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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?


Das Wesen unserer Gegenwartsforderungen / Anton Pannekoek, 1912


Quelle:  Das Wesen unserer Gegenwartsforderungen / Ant[on]. Pannekoek – In: Die neue Zeit, 30. Jg. (1911-1912), 2. Bd. (1912), Nr. 48, 30. August 1912, S. 810-817; korrigierter OCR.


In der Frage der Abrüstung kämpfen zwei Auffassungen miteinander. Von der einen Seite wird betont, daß die steigenden Rüstungen das Proletariat mit schweren Steuern niederdrücken und zugleich die Kriegsgefahr steigern; daher muß unsere Partei sie mit aller Macht bekämpfen, unter anderem durch Anträge in den Parlamenten, die Regierungen sollen sich über Beschränkung der Rüstungen verständigen. Weigern sich Regierung und bürgerliche Parteien, so werden die Massen immer mehr die Sozialdemokratie als die alleinige Vertreterin ihrer Interessen erkennen und sich ihr zuwenden. Von der anderen Seite wird demgegenüber hervorgehoben, daß die Rüstungen aus dem steigenden imperialistischen Gegensatz der Staaten entspringen, der ein natürliches Produkt der modernen kapitalistischen Entwicklung ist. Jede Bourgeoisie muß sich möglichst zum Kampfe rüsten, will sie ihre Interessen in der Welt zur Geltung bringen, denn über die Verteilung der Welt entscheidet nur die Macht, die jede gegen die anderen aufbringen kann. Daher wird die herrschende Klasse, solange sie gebietet, unmöglich unserer Aufforderung nach Rüstungsbeschränkung nachkommen können. Eine unmögliche Forderung, die zu der tatsächlichen Entwicklung im Widerspruch steht, darf aber die Partei nicht aufstellen, da sie bei den Massen nur Illusionen über den Kapitalismus werten würde, statt sie zum Kampfe für den Sozialismus zu organisieren.

In Nr 42 der ,,Neuen Zeit“ macht Genosse Eckstein den Versuch, den ersten Standpunkt durch eine Erörterung der Bedeutung unserer Gegenwartsforderungen fester zu begründen und den zweiten zu widerlegen Dabei beweist er erstens, daß dieselbe Unmöglichkeit, die wir für die Abrüstung behaupten, für alle unsere Gegenwartsforderungen gilt; die unter dem Kapitalismus ebensowenig zu verwirklichen sind, zweitens aber, daß die Verwirklichung der Rüstungsbeschränkung gar nicht ausgeschlossen ist. Das ist entschieden mehr bewiesen; als nötig wäre; entweder das eine oder das andere hätte genügt. Wir wollen hier auf die letzte Frage, die das Wesen des Imperialismus berührt und hier schon diskutiert wurde, nicht eingehen, sondern bloß einige Bemerkungen über Wesen und Bedeutung unserer Gegenwartsforderungen machen.

Genosse Eckstein stellt fest, daß unsere Gegenwartsforderungen mit dem Bestand des Kapitalismus unvereinbar, also innerhalb des Kapitalismus undurchführbar sind. Gut. Aber diese Eigenschaft haben sie mit vielen anderen Wünschen und Forderungen gemein, die nicht in unserem Programm der Augenblicksforderungen stehen. Weshalb fehlen diese? Weshalb enthält das Programm zwar politische Demokratie, Volkswehr, Demokratisierung der Justiz usw, die sämtlich unter dem Kapitalismus undurchführbar sind, aber nicht Recht auf Arbeit oder Verbot der Einführung arbeitsparender Maschinen, die gleichfalls unter dem Kapitalismus undurchführbar sind? Die Logik der Feststellung, daß unsere Gegenwartsforderungen undurchführbar sind, ist offenbar diese: dann kann man ruhig noch ein paar andere undurchführbare Forderungen (wie zum Beispiel die Abrüstung) hinzufügen Aber dann ist es auch klar, daß mit dieser Feststellung das Wesen unserer Gegenwartsforderungen gar nicht berührt wird. Die Kernfrage, worauf es ankommt, weshalb gerade diese Forderungen in unserem Programm stehen und andere gleich undurchführbare nicht, wird von Eckstein nicht behandelt.

