elends, der Unterdrückung, der Knechtschaft und der Armut als an etwas Gleichgültigem vorübergeht.

Aus dem Bedürfnis des praktischen Kampfes ist unser praktischer Grundsatz über die Religion entsprungen; daraus geht schon hervor, dass er sich auch in Übereinstimmung mit unserer Theorie befinden muss, die den Sozialismus ganz auf die Praxis des Tageskampfes gründet. Der historische Materialismus erblickt in den wirtschaftlichen Verhältnissen die Grundlage des ganzen gesellschaftlichen Lebens; um materielle Bedürfnisse, um Kämpfe der Klassen, um Umwälzungen der Produktionsweise handelte es sich immer, wo die bisherige Betrachtungsweise, auch die der Kämpfer selbst, religiöse Differenzen und Religionskämpfe erblickte. Die religiösen Ansichten sind bloß ein Ausdruck, ein Widerschein, eine Folge der wirklichen Lebensverhältnisse der Menschen, also in erster Linie der wirtschaftlichen Zustände. Auch heute handelt es sich um eine wirtschaftliche Umwälzung, aber zum ersten Male in der Geschichte ist die Klasse, die sie durchführen muss, sich dessen klar bewusst, dass es sich nicht um den Sieg irgendwelcher ideologischer Anschauungen handelt. Dieses klare Bewusstsein, das sie aus der Theorie schöpft, drückt sich in der praktische Forderung: Religion Privatsache aus; diese Forderung ist also ebenso sehr ein Ausfluss der klaren wissenschaftlichen Erkenntniss als des praktischen Bedürfnisses.

Aus dieser Auffassung, die der historische Materialismus über die Religion hebt, ergibt sich schon, dass sie gar nicht mit dem bürgerlichen Atheismus in einen Topf geworfen werden darf (*). Dieser stellte sich der Religion direkt feindlich gegenüber, weil er in ihr die Theorie der reaktionären Klassen und das wesentliche Hemmnis des Fortschritts erblickte. Er sah in der Religion bloß Dummheit [?] und in der Bildung das Heilmittel; daher hoffte er den Köhlerglauben der dummen Bauern und Kleinbürger durch wissenschaftliche Aufklärung, besonders durch Naturwissenschaft, ausrotten zu können.

Wir sehen dagegen in der Religion einen notwendigen Ausfluss der Lebensverhältnisse, die hauptsachlich ökonomischer Natur sind. Der Bauer, dem die Launen der Witterung eine gute oder eine schlechte Ernte beschreren, der Kleinbürger, dem der Markt und die Konkurrenzverhältnisse Armut oder Reichtum bringen können, fühlen sich in Abhängigkeit von höheren geheimnisvollen Mächten. Gegen dieses unmittelbare Empfinden hilft nicht die Bücherweisheit, dass das Wetter durch natürliche Kräfte bestimmt wird und dass die Bibelwunder erdichtete Sagen sind. Bauern und Bürger stehen dieser Gelehrsamkeit sogar unwillig und misstrauisch gegenüber, da sie von der sie bedrückenden Klasse stammt, und sie selbst als untergehende Klassen darin keine Waffe, keine Rettung und nicht einmal Trost finden können. Trost können sie sich bloß auf übernatürlichem Wege, in religiösen Vorstellungen erdichten.

