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Antonie Pannekoek Archives


Der Kampf der Arbeiter : Sieben Aufsätze aus der Leipziger Volkszeitung / Anton Pannekoek, 1907


  Quelle: Der Kampf der Arbeiter : Sieben Aufsätze aus der Leipziger Volkszeitung / Ant[on]. Pannekoek. – Leipzig : Leipziger Buchdruckerei Aktiengesellschaft, 1907. – 31 S.; Quelle Transkiption: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive , 2008; Quelle pdf: Kollection Ph.B.; reprinted 1909 und ca. 1970


Die besitzende und die besitzlose Klasse / Anton Pannekoek

Der politische Kampf, den die sozialdemokratische Arbeiterschaft führt und von dem jeder Wahlkampf eine Episode ist, ist nicht in erster Linie ein Kampf um besondere politische Institutionen und gesetzliche Forderungen, sondern ein allgemeiner Klassenkampf zwischen der besitzenden und der besitzlosen Klasse. Um ihn richtig zu verstehen, ist es nötig, die Kämpfer, die Ursachen und die Ziele dieses Kampfes näher anzuschauen.

Es mag scheinen, nach dieser Benennung der beiden kämpfenden Parteien, dass der Geldbesitz oder das Einkommen zur Grundlage der Klassenscheidung gemacht wird. So wird es von unsern bürgerlichen Gegnern auch oft verstanden. Sie nehmen eine Einkommens- oder eine Vermögensstatistik zur Hand, ziehen ein paar Querlinien hindurch, welche die niedrigen von den mittleren, und die mittleren von den großen Einkommen trennen, und glauben dann einen Einblick in die Klassenverhältnisse der Gegenwart gewonnen zu haben. Noch komischer machen sie es, wenn sie uns eine Statistik aus dem Mittelalter oder dem achtzehnten Jahrhundert präsentieren und darin nachweisen, dass es damals verhältnismäßig gerade soviel kleine, mittlere und große Einkommen gegeben habe wie heute; damit glauben sie dann die Konzentration des Kapitals, den Untergang des Mittelstandes und die Zuspitzung der Klassengegensätze widerlegt zu haben.

Diese armen Schelme, die auf solche Weise die offenkundige Tatsache der großen gesellschaftlichen Umwälzung wegdemonstrieren wollen, haben offenbar keine blasse Ahnung davon, was eine gesellschaftliche Klasseeigentlich ist. Eine Klasse ist nicht eine Gruppe von Menschen, die ein gleich großes Einkommen haben, sondern eine Gruppe von Menschen, die in der gesellschaftlichen Produktion ökonomisch die nämliche Funktion erfüllen. Wir sagen ökonomisch, damit man nicht auf die Idee verfalle, unter der gesellschaftlichen Funktion die technische Seite der Arbeit zu verstehen. Ein Weber und ein Typograph haben beruflich eine verschiedene Funktion, technisch sind ihre Arbeiten verschieden, aber ökonomisch sind sie beide Lohnarbeiter und gehören derselben Klasse an.

Bei der vielgestaltigen Verschiedenheit innerhalb des gesellschaftlichen Produktionsprozesses ist es kein Wunder, dass sich dem Auge auch ein buntes Bild der verschiedensten gesellschaftlichen Klassen bietet. In der Industrie stehen die kapitalistischen Unternehmer den Lohnarbeitern gegenüber; auf diesem allgemeinen Grundverhältnis bauen sich, je nach der Größe des Betriebes, verschiedene Klassenverhältnisse auf. Mit dem Kapitalisten stimmt der selbständige Handwerker darin überein, dass er selbständiger Unternehmer ist, aber er beschäftigt keine Lohnarbeiter. Und die kleinen Meister des handwerksmäßigen Kleinbetriebes, sowie die Ladenhüter, werden sogar in der Umgangssprache als besondere, von den Großkapitalisten verschiedene Klasse, als Mittelstand, bezeichnet; ihr Unterschied von jenen besteht in der kleineren Arbeiterzahl und dem kleineren Kapital, ohne dass man feste Grenzen zwischen beiden angeben könnte. In dem Großbetrieb schiebt sich zwischen Kapitalist und Arbeiter eine Gruppe von Aufsehern und technischen Betriebsleitern. Die hohen wissenschaftlichen und technischen Ansprüche, die den jetzigen Groß- und Riesenbetrieben gestellt werden, haben eine Klasse von privaten technischen und wissenschaftlichen Beamten hervorgerufen, die zusammen mit ähnlichen und gleichgestellten öffentlichen Beamten die „Intelligenz“ bilden. Ökonomisch gehören sie zu den Lohnarbeitern, da sie auch ihre Arbeitskraft – eine spezielle, durch langes Studium ausgebildete und höher bezahlte geistige Arbeitskraft – für Lohn verkaufen; die größere Höhe des Lohnes, also ihre ganz verschiedene Lebenshaltung, trennt sie wieder von den Arbeitern. Zugleich hat die Entwicklung des Großbetriebes durch die großen Kapitalien, die er erfordert, eine Trennung bewirkt zwischen dem industriellen Unternehmer, der von dem Profit, und dem Geldbesitzer, der von den Zinsen lebt. In der Aktiengesellschaft tritt sogar an Stelle des Unternehmers ein bezahlter Beamter, der Direktor; die doppelte Funktion des Kapitalisten, die Produktion zu leiten und den Mehrwert einzustecken, hat sich auf zwei Arten von Personen verteilt. Alle Geldkapitalisten sind jedoch ebensowenig in einen Topf zu werfen, wie alle Unternehmer; je nach der Größe besteht der nämliche Unterschied, wie z.B. in der Fischwelt der Meere: die Großen fressen die Kleinen. Ein kleiner Rentier ist so gut ein Geldkapitalist wie die Mitglieder der Hochfinanz, aber zu diesen Börsenwölfen steht er gewissermaßen wie ein Börsenlamm, und deshalb ist seine gesellschaftliche Rolle eine andre.