Die Antwort ergibt sich sofort, wenn man die Frage stellt, weshalb bestimmte Forderungen undurchführbar sind Nehmen wir als Beispiel die Forderungen, die zusammen die politische Demokratie bilden einerseits und das Verbot neuer Maschinen; die massenhaft Arbeiter ins Elend stürzen; andererseits. Bei beiden ist die Erfüllung unvereinbar mit dem Kapitalismus, aber, wie jedermann sofort einsieht, aus völlig verschiedenen Gründen Die Erfüllung der zweiten Forderung ist mit der kapitalistischen Produktion, deren Entwicklung sie verhindern würde, unvereinbar; die der ersten würde diese Entwicklung nicht beeinträchtigen, sondern bloß die politische Herrschaft der Kapitalisten gefährden. Die Unmöglichkeit für die herrschende Klasse; etwas zu tun, was zu der kapitalistischen Entwicklung im Widerspruch steht, ist ganz anderer Natur als ihre begreifliche Weigerung selbst ihre Macht zugunsten des Proletariats zu schmälern. Die zweite Forderung ist ökonomisch unmöglich, und deshalb können wir sie nicht erheben. Die erste ist politisch ausgeschlossen , weil der Wille zur Macht bei der Bourgeoisie ihr-entgegensteht, und deshalb bildet sie gerade ein Kampfziel für das Proletariat. Man könnte hier vielleicht einwenden, daß auch die politische Herrschaft der Bourgeoisie für den Bestand es Kapitalismus notwendig ist; aber das beweist bloß, daß hinter diesem Unterschied noch ein anderer steht. Die Verwirklichung unserer demokratischen Forderungen, die die Herrschaft der Kapitalistenklasse antasten würde, bedeutet eine Weiterentwicklung der Gesellschaft über den Kapitalismus hinaus. So wird die gesellschaftliche Entwicklung zum Maßstab unserer Forderungen; was die Bourgeoisie nicht will, weil es die Entwicklung hemmen würde, können wir auch nicht wollen; was die Bourgeoisie nicht will, weil es die Gesellschaft über den Kapitalismus hinaus zum Sozialismus entwickeln würde, bildet das Objekt unseres Kampfes, und nur solche Forderungen können wir in unser Gegenwartsprogramm aufnehmen.

Wenn Genosse Eckstein sagt: „Die Verwirklichung unseres Gegenwartsprogramms ist vielmehr nichts anderes als die politische Seite der sozialen Revolution selbst“ (S. 570), so ist das nur halbwegs richtig. Gewiß, das Proletariat wird erst dann, wenn es die Herrschaft erobert hat, daran gehen können, die von ihm aufgestellten Forderungen und Sozialreformen vollständig durchzuführen; früher wird man nicht darauf rechnen können Aber dabei wird es sich nicht auf dasjenige beschränken, was unser Programm der Augenblicksforderungen enthält; so wird dann die praktische Durchführung des Rechtes auf Arbeit, das heißt die Aufhebung der Arbeitslosigkeit, die nicht in unserem Programm vorkommt, eine seiner wichtigsten Aufgaben sein. Von alledem, was in der Richtung der Entwicklung liegt und einen Hebel der Entwicklung zum Sozialismus bilden würde, stehen in unserem Gegenwartsprogramm nur solche Forderungen, die mit dem Kapitalismus als ökonomisches System vereinbar sind.

Das ist schon deshalb selbstverständlich, weil dieses Programm für die Agitation dient, um als Ergänzung zu unserer Kritik des Kapitalismus im Augenblickskampf Anhänger zu gewinnen. Eckstein weist auch auf die Bedeutung dieses Programms hin, die Heuchelei der Gegner zu entlarven. Aber das ist nur möglich, wenn Redner und Hörer alle davon überzeugt sind, daß an diesen Forderungen nichts Unmögliches haftet, das ihrer sofortigen Verwirklichung entgegenstehen würde – nichts als nur die Weigerung der Bourgeoisie, die eigene Macht und Herrschaft zu beschneiden. Daß sie das bestehende ökonomische System untergraben würden, kann für die Massen, die wir gewinnen wollen, kein Hindernis sein; aber sie dürfen nicht ein anderes ökonomisches System voraussetzen als das heutige. Daher enthalten sie zum Beispiel Verbesserung des Volksschulunterrichtes – aber nicht akademisch-wissenschaftliche Ausbildung für alle; Volkswehr – aber nicht allgemeine Entwaffnung; Arbeiterschutz und Achtstundentags – aber nicht Recht auf Arbeit. (*) Das bildet also ihr-Merkmal: sie sind unter dem Kapitalismus möglich, daher sind sie brauchbar für unser Programm; sie bilden in ihrer Gesamtheit eine Macht, die den Kapitalismus aus den Angeln hebt, daher sind sie nicht verwirklicht und bloße Programmforderungen des Proletariats. Es ist wohl überflüssig, ausführlich darzulegen, daß ihre Verwirklichung nicht den einzigen, notwendigen Weg zum Sozialismus bildet, sondern den Weg, auf friedliche Weise, ohne gewaltige politische Erschütterungen zum Sozialismus zu gelangen; darin liegt ihre große agitatorische Bedeutung.