Umgekehrt der klassenbewusste Proletarier; die Ursache seines Elends liegt klar vor ihm in dem Wesen der kapitalistischen Produktion und Ausbeutung, die für ihn nichts Übernatürliches hat. Und da ihm eine hoffnungsvolle Zukunft winkt, da er fühlt, dass ihm Wissen fehlt, um seine Ketten brechen zu können, wirft er sich mit Inbrunst auf das Studium des gesellschaftlichen Getriebes. So ist seine ganze Weltauffassung, auch wenn er nichts über Darwin und Copernicus (**) weiß, eine unreligiöse; er empfindet die Kräfte, mit denen er zu schaffen und zu ringen hat, als nüchterne weltliche Tatsachen. So ist also die Religionslosigkeit des Proletariats nicht eine Folge bestimmter ihm gepredigter Lehren, sondern des unmittelbaren Empfindens seiner Lage. Umgekehrt bewirkt erst diese Gesinnung, die von selbst aus der Teilnahme an den gesellschaftlichen Kämpfen herauswächst, dass die Arbeiter eifrig nach allen antitheologischen Aufklärungsschriften greifen, nach Büchner und Häckel (), um durch naturwissenschaftliche Kenntnisse dieser Gesinnung ein theoretisches Fundament zu geben. Dieser Ursprung des proletarischen Atheismus bringt es mit sich, dass das Proletariat ihn nie als Streitobjekt gegen Andersdenkende hervorkehrt; Streitobjekt sind ihm nur seine gesellschaftlichen Anschauungen und Ziele, die das Wesentliche seiner Weltanschauung bilden. Diejenigen Proletarier, die als Klassengenossen in derselben Unterdrückung leben, sind seine natürlichen Kampfgenossen, auch wenn bei ihnen durch ihre besonderen Umstände die erwähnten Wirkungen ausbleiben. Solche besonderen Umstände gibt es in der Tat, abgesehen noch von der überall wirkenden Kraft der Tradition, die erst allmählig überwunden werden kann. Proletarier, die unter Verhältnissen arbeiten, in denen mächtige, grauenvolle, unberechenbare Naturmächte sie mit Tot und Verderben bedrohen, wie Bergarbeiter und Seeleute, werden oft dadurch ein stark religiöses Empfinden behalten, während sie doch zugleich kräftige Kämpfer wider den Kapitalismus sein können. Die praktische Haltung, die sich aus dieser Sachlage ergibt, wird auch von Parteigenossen noch oft verkannt, die glauben, unsere Auffassungen als „eine höhere Religion“ dem christlichen Glauben gegenüberstellen zu müssen.

Mit dem Verhältnis von Sozialismus und Religion steht es also gerade umgekehrt als unsere theologischen Feinde es darstellen. Wir machen die Arbeiter nicht von ihrem früheren Glauben abtrünnig durch die Predigt unsere Theorie, des historischen Materialismus. Sondern sie verlieren ihren Glauben schon durch die aufmerksame Verfolgung der gesellschaftlichen Zusammenhänge, die sie die Aufhebung des Elends als ein handgreiflich erreicherbares Ziel erkennen lässt. Das Bedürfnis, diese Zusammenhänge immer gründlicher zu verstehen, führt sie zum Studium der historisch-materialistischen Schriften unserer großen Theoretiker. Diese wirken dann nicht in religionsfeindlichem Sinn, denn der Glaube ist schon fort; umgekehrt bewirken sie eine Würdigung der Religion als eine historisch berechtigte Erscheinung, die erst unter künftigen Umständen verschwinden wird. Diese Lehre behütet uns also davor, ideologische Differenzen als das Wesentliche hervorzuheben, sie stellt unser wirtschaftliches Ziel als das allein Wesentliche in den Vordergrund, und dies drückt sie aus in der praktischen Forderung: Religion ist Privatsache.

(ap)


Redaktionelle Anmerkungen

*) Der Unterscheid zwischen bürgerlichem und proletarischem Atheismus  ist einfach. Im bürgerlichen Atheismus wird versucht zu beweisen, dass Gott nicht besteht, so heutzutage Richard Dawkins  der erklart: „Es ist eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, dass Gott nicht besteht“ (The God Delusion). Für den Agnostizismus  kan die Frage nach der Existenz Gottes nicht beantwortet werden (so auch Charles Darwin: „Ein Hund könnte genauso gut über den Geist von Newton spekulieren“). Im historischen Materialismus hat die ganze Frage nach das bestehen Gottes deshalb keinen Zweck, ist also unsinnig; der ‚Glaube‘, das Gott nicht besteht ist deshalb ebenso eine Religion.

**) Charles Darwin  (1809-1882), britischer Naturforscher, Begründer der Evolutionstheorie; Nikolaus Kopernicus  (1473-1543), Gründer des heliozentrisches Weltbild.

†) Bürgerliche Atheisten und Vulgärmaterialisten. Ludwig Büchner  (1824-1899); Ernst Haeckel  (1834-1919).


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