Betrachten wir nun die Landwirtschaft, so finden wir dort die nämlichen Abstufungen, wenn auch nicht in genau der nämlichen Weise, wie in der Industrie; nur kommt hier noch eine Klasse hinzu, weil die Grundbesitzer durch ihr Monopol eine Bodenrente aus dem Ertrag der Landwirtschaft schlagen können, ohne dabei irgend eine tätige Rolle zu spielen. Man hat Zwergbauern, Kleinbauern, Mittel- und Großbauern und Landarbeiter. Hier treten schon die Zwitter- und Übergangsformen aus, die das Bild der gesellschaftlichen Klassen dem ungeübten Auge verwirren. Die Landarbeiter haben oft ein kleines Grundstück, während Besitzer kleinerer Grundstücke, zu klein, um davon leben zu können, als Land- oder auch als Industriearbeiter Nebenverdienst suchen. Sie sind also zugleich selbständige Landwirte und Lohnarbeiter. In der Hausindustrie finden wir scheinbar selbständige Handwerker, die mit Leib und Seele von dem kapitalistischen Kaufmann abhängig sind. Dass nicht die juristische Form des Lohndienstes genügt, um die Klasse zu bestimmen, zeigen die zahlreichen Übergänge vom besoldeten Direktor über Unterdirektor, Abteilungschef, Hauptingenieur, Techniker, Zeichner, Aufseher hinweg zum Arbeiter. Hier wird man oft in Verlegenheit sein, bei den graduellen Übergängen genau zu bestimmen, welche Klassenunterscheidungen man annehmen muss, und wo ihre Grenzen liegen.

Also bietet das gesellschaftliche Leben ein buntes Bild der verschiedensten Klassen, deren Funktionen im gesellschaftlichen Leben und deshalb auch deren Interessen bald schroffe Gegensätze und himmelweite Verschiedenheiten, bald auch graduelle Übergänge zeigen. Ist dieses Bild nun aber nicht eine schlagende Widerlegung unserer Behauptung, dass sich im gesellschaftlichen Kampfe nur zwei Klassen gegenüberstehen? Und zeigt ein Blick auf die verschiedenartigen Funktionen der Klassen nicht sofort, dass eine Unterscheidung von zwei Gruppen nur nach ihrem Vermögen eine unwissenschaftliche, unhaltbare und nur zum Zwecke demagogischer Verhetzung erfundene Behauptung ist?

Nein, diese Unterscheidung ist im tiefsten Wesen der Gesellschaftsordnung begründet. Sie entsteht aus der besonderen Rolle, die das Geld seit dem Emporkommen des Kapitalismus spielt. Alles Geld hat die Eigenschaft, als Kapital wirken zu können, d.h. wenn der Besitzer Produktionsmittel dafür kauft, Arbeiter mietet, und die von ihnen produzierten Waren verkauft, so kehrt es als mehr Geld, als größeres, mit Mehrwert gesegnetes Kapital in seine Hände zurück. Er braucht es nicht einmal selbst zu tun; andre nehmen ihm mit größtem Vergnügen die Sorgen und Mühen des Geschäfts ab und bezahlen ihm für die Benutzung seines Kapitals einen Teil des Profits als Zins. Geld hat durch den Kapitalismus die Eigenschaft bekommen, seinem Besitzer Zins einzubringen. Wer also über Geld verfügt, kann sich ein arbeitsloses Einkommen sichern.

Dieses Einkommen stammt aus dem Mehrwert, der im Produktionsprozess gebildet wurde. Die Arbeiterklasse bringt eine Unmasse von Wert hervor durch ihre Arbeit; nur einen Teil davon empfängt sie als Lohn zurück, und der übrig bleibende Teil ist der Mehrwert, der der Kapitalistenklasse zufällt. Diesen Mehrwert müssen die verschiedenen Kapitalisten und Kapitalistengruppen mit einander teilen, denn sie leben alle davon. Die Grundbesitzer fordern ihren Anteil, die Kaufleute und Zwischenhändler heischen einen Teil, die Direktoren und hochbesoldeten Betriebsleiter nehmen ihr Stück, die Geldkapitalisten erhalten ihren Zins oder ihre Dividende. Um die Verteilung dieses Mehrwerts kämpfen sie untereinander, und diese Verteilung wird teils durch ökonomische Gesetze, teils durch politische Machtverhältnisse entschieden. Worauf es uns hier ankommt, ist die Tatsache, dass alle diejenigen, die Geld besitzen, dadurch gewissermaßen einen Anspruch auf einen Teil des Mehrwerts haben, vorausgesetzt natürlich, dass sie es nicht wie die früheren Geizhalse in einen alten Strumpf verstecken. Der Mehrwert entsteht durch Ausbeutung der unteren Klassen, deren Arbeit diesen Überschuss liefert; alle jene Klassen, die den Mehrwert unter sich teilen, bilden zusammen eine große Ausbeutungsgesellschaft, und jeder, der Geld besitzt, ist dadurch von Mammons Gnaden Aktionär in dieser trefflichen Korporation.

