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Antonie Pannekoek Archives

Rätekorrespondenz

Quelle: a.a.a.p.


Rätekorrespondenz

Internationale Rätekorrespondenz 1934-1937 / Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland). – Transkribiert und herausgegeben von Hans-Peter Jacobitz und Thomas Königshofen; Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek, Dezember 2020, 504 S., € 13,16, ISBN 979-8551636052


Der historische Materialismus / [Anton Pannekoek], 1934


Quelle:  Der historische Materialismus / [Anton Pannekoek]. – In: Internationale Rätekorrespondenz : Theoretisches und Diskussionsorgan für die Rätebewegung  – Ausg[abe]. der Gruppe Int[ernationaler]. Kommunisten, Holland. – 1934, Nr. 2; Quelle der Transkription: Rätekommunismus , gemacht von Thomas, Korrektur Hans-Peter, Dezember 2020.


[I.]

Am meisten umstritten ist, und dabei am wenigsten begriffen wird im historischen Materialismus, welche Rolle der menschliche Geist in dieser Lehre spielt. Daran ist zu einem bestimmten Grade wohl die Formulierung schuld. Eine Formulierung ist eine harte, genaue Begriffskombination, und ebenso wie ein reiner Begriff niemals die reiche Fülle der Wirklichkeit wiedergeben kann, so kann auch eine Formulierung nicht den vielseitigen Zusammenhang in der wirklichen Welt zum Ausdruck bringen. Wer sich nur an die Formulierung hält, kann in spitzfindiger Zerlegung der Begriffe, ohne es zu bemerken, immer weiter von der lebenden Wirklichkeit abirren. Wer den historischen Materialismus kennen lernen will, muss stets die Formulierung als kurze Regel nehmen, mit welcher die Beziehungen in der Wirklichkeit zu begreifen sind.

Der historischen Materialismus ist in erster Linie eine Erklärung, eine Auffassung von der Geschichte; besonders von ihren großen Geschehnissen, den großen Bewegungen der Völker, den großen Umwälzungen in der Gesellschaft. All dieses geschichtlich übermittelte Geschehen besteht aus Handlungen von Menschen, die ihre Welt verändern oder zu verändern versuchen. Wodurch werden sie getrieben? Erklärung der Geschichte heißt also: Erklärung der Triebkräfte, der Ursachen, die die Menschen zum Handeln brachten.

Vielfach war es unmittelbare Not, der eiserne Griff des Hungers, der allen lebenden Wesen eigene Trieb der Selbsterhaltung. Die Geschichte kennt viele Beispiele, dass die Massen durch den Hunger zur Empörung getrieben wurden und so den Anstoß zu den Revolutionen gaben. Doch daneben gibt es auch andere Motive, die die Klassen zur Aktion treiben und ihre Taten bestimmen: allgemeinere, abstrakte, sogenannte ideelle Motive, die vielfach zu der Klassen – Selbsterhaltung und dem Eigeninteresse im Gegensatz stehen und zu begeisterter Aufopferung befähigen. In den kämpfenden Klassen leben tiefere Gedanken und Gefühle, allgemeine Auffassung über was gut und für die Welt notwendig ist, Ideen und Ideale, die in Losungen kurz zusammengefasst werden; und diese bestimmen für ihr eigenes Bewusstsein ihre Taten. Man bezeichnet diese Motive mit verschiedenen allgemeinen Namen wie: Freiheitsliebe, Vaterlandsliebe, Konservatismus, Unzufriedenheit, Sklavengeist, Revolutionsgeist usw. Aber dass diese Namen an und für sich keine Erklärung geben, ist ohne weiteres deutlich.

Der Materialismus in der Marx’schen Geschichtserklärung leugnet keinesfalls diese geistigen Motive, sondern führt sie auf materielle Ursachen zurück, auf die wirklichen Verhältnisse in der Menschenwelt. Wir nennen diese Verhältnisse materiell in dem Sinne, dass sie objektiv zu konstatieren, wahrnehmbar sind, im Gegensatz zu subjektiven Vorstellungen, nicht in dem Sinne von Materie im Gegensatz zu Geist. Es ist oft gesagt worden, dass die Wirklichkeit in der Menschenwelt in der Hauptsache doch geistiger Natur ist, weil der Mensch in erster Linie ein mit Willen und Denken begabtes Lebewesen ist; auf jedem Gebiete in der Gesellschaft und in der Politik bestehen die Beziehungen zwischen den Menschen nur dadurch, dass sie sich dessen mehr oder weniger bewusst sind, vermittels ihres Bewusstseins, ihrer Gefühle, ihres Wissens, ihres Willens.

Diese Entgegnung trifft den historischen Materialismus nicht. Wir richten die Aufmerksamkeit darauf, dass überall wo in der Gesellschaft Menschen miteinander in Berührung kommen, reale, wirkliche Verhältnisse dahinter stehen, welche, ob die Menschen sich dessen bewusst sind oder nicht, ob sie dieselben begrüßen, sie hassen, sie erkennen oder auch nicht erkennen wollen, darum doch nichts von ihrer Realität verlieren. Hinter jedem Kampf oder Frieden zwischen Arbeitern und Unternehmern steht der wirkliche Zustand, dass die Arbeitskraft vom Arbeiter an den Kapitalisten verkauft wird, hinter der Auseinandersetzung über Freihandel oder Staatsschutz steht das reale Verhältnis vom Käufer zum Verkäufer. Hinter den Parteiprogrammen und Losungen über Demokratie oder Reform steht das wirkliche Verhältnis zwischen Regierung und Untertanen, das Verhältnis von Klasse zu Klasse; jedes Gesetz ist, außer einem Stück Papier, der formulierte Wille der Regierenden, die über die Macht verfügen, ihren Willen durchzusetzen. Alle diese Dinge, mag man sie geistig oder materiell nennen, sind objektiv wahrnehmbar und daher im Sinne von Marx eine materielle Wirklichkeit.