Aus diesem Wesen unserer Augenblicksforderungen ergibt sich zugleich, daß ihre Undurchführbarkeit unter dem Kapitalismus nicht im absoluten Sinne gilt. Wie viel oder wie wenig von jeder unter ihnen tatsächlich verwirklicht wird, ist eine Machtfrage. Bricht in der herrschenden Klasse die Ansicht durch, die Verwirklichung einer dieser Forderungen liege in ihrem Interesse – sei es, um das Proletariat zu beschwichtigen, sei es gegen andere bürgerliche Klassen –, so wird plötzlich das Unmögliche möglich. Tatsächlich sind, kleinere Zugeständnisse auf diesem Gebiet, namentlich auf dem Gebiet des Arbeiterschutzes und des Wahlrechtes; wiederholt von den-Arbeitern erkämpft worden. Über die Frage, in welchem Maße man die Verwirklichung einer bestimmten Reform erwarten kann, können deshalb Meinungsverschiedenheiten zwischen denjenigen, die sich sonst am nächsten stehen, leicht vorkommen.

Hier ergibt sich nun, in welchem Sinne Radek recht hat, diese Forderungen durchführbar, Eckstein, sie undurchführbar zu nennen. Zugleich wird bei dieser Einsicht der schroffe Gegensatz zwischen Gegenwart und Zukunft aufgehoben, der sich bei Eckstein zeigt, wo er unser Gegenwartsprogramm für ein Zukunftsprogramm für „den Tag nach der Revolution“ erklärt. Wenn jetzt da und dort den herrschenden Klassen Wahlrechtserweiterungen oder Reformen abgerungen werden, und wenn in der Zukunft einmal die herrschende Klasse in Deutschland, dem Drucke einer viel gewaltigeren proletarischen Aktion weichend, die wichtigsten und entscheidenden demokratischen Rechte zugestehen muß, so besteht zwischen beiden Vorgängen nur ein gradueller Unterschied – und doch-bildet letzteres einen wichtigen Teil der politischen Revolution, die dem Proletariat die Herrschaft gibt. In der Revolution vollzieht sich im großen, rasch und im gewaltigen Maßstab; was jetzt langsam und im kleinen stattfindet: durch eine Umwandlung der Machtverhältnisse werden dann unsere Programmforderungen ganz durchgeführt, von denen bis jetzt nur kleine Ansätze verwirklicht wurden.


Betrachten wir jetzt die Forderungen, die nicht in unserem Programm aufgenommen sind. Forderungen, die der ökonomischen Entwicklung widersprechen, sagten wir, darf die Sozialdemokratie nicht aufstellen, auch wenn sie im augenblicklichen Interesse der Arbeiter zu liegen scheinen. Weshalb nicht? Man denkt dabei oft an eine Art moralischer Pflicht der Partei – weil sie doch am meisten den Fortschritt der Welt vertritt –, diesen Fortschritt nicht zu hemmen. Neue arbeitssparende Maschinen werfen zahllose Arbeiter aufs Pflaster, überantworten sie dem Hunger und dem Elend; trotzdem kämpfen wir nicht dagegen an und nennen wir einen solchen Versuch reaktionär, weil – nach diesem Gedankengang – die Menschheit Interesse daran hat, daß die Produktivität der Arbeit möglichst hoch gesteigert wird. Aber ist das richtig? Die Arbeiterklasse hat keinen Vorteil davon, denn die Steigerung der Produktivität der Arbeit vergrößert bloß den Mehrwert. Nur in der sozialistischen Zukunft fällt ihr Vorteil der ganzen Menschheit zu; aber dann wird, was an rückständigen und unproduktiven Arbeitsmethoden vorhanden ist, mit leichter Mühe und ohne daß es einem Menschen Leid zufügt, beseitigt werden. Für die sozialistische Gesellschaft ist es also durchaus nicht nötig daß die neuen Maschinen jetzt schon eingeführt werden.