Hier liegt also der Grund, weshalb man von einem großen Klassengegensatz zwischen besitzenden und besitzlosen Klassen reden darf. Er liegt darin, dass diese Wörter gleichbedeutend sind mit ausbeutenden und ausgebeuteten Klassen. Wer nichts besitzt, ist gezwungen, um leben zu können, seine Arbeitskraft den Besitzern der Produktionsmittel, d.h. mittelbar den Kapitalbesitzern, zu verkaufen. Diese geben ihm für schwere und lange Arbeit einen Lohn, der gerade zu einer dürftigen Lebenshaltung ausreicht, und den übrigen von ihm produzierten Wert stecken sie in ihre Tasche. Wer nichts besitzt, muss sich gefallen lassen, ausgebeutet zu werden; das Privateigentum an Produktionsmitteln schneidet ihm jeden andern Ausweg ab. Die Sache bleibt auch noch die nämliche, wenn ein Arbeiter ein bisschen Geld besitzt, dessen Zins einen kleinen Zuschuss zu seinem Lohn bildet. Obgleich er Geld auf der Bank hat, ist er deshalb noch kein Ausbeuter. In diesem Zins erwirbt er sich zwar ein winziges Stücklein von der großen Mehrwertmasse, die aus der ganzen Arbeiterklasse ausgepresst wird, aber dieses bisschen kommt nicht in Betracht neben dem Mehrwert, den er selbst durch seine Lohnarbeit der Totalmasse hinzufügt. Er vergrößert diese Mehrwertmasse und wird ausgebeutet; er befindet sich in der nämlichen Lage wie seine Kameraden. Und in der Regel betrachtet er dieses Geld gar nicht als Kapital, sondern als einen Sparfonds, aus dem er bei Arbeitslosigkeit oder Unglücksfällen seinen Konsum bestreitet.

Sobald aber das Vermögen über ein bestimmtes Maß hinausgeht, befähigt es den Besitzer, von der Ausbeutung statt von der eignen Arbeit zu leben, bescheiden, wenn er ein kleiner Rentier oder Unternehmer ist, üppig, wenn er zu den Reichen gehört. So sehr unter diesen Leuten Klassenunterschiede bestehen, so sehr sie in dem Ausbeutungsprozess verschiedene aktive oder passive Funktionen erfüllen, so sehr sie miteinander noch um die Teilung der Beute hadern und kämpfen, weshalb ihr Besitztum auch nicht für immer sicher ist – so haben sie doch ein gemeinsames Interesse, weil sie alle Teilhaber an der Ausbeutung sind. In dem großen gesellschaftlichen Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten kommt es auf die Größe des Vermögens innerhalb der Ausbeutergenossenschaft nicht an. Aus dieser Auseinandersetzung ergibt sich zugleich, dass wir nicht behaupten, dass die Gesellschaft nur aus diesen beiden großen Gruppen besteht. Es liegt eine Schicht zwischen ihnen, von der man nicht sagen kann, ob sie näher zu der einen oder zu der andern Gruppe steht, wie z.B. ein Bauer, der Arbeiter ausbeutet und selbst von dem Landherrn ausgebeutet wird, oder ein Beamter, der ein mittelmäßiges Gehalt bezieht. Wie sie sich in dem großen politischen Kampf stellen werden, kann erst aus einer besonderen Untersuchung ihrer Klassenlage ermittelt werden. Für die größere Masse der Menschen und der Klassen gilt aber, dass ihre verschiedenen besonderen gesellschaftlichen Funktionen in dem großen politischen Kampf zurückstehen hinter der Grundfrage, ob sie zu den Besitzenden oder den Besitzlosen, d.h. zu den Ausbeutern oder zu den Ausgebeuteten gehören.


Die Ausgebeuteten / Anton Pannekoek

Der Kampf gegen die Ausbeutung kann nur von den Ausgebeuteten selbst geführt werden. Mögen auch dann und wann einzelne Mitglieder der ausbeutenden Klassen durch Mitleid oder durch eine tiefere Einsicht in die künftige Entwicklung getrieben, die Ausgebeuteten unterstützen, so werden es doch immer Ausnahmen bleiben. Freiwillig verzichtet keine Ausbeuterklasse auf ihre Vorrechte; sie muss dazu gezwungen werden durch die vereinigte, organisierte Macht der ausgebeuteten Klassen. Jede Klasse handelt, mag sie auch zuerst gewisse aus der Tradition und der Erinnerung an frühere Zustände herrührenden Vorurteile überwinden müssen, schließlich nach den Geboten ihres Klasseninteresses.

Deshalb lohnt es sich, zu untersuchen, welche Klassen alle zu den Ausgebeuteten zu zählen sind, denn diese werden, mag es auch zuerst Mühe kosten, sie zu gewinnen, doch schließlich alle als Anhänger unserer Ziele und unserer Partei in Betracht kommen. Dann wird es sich zugleich herausstellen, weshalb sie sich nicht alle sofort in der nämlichen Weise an dem Kampf betätigen können.

In der Vorhut der ganzen ausgebeuteten Masse steht die industrielle Lohnarbeiterschaft; sie ist an diese Stelle gedrängt nicht nur durch ihre überwiegende Anzahl, sondern auch durch die geistigen und sittlichen Qualitäten, die ihre besondere Stellung im Produktionsprozess ihnen verleihen. Die Entwicklung des Kapitalismus ist in erster Linie die Entwicklung des industriellen Kapitalismus; in die Industrie werden durch fortwährende Verbesserungen der Technik immer bessere, größere und kostspieligere Maschinen eingeführt, wozu immer größere Kapitalien nötig sind. Durch die Konkurrenz ihrer produktiveren Arbeitsmethoden rennt die Großindustrie den Kleinbetrieb über den Haufen und stürzt die kleinen Besitzer in das Proletariat hinab; und durch den immer wachsenden Umfang ihrer Betriebe werden stets größere Arbeitermassen in den Fabriken zusammengebracht. Das industrielle Kapital tritt revolutionär auf; es hat in einer kurzen Zeit in zuvor unglaublicher Weise das Antlitz der Erde umgewälzt; es hat staunenerregende Wunder erschaffen und alle Lebensverhältnisse im tiefsten Grunde umgekehrt.