Diese Beziehungen zwischen den Menschen sind nicht willkürlich. Sie sind ihnen gegeben, und sie haben nicht einmal die freie Wahl, welche Rolle sie in der Gesamtheit der Beziehungen spielen wollen. Sie sind ihnen gegeben durch das ökonomische System, worin sie leben. Die Gesellschaft, die Gemeinschaft, von der der einzelne Mensch ein Teil ist und wovon er sich nicht ausschließen kann, ist ein Produktionsorganismus; dieser Organismus dient dazu, für die Menschen alles zu erzeugen, was zum Leben notwendig ist – welcher Art es auch sein möge. In erster Linie müssen die Menschen leben, also herrscht mit überragender Gewalt der ökonomische Organismus, der dieses Leben sicherstellt. Die Beziehungen, in die dieser Organismus die Menschen zueinander stellt, sind eine so zwingende Realität wie die leibliche Existenz des Menschen selbst; sie erfüllen sein Leben und bestimmen seine Gedanken mit unwiderstehlicher Gewalt. Zu glauben, dass man sich außerhalb dieser Beziehungen stellen kann, unabhängig, steht der Annahme gleich, dass es ein vom Körper abgetrenntes Glied selbständig fortleben kann. Der Ausspruch von Marx, dass die Ideen und gesellschaftlichen Einrichtungen der Menschen bestimmt werden durch die Art und Weise, wie sie ihren Lebensunterhalt gewinnen, bedeutet also nicht, dass jeder Mensch immer nur an Essen und Trinken denkt, er bedeutet, dass der Produktionsprozess die Menschen in bestimmte Beziehungen zu einander bringt, die ihr Leben erfüllen, und so auch ihr Fühlen, Denken und Wollen bestimmen. Dabei ist im Auge zu behalten, dass in der ganzen Vergangenheit und auch jetzt noch der Lebensunterhalt nicht sicher gestellt ist, so dass die Sorge um das tägliche Brot und die Furcht vor Mangel wie ein Alpdruck auf den Gehirnen liegt und eine freie Erhebung des Geistes, ein Weitausschlagen der Gedanken verhindert. Ein wirtschaftliches System, das die Sorgen verbannt, und der Menschheit die vollkommene Herrschaft über ihre Lebensbedingungen sichert, wird auch dann noch durch seinen Charakter das Leben und die Gedanken bestimmen; aber um wie viel freier, umfassender und sorgloser werden diese Gedanken sein!

Wodurch sind nun die wirtschaftlichen Verhältnisse gerade so wie sie sind? Die Produktionsweise, die das Sein jedes Menschen bestimmt, ist selbst ein Produkt von Menschen; sie ist durch die Menschheit selbst in jahrhundertelanger Arbeit und Entwicklung aufgebaut. So arbeitet auch jeder jetzt mit an der weiteren Entwicklung. Sucht man nach den wichtigsten Elementen dieser Entwicklung, den vornehmsten Kräften, die die Produktionsweise bildeten, dann findet man die Technik und das Recht. „Das Recht bestimmt die Wirtschaft“, so formulierte Stämmler seine Bekämpfung des Marxismus. Hier äußert sich nicht nur der Wunsch der Juristen, den Gegenstand seines Studiums an die erste Stelle zu setzen als das bestimmende Fundament der Gesellschaft. Es ist auch der alte Gegensatz zwischen Materie und Geist darin enthalten. Die Technik umfasst das materielle Element, die sichtbare Bewegung von Arm, von Werkzeug, von Maschine. Die greifbare Arbeitstätigkeit jedoch macht noch nicht die Produktionsweise; das macht erst ihre Regelung durch die juristischen Formen, unter denen gearbeitet wird. Nicht das Werkzeug oder die Maschine, sondern der freie Arbeitskontrakt, der freien Warentausch, die freie Konkurrenz, die Betriebs- und Wirtschaftsfreiheit bildeten erst den Kapitalismus. Demnach wird das materielle Element, der technische Prozess, beherrscht und geleitet durch geistige Beziehungen, durch gesetzliche Regeln; das geistige Element, die Art und Weise, nach der die Menschen durch ihr Wollen und Denken ihre gegenseitigen Beziehungen regeln, ist primär. – Hierbei ist nun schon sofort zu bemerken dass der Gegensatz zwischen Technik und Recht nicht zusammenfällt mit dem Gegensatz zwischen Materie und Geist. Das Recht ist nicht bloß Regel, sondern auch zwingende Macht; es ist nicht nur die Formel des Gesetzesparagraphen, sondern auch der Säbel des Polizisten und die harte Mauer des Gefängnisses. Auf das geistige Element in der Technik aber werden wir noch zu sprechen kommen.