Ein anderes Interesse könnte für das Proletariat darin erblickt werden, daß durch die technische Entwicklung die Konzentration der Betriebe steigt; das Kleinbürgertum weiter zurückgeht, das Proletariat vermehrt und mehr konzentriert wird, also die materiellen Vorbedingungen der sozialen Revolution in höherem Maße verwirklicht werden. Aber aus diesem Grunde eine Entwicklung, die den Volksmassen schweres Leiden zufügt, fördern zu wollen, wäre für eine Partei, die diese Massen vertritt, genau so widersinnig, als wenn die Arbeiter für ihre eigene Verelendung einträten, bloß um die Empörung gegen den Kapitalismus zu steigern. Die Verelendung, die Proletarisierung, die Unsicherheit der Existenz – für das alles sorgt der Kapitalismus ohne unser Zutun schon mehr als ausreichend. Wir wissen, daß wir diese Entwicklung nicht aufhalten und ihre Begleiterscheinungen nur zum Teil lindern können; daher beteiligen wir uns nicht an der kleinbürgerlichen Pfuscherei, die glaubt, dagegen ankämpfen zu können. Aber es ist auch nicht unsere Aufgabe, die kapitalistische Entwicklung zu fördern.

Darin liegt der Fehler einiger Revisionisten, die aus einer mechanischen Auffassung des Satzes, daß die kapitalistische Entwicklung den Sozialismus hervorbringt, unsere Pflicht ableiten, diese kapitalistische Entwicklung möglichst zu fördern. Diese Anschauung tritt vor allem in ihrer Befürwortung der Kolonialpolitik hervor; überhaupt muß ein solcher Standpunkt zu der Verfechtung einer Interessenharmonie zwischen Bourgeoisie und Proletariat in Fragender allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung führen Es ist aber nicht unsere Sache, in dem Zuge der kapitalistischen Entwicklung die Maschine stärker zu heizen, damit er uns rascher ins gelobte Land bringt – sein Lauf bedeutet Tod und Verderben für zahllose Menschenmassen. Wir wollen den Zug der Entwicklung in ein anderes Geleise bringen. Denn der Sozialismus ist nicht ein neuer Zustand, der irgendwo am Ende der Bahn eintritt, wenn der Zug weit genug gefahren und seine Kraft erschöpft ist. Der Sozialismus bedeutet eine ganz neue, andere Richtung der Entwicklung, die an jedem Punkte der heutigen Entwicklung eingeschlagen werden kann und am Tage der Eroberung der Herrschaft durch das Proletariat tatsächlich eingeschlagen wird.

Kehren wir zu der Frage zurück, weshalb wir keine Forderungen aufstellen, deren Tendenz es sein würde, den Zug der kapitalistischen Entwicklung aufzuhalten. Nicht, wie wir sahen, aus Ehrfurcht vor dieser Entwicklung selbst, die wir nicht hemmen dürfen Sondern aus der Einsicht in die Unaufhaltsamkeit dieser Entwicklung. Nicht aus dem Bewußtsein ,daß es nicht sein darf, sondern aus der Erkenntnis, daß es nicht sein kann. Forderungen aufstellen, deren Verwirklichung ausgeschlossen ist, ist nutzlose Kraftvergeudung; propagandistisch wirken sie nur dahin, die Einsicht in die Wirklichkeit zu trüben Die Vertreter der Bourgeoisie stehen solchen Forderungen stark gegenüber, weil sie fühlen, daß die Entwicklung unvermeidlich ist und daß Gebot der Wirklichkeit und utopischer Wunsch sich hier gegenüberstehen.