Inmitten dieser rastlosen revolutionären Tätigkeit leben die Lohnarbeiter. Sie haben bald erkannt, dass gegenüber diesen gigantischen Produktionskräften alles Zurücksehnen nach der Unabhängigkeit des Kleinbetriebs, wo jeder seine eigenen Produktionsmittel besaß, beschränkte Torheit ist. Sie sind Proletarier, und sie werden es bleiben; eine andere Möglichkeit zu einer ausreichenden Existenz gibt es für sie nicht. Sie haben nur ihre Arbeitskraft zum Verkaufen, sie müssen sich zufrieden geben mit einem notdürftigen, zur Existenz eben ausreichenden Lohn, ohne Aussicht, durch Ersparnisse sich selbst jemals wieder eigene Arbeitsmittel zu verschaffen. Zwar wächst das Produkt ihrer Arbeit riesenhaft in dem Maße, wie sich die Produktivität der Arbeit entwickelt; aber diese Vermehrung kommt nur der Kapitalistenklasse zugute, die sich den Überschuss des Arbeitsprodukts über den Lohn aneignet. Die Kapitalistenklasse wird daher stets reicher, während die Arbeiterklasse immer besitzlos bleibt. Zwar kann sie durch ihren Zusammenschluss allmählich Lohnerhöhungen erringen, aber dem steht das fortwährende Streben der Kapitalisten gegenüber, zur Erhöhung ihres Profits die Löhne zu drücken.

Dieser Zusammenschluss hat aber eine weit wichtigere Folge noch, als die unmittelbaren Verbesserungen, die er erringt. Er lehrt die Arbeiterklasse zum ersten Male ihre Kraft kennen. Die Arbeiter leben massenhaft in genau den nämlichen Umständen zusammen; sie empfinden bald, dass sie nicht vereinzelt, sondern nur gemeinsam etwas erreichen können, und dass nur das Eintreten jedes einzelnen für ihr Gesamtinteresse, die Unterordnung der Person unter die Gesamtheit, ihnen Kraft gibt. So erwächst die Organisation, die Disziplin. Und zugleich wächst die Einsicht in das Wesen der kapitalistischen Gesellschaft; die Arbeiter werden sich darüber klar, dass sie mit den technischen Beamten zusammen eigentlich alles schaffen, und dass die Kapitalisten nur als nutzlose Schmarotzer auftreten, die in der Produktion ganz gut gemisst werden könnten. Deshalb muss ihr Ideal sein, die hochentwickelte Produktion beizubehalten und nur ihre Ausbeuter los zu werden. Die Verfügung über die Produktionsmittel macht die Menschen frei; sie sehen jedoch, dass es Wahnsinn wäre, auf die Riesenkraft dieser starken eisernen Diener zu verzichten, und jeder für sich zu den primitiven Werkzeugen der Väter zurückzukehren. Nein, über diese großen leistungsfähigen Produktionsmittel wollen sie frei verfügen können; die gemeinschaftliche Besitzergreifung der Maschinen und die gemeinsame, gesellschaftliche Arbeit wird ihr Ziel sein.

Der industrielle Arbeiter jammert nicht über den ihn ausbeutenden Kapitalismus, weil er in ihm zugleich die große fortschrittliche Kraft erkannt, die ihm den Weg vorwärts zeigt und ebnet. Er lernt durch die Praxis seiner Arbeit jene Macht handgreiflich kennen, durch die der Mensch sich zur Herrschaft über die Natur emporringt. Und das Zusammenleben und Zusammenwirken lehrt ihn die Kraft der Organisation kennen, die allein imstande ist, den Kampf gegen die Ausbeutung erfolgreich aufzunehmen. Durch diese Ursachen steht das industrielle Proletariat voran im Kampfe.

Aber es bildet nicht die einzige ausgebeutete Klasse. Das Kapital hat sich nicht daraus beschränkt, die Großindustrie zu schaffen und die Kleinbürger zu vernichten; es tritt auch in die Landwirtschaft ein und nimmt dort ganz besondere Formen an, die man zum Teil auch in der Industrie wiederfindet. Wo es als Betriebskapital in eine große landwirtschaftliche Unternehmung gesteckt wird, ist seine Wirkung kaum anders als in der Industrie. Es beutet Lohnarbeiter aus und erzeugt aus ihrer Arbeit Mehrwert für den Unternehmer und für die Kapitalisten, die hinter dem Unternehmer stehen. Der Unterschied ist, dass die Landarbeiter zerstreut leben, in isolierten Dörfern, wo die gewaltige Umwälzung der Welt nicht sichtbar ist, wo die Mittel zur Hebung des Geistes dürftig sind und deshalb die überkommenen Vorurteile stärker. Deshalb entsteht der sozialistische Gedanke nicht von selbst in diesen Kreisen; er muss ihnen vielmehr gebracht werden. Da aber der Landarbeiter durch seine Lage sich völlig als Proletarier fühlt, wird er unsrer Propaganda keine andern Interessen entgegensetzen, und wenn er unsre Ansichten allmählich verstanden hat, wird er ein treuer und begeisterter Anhänger des Sozialismus werden. Die Erfolge unserer Propaganda unter den Landarbeitern zeigen, dass es hier langsam, aber sicher vorwärts geht.