Im Übrigen ist die Behauptung Stämmlers richtig. Kapitalistische Produktionsweise ist nicht einfach Produktion mit Maschinen und in Fabriken, sondern diese Produktion unter der Herrschaft des Privatbesitzes. Eine Produktionsweise ist eine bestimmte Technik, geregelt durch bestimmte Rechts- und Eigentumsformen. Aber Stämmlers Behauptung ist nicht die ganze Wahrheit. Die beide Faktoren, Technik und Recht, sind nicht gleichwertig. Die Technik ist die gegebene Grundlage, durch den menschlichen Willen nicht ohne weiteres zu verändern, während das Recht, das Gesetz, im Bereich des Willens der Menschen liegt. Nicht willkürlich: Die Menschen regeln ihre Beziehungen, d.h., sie stellen fest, was Recht ist, so wie es unter einer bestimmten, gegebenen Technik notwendig ist, um die Produktion zu ermöglichen und weiter zu entwickeln. Die Technik des kleinen Handwerks machte die kleinbürgerliche Produktionsweise möglich und auch notwendig; sie nötigte die Menschen, den Privatbesitz an Produktionsmitteln als allgemeines Rechtsinstitut zu errichten, weil dadurch diese Produktionsweise gesichert wurde.

Die großen Maschinen machten den Großbetrieb notwendig und trieben zur Aufhebung aller Hemmnisse der Betriebs- und Kontraktfreiheit, die der freien Entfaltung der Produktion im Wege standen. So entstand aus der gegebenen Technik und der daran angepassten neuen Rechtsform der Kapitalismus.

Die Technik ist also die tiefste Grundlage; darum ist sie die wichtigste Produktivkraft, während das Recht zu dem darauf ruhenden, von ihm abhängigen Überbau gehört. Gerade weil Recht und Gesetz die Wirtschaft bestimmen, eben deshalb strengen sich. die Menschen an, Recht und Gesetz derart zu regeln wie für diese bestimmte ökonomische Struktur der Gesellschaft notwendig ist. Deshalb geht diese Anpassung des Rechts an den Bedarf der Technik zur Verwirklichung eines bestimmten ökonomischen Systems nicht von selbst und mit einem Schlage, sondern ist ein mühevoller Prozess des Kampfes der Klassen. Sie ist Sinn und Ziel aller politischen Kämpfe und aller großen Revolutionen; der Sozialismus ist auch nichts anderes als eine Umwälzung des Rechts und der Eigentumsformen, wie sie zu der reifsten Entfaltung der großindustriellen Technik gehören.

Die Grundlagen der Gesellschaft, die Produktivkräfte, werden heute hauptsächlich durch die Technik gebildet, in primitiven Gesellschaften spielten die Naturverhältnisse eine große Rolle. Diese Produktivkräfte entwickeln sich zu stets höherer Vollkommenheit, weil die Praxis der Arbeit selbst das Denken der Menschen auf die Mittel richtet, die Arbeit zu verbessern oder neue Bedürfnisse zu befriedigen. Die Technik besteht nicht bloß aus den materiellen Maschinen, Fabriken, Bergwerken und Eisenbahnen, sondern auch aus der Fähigkeit, sie zu schaffen, und aus der Wissenschaft, auf der sie beruhen. Die Naturwissenschaft, unsere Kenntnis der Naturkräfte, unsere Fähigkeit, damit zu arbeiten und zu rechnen, müssen wir gleichfalls zu den Produktivkräften rechnen. In der Technik ist also nicht nur ein materielles, sondern auch ein starkes geistiges Element enthalten. Für den historischen Materialismus ist dies eine Selbstverständlichkeit, denn im Gegensatz zu phantastischen Abstraktionen bürgerlicher Philosophen, stellt er den lebenden Menschen mit all seinen Leibesbedürfnissen in den Mittelpunkt der Entwicklung. In den Menschen ist das geistige und das materielle Element zu einer so festen Einheit verbunden, dass sie nicht zu scheiden sind. Sprechen wir von den menschlichen Bedürfnissen, dann ist das nicht nur, was sein Magen verlangt, sondern auch Nahrung für Kopf und Herz, und alle diese Bedürfnisse sind materiell und geistig zugleich. Auch in der menschlichen Arbeit, selbst der einfachsten, ist das materielle und das geistige gleichfalls stets eine Einheit, und es ist eine künstliche Abstraktion, sie trennen zu wollen.

Allerdings hat diese Abstraktion einen historischen Sinn. Die gesellschaftliche Entwicklung mit ihrer Arbeitsteilung und Trennung in Klassen machte einen Teil der geistigen Elemente des Arbeitsprozesses zu einer besonderen Funktion bestimmter Personen und Klassen und brachte damit eine Einengung des vollkommen „Mensch-seins“ an beiden Seiten.

So gewöhnten diese Spezialisten, die Intellektuellen, sich daran, in ihrer Arbeit das Geistige, im Gegensatz zu dem niedriger stehenden Materiellen zu sehen, und damit die organische und gesellschaftliche Einheit von beiden zu übersehen. Selbstverständlich muss das Bild, das sie sich von diesem verschrobenen Geschichtspunkt aus vom historischen Materialismus machen, völlig verkehrt sein.

II.

Die Geschichte besteht aus Taten der Menschen; ihre Erklärung beruht auf dem, was wir von der menschlichen Tätigkeit im Allgemeinen wissen. Der Mensch steht als ein Organismus mit bestimmten Bedürfnissen – Notwendigkeiten seiner Existenz – mitten in der Naturumgebung, aus welcher er seine Bedürfnisse befriedigen muss. Seine Bedürfnisse und seine Umgebung wirken auf ihn ein; sie sind die Ursachen der Handlungen, durch die er sich seine Existenz sichert. Er hat dies mit allen Lebewesen gemeinsam; in dem Maße aber, wie man auf eine höhere Entwicklungsstufe in der organischen Welt kommt, schiebt sich zwischen Einwirkung und Befriedigung immer stärker ein geistiges Element, ein Antrieb und ein Wille. In der menschliche Entwicklung tritt ein stets mehr vorherrschendes Bewusstsein hinzu; wenn auch ab und zu durch Not die ursprünglichen Triebe aufflammen als spontaner Wille, in den meisten Fällen nimmt doch der Prozess seinen Weg durch den menschlichen Geist hindurch und wirkt mittels der Gedanken, mittels der Idee, des bewussten Willens. Das empfundene Bedürfnis, und die Umgebung, die wahrgenommen wird, wirken auf den Geist und rufen darin Gedanken und Ziele wach, diese bringen den Körper in Bewegung und bewirken die Tat.