Allerdings könnte es gewagt erscheinen, eine solche Behauptung der Unmöglichkeit aufzustellen; wo Kleinbürgertum oder Kleinbourgeoisie parlamentarisch mächtig sind, könnten sie doch wohl, sei es mit Hilfe des Proletariats, ein Gesetz in diesem Sinne durchdrücken. Aber dann wird sich immer zeigen, daß das Aufhalten der Entwicklung teilweise nur Schein und Augenblickserfolg ist, teilweise aber ein schlimmeres Übel als die Entwicklung selbst. Wenn es einmal gelingen könnte, dem reißenden Strom einen Damm vorzubauen, so sucht er sich einen Umweg oder ergießt sich in einen breiten Sumpf. Die Hemmung der kapitalistischen Entwicklung konserviert nicht die alte vorkapitalistische oder kleinkapitalistische Wohlfahrt und Ruhe, sondern zwingt dem Kapital neue, meist wucherische Ausbeutungsformen auf; sie führt zur Stagnation, die die Menschen noch schlimmer bedrückt und Geist und Kraft bei ihnen so sehr zugrunde richtet, daß aus dem Drucke keine revolutionäre Tatkraft mehr entspringen kann. Was bisher an solcher reaktionären Gesetzgebung produziert wurde – wie Antitrustgesetze –, hat sein Ziel verfehlt; wo reaktionäre Parteien ans Ruder kamen, haben sie doch für das Großkapital regieren müssen, nur noch korrupter als andere, oder sie sind gescheitert Daher kann man ruhig behaupten, daß jeder Versuch, den Kapitalismus in seiner Entwicklung aufzuhalten und in seine alten Formen zu bannen, notwendig scheitern muß. Das Proletariat kann daher solche Forderungen, deren Verwirklichung durch die tatsächliche Entwicklung ausgeschlossen ist, nicht aufstellen.

Ob die Rüstungsbeschränkung durch internationale Verständigung zu diesen Forderungen gehört, ist die eigentliche Streitfrage, um die es sich handelt. Alles andere, was man einander als falsche Meinungen zudichtet, dient nur, die Sache zu komplizieren, und soll daher aus der Debatte entfernt werden; dazu sollen die obigen Darlegungen über die Natur unserer Gegenwartsforderungen dienen, die, wie wir glauben, wenig Widerspruch finden werden. Der Kampf der Meinungen geht nur um die Frage, ob bei der Kraft und der inneren Notwendigkeit der imperialistischen Politik für die Bourgeoisie eine Eindämmung der Rüstungen aussichtslos und unmöglich ist, wie wir glauben, oder ob sie trotzdem möglich bleibt, wie Kautsky und Eckstein annehmen.


Zum Schlüsse müssen wir uns noch mit dem Schlüsse des Ecksteinschen Artikels befassen, wo er ein paar Sätze aus einem unserer Korrespondenzartikel zitiert, um uns damit, nach immer mehr gebräuchlichem Muster, in die anarchistische Wolfsschlucht zu werfen. In diesem Artikel „Die Milizforderung“, der an den Aufsatz des Genossen Grimm anknüpfte, (**) stellten wir am Schlüsse die Forderungen der Abrüstung und der Miliz in folgender Weise einander gegenüber:

Hier liegt der Unterschied zwischen den Forderungen der Abrüstung (im Sinne der fortgesetzten Rüstungsbeschränkungen durch die Regierungen) und der Miliz. Die Erfüllung der ersten Forderung würde eine Erleichterung des Druckes des Kapitalismus auf die Massen bedeuten, die Erfüllung der zweiten aber eine Kraft zum Sturze des Kapitalismus. Die Volkswehr legt ein wichtiges Stück Macht in die Hände des Proletariats; daher ist sie eine Forderung, die in der Richtung der Entwicklung liegt. Die Abrüstung vergrößert die proletarische Macht nicht, könnte sie vielmehr verringern, insoweit sie die Unzufriedenheit der anderen Volksschichten dämpft, und sie liegt gar nicht in der Richtung der realen Entwicklung. Die Kapitalistenklasse will von der Abrüstung nichts wissen, weil sie vorwärts und nicht rückwärts will; sie will aber von der Volkswehr nichts wissen, weil diese einen Sprung vorwärts, über den Kapitalismus hinaus, bedeuten würde. Für das Proletariat liegt daher nicht die geringste Ursache vor, an unserer Forderung auf dem Militärgebiet, Volkswehr an Stelle des stehenden Heeres, etwas zu ändern.