Ganz anders tritt das Kapital auf, wo es, in der Regel als Wucherkapital und Handelskapital, mit den kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Wirtschaften in Berührung kommt. Wird der Kleinbauer in den Kreis der Geldwirtschaft gezogen – für Steuern, Pachtzahlungen und den Ankauf allerhand Artikel braucht er Geld – muss er also sein Produkt verkaufen, so ist er von allen Schwankungen des Marktpreises abhängig und die Rückständigkeit seiner Betriebsweise und die Beschränktheit seiner Verhältnisse stellen ihn meist in Nachteil gegenüber dem Großbetriebe. Er muss Geld leihen, entweder für Verbesserung des Betriebes, oder für Ausdehnung, oder für Ankäufe; er nimmt Hypothek auf sein Gütchen; aber damit hat er nicht die Wohlfahrt gekauft. Und da von dem Ertrag seiner Wirtschaft zuerst unbedingt die Zinsen bezahlt werden müssen, wenn ihm nicht seine Habe, mit der seine ganze Seele verwachsen ist, verkauft und abgenommen werden soll – so muss er sich in seinen Ausgaben beschränken. So entsteht das Bild des Kleinbauern, so wie es so oft durch Augenzeugen geschildert worden ist: furchtbare Abrackerung seiner selbst und seiner Familie, unendlich lange Arbeitszeit, äußerste Beschränkung der Lebenshaltung, wodurch er viel schlechter lebt als sogar die Tagelöhner, völlige geistige Barbarei. Nur dadurch kann er sich halten. Im allgemeinen sind dies ja die Mittel, durch die der konkurrenzfähige Kleinbetrieb sich eine Zeitlang über Wasser halten kann.

Ein solcher Bauer lebt in den nämlichen Umständen wie ein durch Schulden gedrückter Handwerker, oder gar wie ein Hausindustrieller. Er wird auch vom Kapital ausgebeutet, denn das Kapital lässt ihm nur den dürftigsten Lebensunterhalt und nimmt – hier in Gestalt von Zins – den ganzen, darüber hinausgehenden Ertrag seiner Arbeit weg. Diese Leute gehören ebenfalls zu der ausgebeuteten Klasse, die Interesse daran hat, gegen das Kapital anzukämpfen.

Allerdings bewirken ihre besondern Lebensumstände eine besondere Auffassung des Kampfes. In diesen kleinbürgerlichen Schichten findet die Losung der Rückkehr zum Kleinbetrieb, d.h. die Wiederherstellung des blühenden Kleinbetriebs unter Bändigung des Kapitals, starken Widerhall. Man redet oft davon, dass der „Eigentumsfanatismus“ und die „Beschränktheit“ dieser Schichten der sozialdemokratischen Agitation im Wege stehen; man soll dabei jedoch bedenken, dass diese geistige Verfassung nur sehr natürliche Verhältnisse wiederspiegelt. Einem solchen Bauer tritt das Kapital nicht als fortschrittliche, sondern nur als verheerende Macht gegenüber. Es proletarisiert ihn, nicht indem es ihn aus seiner traurigen Produktion hinauswirft, sondern durch noch tiefere Herabdrückung seines Betriebes. Spricht man ihm von Kapital, so kann er nicht anders denken als an Wucher; spricht man ihm vom Kämpfe gegen das Kapital, dann kann ihm gar nicht einfallen, dass man über die Förderung einer höheren Produktionsweise spricht, sondern er denkt nur daran, dass man ihn von dem Vampir, der ihm auf dem Nacken sitzt, befreien will. Kapital ist für ihn nicht die hochentwickelte, produktivere Wirtschaft eines großen Nachbarn, sondern der Wucherer und die Bank in der Stadt, die ihn aussaugen.

Seine reaktionären Ideale einer Abschaffung der Kapitalherrschaft, die ihn den Antisemiten zur Beute fallen ließen, entspringen also nicht in erster Linie einem geheimnisvollen „Eigentumsfanatismus“, sondern der besonderen Form, unter der er das Kapital kennen gelernt hat. Wollen wir also diese Ausgebeuteten zu Anhängern der Sozialdemokratie machen, so gibt es keinen andern Weg, als auch ihnen den wirklichen industriellen Kapitalismus vorzuführen, mit seinen fortschrittlichen Tendenzen. Ihnen muss gezeigt werden, wie diese Form des Kapitals, die großen Maschinen, keine Rückkehr zum Kleinbetrieb zulässt, aber dafür jedem eine weit bessere Existenz für die Zukunft ermöglicht. Dies ist eine schwere Arbeit, weil immer das selbsterlebte unendlich viel mächtiger wirkt, als das nur theoretisch gehörte. Deshalb ist die Ausbreitung der Industrie über das flache Land und die Ausbreitung der Verkehrslinien für den Fortschritt unserer Ideen auf dem Lande bedeutender als hundert Agitationsreden.

Obgleich also die Interessen aller Ausgebeuteten zusammengehen gegen die besitzende Klasse, bringen die verschiedenen Formen der Ausbeutung es mit sich, dass einige Klassen unter ihnen nur sehr schwer und langsam an einem revolutionären Kampf sich betätigen können. Das industrielle Proletariat, das numerisch die andern weit überwiegt, steht auch durch seine ökonomische Stellung allererst und voran im Kampfe; ihm schließen sich die andern Ausgebeuteten erst allmählich und teilweise an.