Für das Bewusstsein des handelnden Menschen selbst ist der Gedanke, die Idee, die Ursache ihres Handelns; sie fragen meistens nicht, von woher der Gedanke kommt. So erklärt auch die ideologische Geschichtsschreibung die Ereignisse in der Geschichte aus den Ideen der Menschen. Das braucht darum noch nicht unrichtig zu sein, aber es ist immer unvollständig; es ist wie auf halbem Wege stehen bleiben.

Der historische Materialismus geht bis auf die Ursachen zurück, aus welchen diese Ideen entstanden: zu den gesellschaftlichen Bedürfnissen, welche die durch das Gesellschaftsleben bedingte komplizierte Form des menschlichen Lebenswillens sind. Ein glänzendes Licht ist in solcher Weise durch die historische Schriften marxistischer Autoren über die großen geschichtlichen Ereignisse verbreitet worden. Und doch haben sie auch oftmals einem Missverständnis über den historischen Materialismus den Weg geebnet. Wenn sie mit durchschlagender Beweiskraft die materiellen, ökonomischen Ursachen der Umwälzungen hervorheben, dann glaubt der widerstrebende Intellektuelle demgegenüber daran festhalten zu müssen: Es ist doch unwiderlegbar, dass die Ideen einen großen Einfluss hatten. Er sieht nicht, dass die historisch-materialistische Erklärung, wenn sie auch in der Aufzeigung des Zusammenhanges rasch über die Ideen hinwegspringt, um die Grundursache und das Endresultat miteinander zu verbinden, im Wesentlichen doch nichts anderes tut, als die vorwärtstreibenden Ideen aus ihren gesellschaftlichen Ursachen zu erklären. Erklärte z.B. die alte Auffassung die Französische Revolution aus dem Freiheitssinn des emporkommenden Bürgertums, das das Joch des Absolutismus und des Adels von sich abschüttelte, der historische Materialismus erklärt als Ursache der Revolution, dass der aufkommende Kapitalismus den bürgerlichen Staat für seine Entwicklung brauchte, und diese kurze Formulierung muss ausführlicher umschrieben so verstanden werden: Der aufkommende Kapitalismus weckte in der bürgerlichen Klasse das Bewusstsein, dass Freiheit auf politischem und ökonomischem Gebiet notwendig war, entfachte damit die Begeisterung für diese Ideale zur hellen Flamme und trieb sie so zur revolutionären Tat.

Der Gedanke, die Idee, ist der Vermittler zwischen der Einwirkung der gesellschaftlichen Faktoren auf den Menschen und seiner historischen Tat. Was so im Geiste lebte und wuchs, hat sich kristallisiert in der Tat, die die Gesellschaft umwälzte, und bleibt darin unvergänglich bewahrt. Aber auch noch auf andere Weise wird es der Nachwelt erhalten; die Gedanken, die Empfindungen, die Leidenschaften, die Ideale, die die früheren Geschlechter zu Taten trieben, kommen auch in der Produktion ihrer Geistesarbeit zum Ausdruck, in ihrer Literatur, ihrer Wissenschaft, ihrem Glauben, ihrer Kunst, ihrer Philosophie, ihren Theorien und Ideologien; – es sind die Quellen, aus denen wir jene unmittelbar kennen lernen. Sie sind der besondere Gegenstand des Studiums in allen sogenannten geistigen Wissenschaften.

Für die gewöhnliche Geschichtsschreibung, die nur die Ereignisse und Taten bringt, erscheint es nicht nötig, immer diese Zwischenstufe hervorzuheben und beide Wirkungen – die der materiellen, ökonomischen Welt auf den Geist, und die von dem Geist zurück auf die materielle Welt, gesondert zu betrachten. Es genügt da meistens, den Zusammenhang zwischen den materiellen Ursachen und den gesellschaftlichen Resultaten aufzuzeigen; aus dem Wachstum der Produktivkräfte die Umformung der Produktionsweise und den dafür erforderlichen, sie begleitenden Klassenkampf und die politischen Umwälzungen abzuleiten. So wird es, besonders in kurzen, allgemeinen Zusammenfassungen, auch meistens gemacht. Will man jedoch das Geistesleben einer Periode, ihrer Ideologie, Religion, Kunst, die Entwicklung ihrer Wissenschaft begreifen, dann wird die Einwirkung der Gesellschaft auf den menschliche Geist zur Hauptsache, und dann ist es notwendig, tief in die Frage einzudringen, wie das Materielle auf den Geist einwirkt. Dann muss diese Seite des Marxismus, die Lehre vom Geistigen, vom Denken, vom Bewusstsein, eingehender entwickelt und angewandt werden.

Aber auch für die Erklärung der Geschichte selbst ist dies nötig, und um Einwände gegen unsere Lehre zu beseitigen, wenn wir den Marxismus auf die Gegenwart anwenden wollen, auf die Geschichte, die wir selbst erleben und machen, dann stehen wir den Dingen ganz anders gegenüber als bei einer Erforschung der Vergangenheit. Was in früheren Jahrhunderten geschah: gesellschaftliche Einwirkung auf die Menschen und umgekehrte Wirkung der Menschen auf die Gesellschaft, das ist fertig.