Genosse Eckstein ist darüber ganz entsetzt. Wie, ruft er, „eine Erleichterung des Druckes des Kapitalismus auf die Massen ist also keine Vergrößerung der proletarischen Macht! Wozu dann unsere ganze Sozialpolitik wozu unsere Gewerkschaften und Genossenschaften?“ Weil, lieber Freund Eckstein, Verbesserung der Lage der Arbeiter und Lohnerhöhung an sich sehr wertvolle Ziele sind, auch wenn die Macht des Proletariats dabei nicht steigt. Der ganze Kampf der Arbeiterklasse besteht unmittelbar aus einem nie endenden Kampfe um Verbesserungen; sie muß dafür kämpfen, so wie jedes lebende Wesen um Leben und Luft kämpft. Die Wirkung des Kampfes ist in der Regel zugleich eine Steigerung der Macht; die Verbesserung der Lebenshaltung selbst kann aber bisweilen auch umgekehrt wirken. () Lebenshaltung und Macht sind eben zwei Verschiedene Dinge. Was hier den Genossen Eckstein irreführte, ist die Tatsache, daß sie in den Gewerkschaften und den Genossenschaften zusammen vorkommen; die Macht liegt hier aber, wie jedermann weiß, nicht in der gesteigerten Lebenshaltung sondern in der Organisation.

Eine Erleichterung des Druckes hat also mit einer Vergrößerung der Macht nichts zu tun der Kampf um Erleichterungen kann, wo er sie durch führbare Ziele geführt wird, unsere Macht steigern; die Erleichterung selbst kann aber, wo sie zufälligen Umständen zu verdanken ist und dann zur Einschläferung und Erschlaffung der Organisation führen kann, die proletarische Macht verringern. Gilt das schon für die Arbeiter einigermaßen, so gilt das umso mehr für andere Gesellschaftsschichten, die aus eigenem Antrieb keine revolutionäre Macht bilden Die mehr oder weniger proletarisierten kleinbürgerlichen Schichten ohne Organisation, ohne klare Einsicht, ohne feste proletarische Disziplin, empören sich gegen den Kapitalismus nur dann, wenn er sie unerträglich schwer bedrückt. Das ist aber die Wirkung des Imperialismus. Er rüttelt mit seinen Steuern, seiner Teuerung, seinen Kriegsdrohungen die weitesten Volkskreise auf, die sonst unter der kapitalistischen Ausbeutung noch ziemlich gleichgültig blieben, und treibt sie unserer Partei zu, wies sich schon bei den Wahlen der letzten Jahre zeigte.

Natürlich liegt in der revolutionierenden Wirkung dieses gesteigerten Druckes keine Ursache für uns, ihn erhalten oder, fördern zu wollen; hier gilt dasselbe, was wir beiden arbeitsparenden Maschinen darlegten: es ist nicht unsere Sache, die kapitalistische Entwicklung zu fördern; wir kämpfen in beiden Fällen bloß deshalb nicht gegen eine unvermeidliche Entwicklung an, weil das aussichtslos ist. Unsere Sache ist es, wie bei allerkapitalistischen Entwicklung, festzustellen, wie sie unsere Ziele fördert und unsere Kraft stärkt; unsere Sache ist es, sie auszunutzen, indem wir die Massen über die Ursache des Druckes aufklären. Das ist es, was in dem angegriffenen Satze enthalten ist: die Feststellung daß die anderen kleinbürgerlichen Volksschichten durch den Druck der Rüstungen und Steuern rebellisch werden.


Anmerkungen

*) Wir lassen die Frage beiseite, ob zu den hier aufgestellten Merkmalen alle in unserem Programm enthaltenen Forderungen stimmen; es handelt sich hier nicht um eine Kritik des Inhaltes des Programms, sondern um eine Darlegung seines allgemeinen Charakters.

**) Wir benutzen diese Gelegenheit, um uns dem Genossen Grimm gegenüber zu entschuldigen, der mit einem gewissen Rechte Anstoß daran genommen hat, daß wir von ihm sagten, sein Artikel wolle die Milizforderung „herabsetzen“. Wir haben mit diesem Worte natürlich nicht sagen wollen, daß er diese Forderung ungebührlich herunterzureißen suchte, sondern bloß, daß er die übertriebene Wertschätzung die nach seiner Meinung bei uns herrschte, auf das richtige Maß herunterdrücken wollte. Daß er aber mit dieser Meinung sachlich im Unrecht ist, hat er aus demselben Artikel ersehen können, wo wir den Gegensatz der untergehenden, gegen das Eindringen kapitalistischer Unterdrückung machtlosen kleinbürgerlichen Demokratie und der aufsteigendem den Kapitalismus besiegenden proletarischen Demokratie, auch in der Heeresorganisation, betonten.

†) Um hier nicht zu viel Raum zu beanspruchen möchten wir für das Verhältnis von Sozialreform und proletarischer Macht auf unsere Schrift „Die taktischen Differenzen“ (S. 20 ff) verweisen.


Compiled by Vico, 16 February 2021