Interessenkampf und revolutionärer Kampf / Anton Pannekoek

Der Kampf, den die besitzlose Klasse, mit der industriellen Arbeiterschaft an der Spitze, für ihre Interessen gegen das ganze Ausbeutertum führt, ist zugleich ein revolutionärer Kampf. Weshalb das so sein muss, scheinen viele unsrer Gegner nicht zu begreifen – wenigstens theoretisch nicht, denn praktisch fühlen sie wohl, dass es keine Phrase ist, wenn die Sozialdemokratie die Revolution, den Umsturz der heutigen Produktionsweise als ihr Ziel nennt. Aber weil sie es theoretisch nicht begreifen, machen sie krampfhafte Versuche, uns einzureden, dass dieses revolutionäre Ziel sich mit einer wirklich praktischen Interessenpolitik nicht verträgt. Die Arbeiterklasse, so sagen sie, hat das nämliche Recht wie jede andre Klasse, ihre materiellen Interessen zu verteidigen, und das Recht, einen Interessenkamps zu führen wider andre Klassen, soll ihr völlig unbehindert zuerkannt werden. Aber sie soll dabei auch die Rechte der andern Klassen anerkennen, und nicht die politische Alleinherrschaft erobern wollen, um sie zu revolutionären Zwecken zu missbrauchen; dadurch ruft sie nur den Widerstand aller andern Klassen gegen sich empor und schädigt ihre eignen Interessen, anstatt sie zu fördern.

Solche Ansichten findet die Arbeiterklasse nicht in der Praxis sich gegenüber; da bemerkt sie gar nichts davon, dass ihr Interessenkampf als berechtigt anerkannt wird. Es ist schließlich nur das Gerede einflussloser Schweitzer; da es aber unklare Köpfe, die unserm Kampf sonst sympathisch gegenüberstehen, verwirren könnte, soll hier der Zusammenhang von Interessenkamps und revolutionärem Kampf näher beleuchtet werden.

In jeder Gesellschaft, wo Klassengegensätze bestehen, findet sich auch ein Klassenkampf. Was ist die Ursache, was ist der Gegenstand des Kampfes? Weshalb können sie nicht friedlich nebeneinander leben? Jede Klasse sucht sich eine möglichst gute Existenz zu verschaffen; sie kann aber ihre Lebenshaltung nur verbessern auf Kosten andrer Klassen, weil die Masse des gesellschaftlichen Produkts beschränkt ist. Selbstverständlich könnte durch bestimmte Maßnahmen diese Masse so vergrößert werden, dass jede Klasse davon Profit hätte; aber eine solche vernünftige Beeinflussung der Produktion setzt ein Maß von gesellschaftlichem Bewusstsein voraus, das erst unter dem Sozialismus verwirklicht werden kann; da verbessern die Menschen durch bewusstes Zusammenwirken die Lebenshaltung aller. In den bisherigen, in Klassen gespaltenen Gesellschaftsordnungen ist eine solche bewusste Zusammenarbeit ausgeschlossen, und die Klassen ringen wüst miteinander, um ihren Teil an dem jeweiligen Gesamtprodukt auf Kosten der andern zu vergrößern.

Der Gegenstand des Kampfes ist also die Verteilung der Produktenmasse, die bei der bestehenden Gesellschaftsordnung produziert wird. Jede Produktionsweise hat ihre bestimmten, teils automatischen, teils willkürlichen Verteilungsregeln. Die Höhe des Lohns im Verhältnis zu dem ganzen vom Arbeiter hergestellten Produktenwert gibt die Verteilung des gesellschaftlichen Produkts zwischen Arbeiterklasse und Ausbeuterklasse an. Der Zinsfuß bestimmt den Anteil des Geldkapitalisten; durch Einfuhrzölle auf Lebensmittel sichern sich die Agrarier eine Einkommenserhöhung, die von Fabrikanten oder Arbeitern getragen wird, je nachdem gleichzeitig eine Lohnerhöhung eintritt oder nicht. Diese Kämpfe um den Anteil im gesellschaftlichen Totalprodukt sind also reine Interessenkämpfe, und die Arbeiterklasse hat darin für ihre Interessen geradeso mitzukämpfen wie die andern. Zwar trifft es nicht zu, was die liberalen Theoretiker von der Gleichartigkeit dieses Kampfes der Arbeiterklasse mit den andern Interessenkämpfen behaupten. Die andern Klassen, um die es sich hierbei handelt, kämpfen miteinander um die Verteilung des Mehrwerts, den sie der Arbeiterklasse gemeinsam abnehmen; deshalb stehen sie meistenteils gemeinsam dem Proletariat gegenüber, so wie eine Ausbeutergesellschaft dem Ausgebeuteten gegenüber stets eine solidarische Masse bildet. Bei jedem großen Streik sieht man die ganze Kapitalistenklasse und ihre Pressorgane einmütig hinter den angegriffenen Unternehmer stehen. Das ist nicht aus kollegialischer Freundschaft, sondern weil sie wissen, dass diese Unternehmer den Verlust, den sie durch die abgezwungene Lohnerhöhung leiden würden, zum größten Teil durch Preiserhöhung über alle ihre lieben Kollegen verteilen werden. Ihre Solidarität ist also nur ein Ausdruck des eignen Interesses.

Die Arbeiterklasse muss also auch bei diesem Interessenkampf allen andern Klassen gegenüberstehen. Sie muss versuchen, innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ihre Lebenshaltung möglichst zu verbessern, und sie schmälert dabei nicht einmal den Anteil ihrer Gegner, weil unter dem Kapitalismus das Gesamtprodukt fortwährend schnell wächst. Diesen Kampf führen die Gewerkschaften. Eine Arbeiterschicht, die bisher ohne Bewusstsein ihrer Lage dahinlebend, zum erstenmal sich zu Widerstand erhebt, stellt sich auch zuerst auf diesen Standpunkt der Gleichberechtigung mit andern Klassen. Sie will nicht weniger sein, sondern den nämlichen Anspruch haben, ihre Interessen zu vertreten und ihre Lebenslage innerhalb der bestehenden Ordnung zu verbessern. Weitere Ziele steckt sie sich dann noch nicht, höhere Interessen kennt sie noch nicht. Dies ist auch der Standpunkt der mit liberalem Geiste erfüllten Gewerkschaften. Von diesem Standpunkt wird die bestehende Gesellschaftsordnung genommen, wie sie augenblicklich ist, ohne ihre Entwicklung zu beachten. Deshalb können auch allein diejenigen bei diesem Standpunkt beharren bleiben, die den Kapitalismus als ewig betrachten und keine Entwicklung anerkennen, also die Liberalen. Für diejenigen jedoch, die die Gesellschaft als einen sich entwickelnden Organismus kennen lernten, enthält dieser Standpunkt nur eine halbe, unvollkommene und beschränkte Wahrheit.