Die Reihe von Einwirkungen, worin der menschliche Geist Zwischenglied war, ist jedes Mal abgeschlossen; Endresultat und ursprüngliche Ursache sehen wir deutlich nebeneinander stehen. Aber dieselbe Kette von Ursachen und Wirkungen in unsere Zeit ist nicht fertig; wir befinden uns mitten in dieser Kette. Vielfach verschlungen ist die Art und Weise, wie die Gesellschaft daran arbeitet, den menschlichen Geist umzuformen, ohne dass dies sich schon in einer darauf folgenden Tat veräußerlicht und gefestigt hat. Zahllos sind die Fälle, dass eine neue Wirklichkeit nur eben erst beginnt auf die Geister einzuwirken. Hier kann man also noch nicht eine gesellschaftliche Ursache mit einem praktischen gesellschaftlichen Resultat verbinden; hier stehen wir mitten in den wachsenden Prozessen der Einwirkungen, des langsamen Reifens neuer Erkenntnis, der Propaganda, der Vorbereitung kommender Revolutionen. Hier ist der einfache Zusammenhang, der bei der Geschichte der Vergangenheit die Beweiskraft des historischen Materialismus bildete, noch nicht vorhanden; hier scheint dann in dem nicht zu entwirrenden Durcheinander von alten und neuen Ideen, von revolutionärem Klassenkampf, Reaktion und Apathie, die Lehre in jeder Hinsicht im Gegensatz zur Wirklichkeit zu stehen. Und hier tritt dann auch die Frage nach unserem praktischen Handeln auf, eine Frage, die bei der Erklärung der Geschichte nicht besteht: welche Rolle spielt unser eigenes Wollen und Wirken in diesem Prozess?

Es ist bekannt, dass diese Seite des Marxismus (durch offenbare gesellschaftliche Ursachen) im letzten halben Jahrhundert zu viel im Hintergrund geblieben ist. Die Sozialdemokratie musste in der parlamentarischen Periode des reifenden Kapitalismus sich beschränken auf Vorbereitung und ruhige Propaganda. Das Proletariat war noch nicht reif zu revolutionären Taten; also musste die Theorie vor allem die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution als Resultat aus der kapitalistischen Entwicklung demonstrieren. Da die Sozialdemokratie nicht zu Taten aufrief, sondern zum Abwarten, bis die materiellen Umstände reif geworden sein sollten, aufforderte, nahm auch die Theorie die Form eines mechanischen Zusammenhanges zwischen ökonomischer Ursache und gesellschaftlichen Umwälzungen an, wobei dann das Zwischenglied der menschlichen Aktivität aus dem Gesichtsfelde verschwand. Es ist bekannt, und nicht zufällig, dass gerade diejenigen unter den Theoretikern, die zu den Wortführern einer neuen aktiveren Taktik gehörten, auch in der Theorie den Nachdruck auf das Zwischenglied legten, auf den menschlichen Geist und auf seine Zusammenhänge – passiv und aktiv, empfangend und einwirkend – mit der Gesellschaft.

III.

Alles menschliche Handeln geschieht durch Vermittlung des menschlichen Geistes. Der historische Materialismus, als Wissenschaft des menschlichen Handelns, muss demnach mit einer bestimmten Wissenschaft des Geistes im engen Zusammenhang stehen. Sein Ausgangspunkt ist eine bestimmte Auffassung über das Verhältnis zwischen Denken und Sein; sein Inhalt ist selbst eine neue Philosophie; seine philosophische Grundlage ist die Lehre von der Einheit des Alls, die bei Marx und Engels einfach den Namen Materialismus trägt.

Der menschliche Geist wird völlig von der Umwelt bestimmt. Alles was im Geist ist, entstammt der realen Welt, die durch die Sinne auf ihn einwirkt. In diesem philosophischen Grundsatz des historischen Materialismus wird der Geist nicht der Materie unterordnet, sondern die Einheit des Geistes mit der ganzen Welt festgestellt. Jeder Teil des Weltganzen wird völlig durch die übrige Welt bestimmt; er besteht nur durch seine Einheit mit dem Übrigen; und sein eigenes Wesen, die Totalität all seiner besonderen Eigenschaften, ist nichts anderes als das Ganze, die Gesamtheit dessen, wie er die Einwirkung der übrigen Welt empfängt und zurückstrahlt, – das Totale all seiner Wechselwirkungen mit dem All. Wenn wir diesen Teil ein „Ding“ nennen, dann ist das nur ein Wort, der Name eines Begriffs, worin all diese Wirkungen, die wir als Erscheinungen wahrnehmen, zusammengefasst sind.

So ist auch der menschliche Geist – auch dieser Begriff ist nur eine Zusammenfassung einer endlosen Reihe von geistigen Erscheinungen – ein Teil des Alls, in fortwährender Wechselwirkung mit dem Übrigen: Aus der Welt strömen die Wirkungen in ihn hinein und umgekehrt wirkt er, durch das Medium des menschlichen Körpers, auf diese Welt zurück. Natürlich wird hier unter Welt nicht nur die materielle gegenständliche Welt verstanden. Unser Weltall ist nicht die Totalität alles dessen, was körperlich und greifbar ist, sondern alles dessen was wahrnehmbar ist und in diesem Sinne real ist. Dazu gehört also auch das Geistige in den Köpfen der Menschen. Die eingebildeten Objekte der Phantasie natürlich nicht – ein allgemeiner Weltgeist oder eine absolute Idee gehören nicht zu der wirklichen materiellen Welt. Aber diese Einbildungen selbst, die Vorstellungen eines solchen phantastischen Geistes, die in manchen Köpfen bestehen, diese Phantasien und dieser Glauben selbst, sie sind tatsächlich vorhanden, also real und demnach materiell in unserer Bedeutung des Wortes. Diese ganze materielle Welt ist Material für unseren Geist und steht ihm als Materie gegenüber. Alles was in ihm ist, ist Einwirkung der umgebenden Welt, und sein besonderes Wesen ist nichts als die Zusammenfassung seiner Eigenschaften, die Art und Weise wie diese Einwirkungen aufgenommen und verarbeitet werden.

Die erste wichtigste Eigenschaft ist das Vermögen, um die Geschehnisse festzuhalten, das Gedächtnis. Wie ein endloser Strom fließt der Weltprozess an unserem Geiste vor-über, wie ein endloser Strom fließen die Eindrücke, die Wirkungen der Welt in unseren Geist hinein und werden dort gesammelt. Das Bild, dass der Strom der Zeit an uns vorbei geht, gleicht dem Tau eines Fährbootes, an dem wir vorbeitreiben, immer nur einen Punkt festhaltend, den jetzigen Augenblick, der uns zugleich wieder entgleitet, ist kein richtiges Bild. Das Tau ohne Ende wird unter dem Vorwärtsgleiten eingeholt und sinkt aufgerollt in das Innere unseres Schiffes nieder. Das Weltgeschehen strömt in uns herein, und wir werden neu und anders. Immer reicher wird unsere Erfahrung, stets größer und voller der Inhalt unseres Bewusstseins. Was macht der Geist mit dieser fortwährend wachsenden Masse von Eindrücken?

Die zweite Eigenschaft, die das Wesen des Geistes charakterisiert, ist das Vermögen zu abstrahieren. Die unendlich verschiedene Masse der Eindrücke, die in den Geist eindringen, wird verarbeitet zu einem abstrakten Bild, worin das Allgemeine der konkreten, besonderen Erscheinungen zu Begriffen zusammengefasst ist. Die Technik dieses Prozesses, das Verhältnis vom Bild zum Objekt, das Wesen der Begriffe im Gegensatz zu der Wirklichkeit, wurde von J. Dietzgen in meisterhafter Klarheit dargelegt und braucht hier nicht ausführlich behandelt zu worden. In dem Begriff ist das Allgemeine, das Wesentliche, das Gemeinschaftliche, das Beständige jenes Teiles der Welt, jener Gruppe von Erscheinungen zum Ausdruck gebracht, die er darstellt; von dem Besonderen, dem Verschiedenen, den Wechselnden in der Wirklichkeit ist dabei abstrahiert. Für die unendliche Fülle und Verschiedenheit der Welt ist in unserem Kopfe kein Raum; deshalb muss der Geist sie vereinfachen, indem er die Verschiedenheiten und Unterschiede, die nebensächlich und zufällig sind, außer acht lässt. Die Begriffe sind, ihrer Natur nach, fest, hart, scharf abgegrenzt, während die Wirklichkeit, die sich in den Begriffen kristallisiert, wie ein rauschender Strom, stets anders, endlos verschieden und in bunter Fülle an uns vorbeifließt. Damit ist aber bereits gesagt, dass die Begriffe selbst nicht ruhig bestehen bleiben können; sie müssen immer wieder verändert, umgebildet, anders umgrenzt, durch andere ersetzt und so an die wechselnde Wirklichkeit angepasst werden.

Ununterbrochen dringt der Strom der Eindrücke und Erfahrungen aus der Umwelt in den Geist ein; sie werden dort gesammelt, verarbeitet, destilliert, generalisiert zu Gedanken, Begriffen, Urteilen, Ideen, Gefühlen, Regeln, die den Inhalt des Bewusstseins bilden, und sinken dann weg ins Unterbewusstsein und in die Vergessenheit. Stimmen die neuen Eindrücke mit dem bereits vorhandenen Bild überein, weil die Umwelt stets mit gleichen Formen zurückkehrt, dann wird dieses Begriffsbild immer fester gemauert und es versteinert zu einem unangreifbaren geistlichen Besitz. Und es geht nicht verloren mit der Person; durch das gesellschaftliche Zusammenleben und Zusammenarbeiten findet eine fortwährende Auswechslung der Ideen statt; das Bild, das sich der Geist von der Welt macht, ist kein individueller, sondern kollektiver Besitz. Der im Lauf der Zeiten von einer Gesellschaft erworbene geistige Besitz wird auf das heranwachsende Geschlecht übertragen; solange die Lebensverhältnisse sich nicht wesentlich ändern, findet das neue Geschlecht das überlieferte System der Begriffe und Ideen, die Ideologie, in Harmonie mit der Wirklichkeit. Dann wird diese Ideologie immer fester fundiert und unzweifelhafter.

Jetzt aber ändert sich die Welt; durch die menschliche Arbeit selbst nimmt die Gesellschaft immer neue Formen an; neue Eindrücke, neue Erfahrungen dringen in den Geist ein und passen nicht in das alte Weltbild. Der Geist fängt an zu bauen, aus dem alten Besitz und den neuen Erfahrungen.