Die Entwicklung der Gesellschaft bringt Änderungen in die ökonomische Struktur und deshalb auch Änderungen in den Charakter, die Bedeutung und das gegenseitige Verhältnis der Klassen. Die allmähliche Entwicklung des Kapitalismus hat zuerst die Bourgeoisie zur bedeutendsten Klasse gemacht, den Feudaladel zu einer nutzlosen Parasitenklasse herabgesetzt und nachher aus der Bourgeoisie eine Schicht von Großkapitalisten vorangeschoben. Jetzt, in den Herbsttagen des Kapitalismus, ist das Kleinbürgertum wirtschaftlich bedeutungslos geworden, während das Proletariat immer an Bedeutung gewinnt. Im Allgemeinen kann man sagen, dass durch die ökonomische Entwicklung einige Klassen an Macht und Bedeutung gewinnen, andere verlieren; jene werden in eine führende Stellung gedrängt, die andern davon zurückgetrieben. Die ersten stehen daher dieser Entwicklung sympathisch gegenüber und suchen sie möglichst zu fördern; sie sind fortschrittliche Klassen; die andern stehen der Entwicklung feindlich gegenüber und suchen sie – vergebens - zu hemmen; diese sind reaktionäre Klassen.

Durch diese Entwicklung erhält der Klassenkampf eine neue und höhere Bedeutung. Es handelt sich jetzt nicht mehr allein um die Verteilung des gesellschaftlichen Produkts, sondern um die Herrschaft über die Gesellschaft. Selbstverständlich ist immer das materielle Interesse die treibende Kraft in diesem Kampfe, aber nicht in dem schmutzig-beschränkten Sinn, der ihm anhastet, wenn er nur geführt wird, um von dem gegenwärtigen Gesamtprodukt etwas mehr für sich zu gewinnen. Das materielle Interesse tritt hier weiterblickend, revolutionierend, also gleichsam in idealer Verkleidung auf, indem es die emporkommenden Klassen dazu treibt, sich der Herrschaft zu bemächtigen und diese zur Förderung der gesellschaftlichen Entwicklung zu benutzen. Dann tritt die fortschrittliche Klasse als revolutionäre Klasse auf, wie es die Bourgeoisie zu wiederholtenmalen in der Geschichte getan hat. Weil sie dann fühlt, dass ihr Streben durch die Entwicklung der materiellen Dinge selbst unterstützt wird, und durch die Bedürfnisse des Fortschritts geboten wird, fühlt sie sich frisch, stark und hoffnungsfreudig und durch ihren materiellen Interessenkampf weht der Hauch einer großen geschichtlichen Kulturtat.

Demgegenüber erscheint der Kampf der andern Klassen dann um so schmutziger. Nicht nur, weil er bloßer Interessenkampf um den nackten Geldvorteil ist, ohne höheren Zug; sondern er ist noch schlimmer: er versucht, für dieses beschränkte Interesse den großen und notwendigen gesellschaftlichen Fortschritt aufzuhalten. Durch dieses doppelte Odium belastet, ist es kein Wunder, dass die besten Charaktere und die besten Köpfe aus ihrer Mitte ihr den Rücken wenden, um sich der revolutionären Klasse anzuschließen.

Was hier allgemein ausgeführt wurde, gilt jetzt für den proletarischen Kampf. Das gesellschaftliche Getriebe ist nicht ein regelloses Durcheinander der verschiedensten Interessenkämpfe zwischen den vielen Klassen, die es jetzt gibt. Unter ihnen steht das Proletariat als revolutionäre Klasse, deren Interessen mit den Interessen der gesellschaftlichen Entwicklung zusammenfallen, den besitzenden Klassen gegenüber, die eine reaktionäre Masse bilden. Die ökonomische Entwicklung drängt zur Vergesellschaftlichung der Produktionsmittel, welche die Aufhebung der Klassengegensätze und die Befreiung des Proletariats bedeutet. Sie wird daher von den besitzenden Klassen möglichst bekämpft und kann nur das Werk des siegreichen, zur Herrschaft gelangten Proletariats sein.

Die Arbeiterklasse wird durch ihre Erkenntnis der Ursachen ihrer elenden Lage und der Entwickelungsgesetze des Kapitalismus dazu geführt, die Vergesellschaftlichung der Produktionsmittel als Endziel auf ihre Fahne zu schreiben. Für sie ist der Kampf um ihre materiellen Klasseninteressen und der Kampf für den notwendigen Fortschritt der Gesellschaft, also für eine höhere Kultur, ein und derselbe. Die Ausbeuterklasse schließt sich durch diese Gefahr, die der ganzen Ausbeuterei droht, eng zusammen. Nicht in dem Sinne, dass sie den gegenseitigen Kampf um die Verteilung des Mehrwertes jetzt aufgibt; nein, denn sie weiß, dass morgen die Revolution noch nicht da ist, und jeder sich also noch für die nächste Zeit seinen Anteil sichern muss. Aber dieser Kampf tritt doch gegen die gemeinsame Gefahr zurück; gegen die Sozialdemokratie werden die besitzenden Klassen zu einer einzigen reaktionären Masse. Ihre Sache ist jedoch nur vom niedrigsten Interessenstandpunkt zu verteidigen; die Erhaltung der kapitalistischen Ausbeutung wird von ihnen nur im Interesse einer kleinen Parasitengruppe gefordert, die diesem Interesse den notwendigen Fortschritt der Gesellschaft zu einer höheren Kulturstufe opfern will. Deshalb ist es kein Wunder, dass ihre Sache immer mehr von einsichtsvollen und tieffühlenden Menschen verlassen wird, dass die Sozialdemokratie immer mehr Anhänger gewinnt, und in ihrem Siegeslauf nur noch aufgehalten werden kann, indem über ihr Wesen bei den rückständigsten Bevölkerungsschichten lügenhafte Vorstellungen verbreitet werden.