Alte Begriffen werden verändert oder anders bestimmt, neue werden gebildet, Urteile ändern sich um, neue Ansichten setzen sich fest – eine neue Ideenwelt entsteht, rascher oder langsamer, aus Teilen des Alten, die mehr oder weniger angepasst werden, und dem neuen Acquisit. Es ist derselbe Prozess der in dem Vorwärtsschreiten der Naturwissenschaft stattfindet, wodurch das Bild, das wir uns von der Natur machen, immer wieder neu und anders wird. Mit dem Unterschied allerdings, dass dabei die Entwicklung nicht stattfindet, weil sie selbst sich stark ändert, sondern nur, weil unsere Erfahrung von der Welt, als Folge der immer genaueren und weiter vorwärtsdringenden Naturforschung fortwährend verändert. Außerdem findet dieser Entwicklungsprozess ruhiger, bewusster und objektiver statt, weil er außerhalb des gesellschaftlichen Kampfes der Leidenschaften und der direkten Lebensnot der Massen steht, also auch keine Sache der Massen, sondern Studienobjekt einer kleinen Zunft ist. Die Gesellschaft dagegen zieht alle in ihren Wirkungskreis, sie ist die eigentliche Welt für die große Masse der Menschen: sie zwingt mit Riesengewalt jeden Einzelnen in ihren Bann, weil sein Leben von ihr abhängt. Über die Gesellschaft, das heißt zugleich: über sein eigenes Leben, muss jeder Einzelne sich Gedanken machen; sie entstehen spontan, wachsen unbewusst in ihm empor, selten als objektive Wissenschaft, meistens als subjektive Vorstellungen. Und fortwährend verändert die Gesellschaft die Umgebung, das Lebensschicksal – in unserer Zeit mit Riesenschritten – und reißt auch die trägsten Gehirne widerwillig mit sich. In innerlichem Ringen, in heftigem Kampf oder ruhiger Denkarbeit werden die Gedanken revolutioniert; bisweilen plötzlich, wenn die Kräfte von außen besonders stark einwirken; aber oft langsam und lange Zeit hindurch kaum zu bemerken. In diesem fortwährenden Umformungsprozess passt sich das Bewusstsein dem gesellschaftlichen Sein an.

Wenn also Marx sagt, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt, so soll das nicht bedeuten, dass die Ideen der jeweiligen Zeit bestimmt werden durch die Gesellschaft dieser selben Zeit. Die gesellschaftliche Wirklichkeit des Augenblicks ist das eine, die aus der früheren Wirklichkeit entstandene Ideenwelt ist das andere Element, aus denen gemeinsam das neue Bewusstsein entsteht. Das Erste, die Einwirkung der materiellen Welt, ist der materielle Faktor, das Zweite, der schon vorhandene Besitz an Ideen und Vorstellungen, ist der geistige Faktor. Daher kommt es, dass bürgerliche Gelehrte, – nach dem äußeren Schein urteilend – hier glauben, die Unrichtigkeit des historischen Materialismus aufzeigen zu können, indem sie sagen: die materielle Wirklichkeit allein bestimmt nicht das Denken, die geistigen Faktoren sind ebenso wichtig. Sie übersehen dabei, dass die Welt der Gegenwart ihr Bild nicht auf ein unbeschriebenes Blatt schreibt, und dass es das abstrakte Bild der Eindrücke aller frühere Zustände ist, das im Bewusstsein festgeronnen liegt: das Bewusstsein wird bestimmt durch die Totalität der früheren und der gegenwärtigen Wirklichkeit. Die bürgerliche Auffassung geht von dem geistigen Bewusstseinsinhalt als von einem Gegebenen aus, das man hinnimmt, ohne seinen Ursprung zu untersuchen, das aus der „Natur“ des Geistes oder aus einem abstrakten, außerhalb des Menschen stehenden geistigen Wesen entspringt. Die marxistische Auffassung geht von der Überzeugung aus, dass der Bewusstseinsinhalt aus der Einwirkung der realen Welt entstanden sein muss, und sucht daher dessen Ursprung in den früheren Lebensverhältnissen der Menschen. Dies gilt nicht bloß für das Bewusstsein; auch in den anderen Eigenschaften des Geistes, in den Neigungen und Trieben, den Instinkten und Gewohnheiten, die in unbewussten Tiefen des menschlichen Geistes verborgen liegen und als eine geheimnisvolle, den Menschen an-erschaffene Natur erscheinen, offenbaren sich die ererbten Eindrücke aus tausenden Jahren der Vergangenheit, seit der primitivsten Urzeit.

Der Zusammenhang zwischen Geist und Gesellschaft gibt uns Einblick in die Ursachen, wodurch der Revolutionsprozess – wie man es gewöhnlich sagt – zurückgehalten und verlangsamt wird. Damit wird nicht nur die subjektive Tatsache gemeint, dass es langsamer geht, als es nach dem Wunsche und der Einsicht der vorwärtsdrängenden Revolutionäre gehen sollte, sondern auch die objektive Tatsache, dass die Wirklichkeit von heute in so geringem Maße den Geist der meisten Menschen beherrscht und bestimmt. Wir sprechen dann von der Macht der Tradition als der großen Kraft, die die Entwicklung hemmt. Bei einer Betrachtung der heutigen Welt, ihrem Klassenkampf, stößt man fortwährend auf diese gewaltige Macht; es ist keine Erklärung möglich, wenn man sie außer Acht lässt. Dabei stellen wir uns aber durchaus nicht außerhalb des Marxismus, denn jede Tradition ist selbst ein Teil der Wirklichkeit, die in den Köpfen der Menschen lebt, die ihre Taten mitbestimmt, die kräftig auf Andere einwirkt und solcherweise einen großen Einfluss auf das Geschehen hat.

Was sie zur Tradition macht, ihre besondere Natur im Gegensatz zu anderen geistigen Erscheinungen ist, dass sie ein Stück der Wirklichkeit ausschließlich geistiger Natur ist, deren materielle Wurzeln in der Vergangenheit liegen, – die also nur von der Vergangenheit lebt und in der neuen Welt kaum noch Nahrung findet. Als Beispiel mögen die beiden mächtigen Ideologien dienen, die den Geist der Arbeiter am stärksten beherrschen und sie am meisten vom Sozialismus zurückhalten, die Religion und der Nationalismus. Wie die Religion aus der primitiven und der kleinbürgerlichen Produktionsweise aufwuchs, wie sie dabei fortwährend ihre Form und ihr Aussehen änderte, wie sie damals der Ausdruck von gesellschaftlichen Organisationen war, die seitdem immer mehr ihre gesellschaftliche Basis verloren haben, das ist schon oft in einer Reihe von Werken und Artikeln dargelegt worden. Die nationalistische Ideologie dagegen wurzelt im Kapitalismus; sie ist für die Bourgeoisie eine lebendige Wirklichkeit; sie ist daher eine noch jüngere und lebenskräftigere Tradition, die deshalb stärker auf die Arbeiter einwirken kann.

Es mag seltsam erscheinen, dass sich eine Ideologie noch so lange behaupten kann, nachdem sie ihren Nährboden, ihre Grundlage, die Wirklichkeit, aus der sie hervorging, verloren hat. Doch man darf nicht vergessen, dass für sie dasselbe gilt wie für alles Geistige im Menschen: nicht nur bleibt sie bestehen als ein eigenes Wesen, so wie die Erinnerung bleibt nach dem Eindruck und jedes geistige Bild nach einer Reihe von Eindrücken, sondern ihre Macht über die Menschen wird auch noch vervielfältigt durch die gegenseitige geistige Beeinflussung der Menschen. Ebenso wie im Gehirn die Gefühlszentren nicht nur auf den Anreiz von der Außenwelt reagieren, sondern auch tausendfach verschieden miteinander verbunden sind, einander beeinflussen und so ein geistiges Leben außerhalb der Einwirkungen der Außenwelt vollzieht, so wirkt auch in der Gesellschaft, was sich einmal in den Menschenköpfen an Ideen gebildet hat, als eine neue Kraft auf andere Menschen ein. Die Außenwelt, die auf unseren Geist einwirkt, besteht nicht nur aus den stummen Tatsachen des Lebens und der Umgebung,, sondern auch aus dem, was Andere uns mitteilen als Niederschlag ihrer Erfahrung, und aus dem, was sie oder frühere Generationen in Büchern und Schriften niedergelegt haben. So wie der ursprüngliche dünne Klang einer Saite durch den Resonanzboden zum vollen Ton anschwillt, so klingt die Lehre der Tatsachen, der materiellen Lebensgrundlage, uns wie ein voller Akkord aus der umgebenden Menschenwelt entgegen. Die neuen Ideen, die zu der neuen Wirklichkeit passen, werden von Einzelnen, in denen sie zuerst emporwachsen, die zuerst noch schwach den neuen Ton hören und unterscheiden, verkündigt; ihre kräftige Stimme weckt die jüngeren und die trägeren Geister, ihre Propaganda fügt sich zu der direkten Einwirkung der Lebenserfahrungen hinzu und verhilft so rascher zu einem klaren Begriff des Wesentlichen darin. Ebenso wird die alte Ideologie durch dieselbe Kraft gestärkt und lebensfähig gehalten; durch die geistige Einwirkung der Älteren auf die Jüngeren, der alten Schriften auf die neue Generation, klingt das alte Gedankenleben noch ein Zeitlang weiter, auch wenn seine erste, materielle Ursache aufgehört hat. Doch auf die Dauer muss sie – zur Dissonanz geworden – untergehen. Wenn eine neue Wirklichkeit Tag ein Tag aus, ihre Eindrücke dem Geist einprägt und mit gewaltiger Kraft die neuen Erkenntnisse in die Köpfe hineinhämmert, dann wird die alte Ideologie zermürbt, der Geist muss immer mehr die alten Anschauungen aufgeben und seine Ideen auf die Notwendigkeiten der neuen Gesellschaft richten. Es geht oft langsam, es geht oft zögernd und bleibt auf halbem Wege stehen, aber schließlich geht es doch. Denn der Propaganda der neuen Ideologie strömt fortwährend neue Kraft zu aus der Realität des Lebens.

Hierbei spielt die Schnelligkeit des gesellschaftlichen Umwälzungsprozesses eine wichtige Rolle. In alten Zeiten, als dieser Prozess langsam vor sich ging, versteinerten die aus der Gesellschaft emporgewachsenen Gedankenformen zu festgerosteten Dogmen. In Zeiten rascher Veränderung wird der Geist mitgerissen, er wird bildsamer und beweglich, und wirft rascher die alten Ideen fort. Die hinter uns liegenden Jahrzehnte, in denen der Kapitalismus und das Proletariat zur höchsten Entwicklung reiften, brachten eine Verzögerung oder gar einen Stillstand im politischen Umwälzungsprozess; in diesem Zeitabschnitt vollzog sich darum auch der geistige Entwicklungsprozess in langsamem Tempo, vor allem im Gegensatz zu der vorwärtsstürmenden Ideenbildung in der zuvor liegenden bürgerlichen Revolutionsperiode. Die Folge davon war, dass nach dem glänzenden ersten Auftreten des Marxismus ein Rückfall eintrat: revisionistische Zweifel, Aufleben bürgerlicher Kritik und bei einem Teil der Radikalen dogmatische Erstarrung. Nun aber bricht wieder eine revolutionäre Periode an, und sie wird ohne Zweifel auch eine Umwälzung der Geister, eine tiefgehende Erneuerung der Ideen, eine gewaltige intellektuelle Revolution mit sich bringen.


Compiled by Vico, 25 November 2020



















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