Die gesellschaftliche Entwicklung bewirkt also, dass unser Interessenkampf zu einem revolutionären Kampf wird, denn diese Entwicklung treibt zu neuen Gesellschaftsformen; dieselbe Entwicklung sichert uns deshalb zugleich den Sieg in diesem Kampfe.


Die Umwälzung des Eigentums / Anton Pannekoek

Wenn unsere Gegner gegen die Tatsache, dass die Sozialdemokratie allein die Interessen der großen Volksmasse beschützt, nichts mehr vorzubringen wissen, so spielen sie den großen Trumpf aus, die Sozialdemokratie wolle das Eigentum aufheben, während doch Eigentum, Privateigentum für die Menschen notwendig sei, um leben zu können und deshalb als ein Naturrecht, als eine göttliche Einrichtung, als eine Grundlage jeder Gesellschaftsordnung anerkannt werden müsse.

Nun hat jeder Unsinn doch immer irgendeine Art Sinn, und das angeführte Gerede hat diesen Sinn, dass allerdings jede Gesellschaft in irgendeiner Gestalt Eigentum besitzen muss, d.h. über ein Stück Natur oder körperliche Welt, ein Stück der Erde verfügen muss, um leben zu können. Ein Naturrecht ist es wohl nicht zu nennen, da die Menschen diese Verfügungsgewalt der Natur, den Tieren und ihren Mitmenschen haben abringen müssen; immerhin bildet es die notwendige Grundlage jedes gesellschaftlichen Zusammenlebens. Wie aber die besondere Form des Eigentums ist – ob gemeinsames oder Privateigentum – wird von den besonderen Bedingungen abhängen, unter denen die Menschen ihre Lebensmittel produzieren müssen. Hier entscheidet die Zweckmäßigkeit; die Regelung des Eigentums, also wie diese Verfügungsgewalt unter die Mitglieder einer Gesellschaft verteilt wird, muss davon abhängen, auf welche Weise am besten der Lebensunterhalt für alle gesichert wird. Solange Zusammenarbeiten die zweckmäßigste Arbeitsweise ist, wird Gemeineigentum herrschen müssen; wo getrennte Arbeit im Interesse der Produktion liegt, muss Privateigentum an Produktionsmitteln entstehen.

Wenn unsre Gegner mit diesem Vorwurf als mit einem großen Trumpf hervorrücken, so müssen sie wohl glauben, damit viele Leute recht gruselig vor dem Sozialismus zu machen. Es muss also auch wohl irgend ein Grund für diesen Glauben da sein, sonst würden sie nicht immer aufs Neue damit ihre Sache fördern wollen. Dieser Grund liegt in der Bedeutung, die das Privateigentum an Produktionsmitteln für den Kleinbetrieb hat.

Im Kleinbetrieb produziert jeder mit seinen Arbeitsmitteln Waren, die er verkauft, um dafür Waren zurückzukaufen, die er selbst braucht für seinen Konsum. Die Herstellung aller Produkte, welche die Gesellschaft braucht, findet auf diese Weise durch Privatarbeiten statt; die Arbeit ist getrennt. Dafür hat jeder umgekehrt auch ein Anrecht auf einen gerechten Teil des Gesamtprodukts, und er erwirbt sich diesen Teil durch den Austausch seiner eignen Produkte gegen andre. Diese Regelung des Eigentums erfüllt also den Zweck, den Mitgliedern der Gesellschaft ihren Lebensunterhalt zu sichern; die gesellschaftliche Produktion geht ohne Schwierigkeiten von statten, und die Verteilung des Produkts unter den Produzenten findet auch automatisch statt durch die Gesetze des Austauschs selbst, so dass jeder seinen Anteil bekommt.

Mit der Entwicklung des Kapitalismus treten jedoch neue Verhältnisse, also auch neue Funktionen des Eigentums aus. Für den Besitzer der modernen großen Produktionsmittel ist sein Eigentum nicht mehr ein Mittel, um sich durch seine eigne Arbeit Lebensunterhalt zu verschaffen; es ist für ihn ein Mittel, aus der Arbeit andrer Mehrwert herauszuschlagen. Zuerst mag es scheinen, als ob dieser Mehrwert als Frucht, und deshalb als Lohn der Mühe und der Arbeit gelten dürfe, die der Kapitalist auf die Leitung und Verwaltung seines Geschäfts verwendet. Mit der Entwicklung des Kreditwesens und der Aktiengesellschaften verschwindet auch dieser Schein. In den Händen des modernen Geldkapitalisten oder Aktionärs erscheint das kapitalistische Eigentum in seiner nackten Gestalt, als Anspruch auf einen Teil des von der Arbeiterklasse geschaffenen Mehrwerts.

So ist das Privateigentum zu etwas ganz anderem geworden, als es früher war. War es früher ein Mittel, durch eigene Arbeit einen sicheren, sorgenfreien Lebensunterhalt zu finden, war der Eigentümer ein nützliches Mitglied einer Gesellschaft, so ist es jetzt für nutzlose Glieder der Gesellschaft ein Mittel geworden, sich die Früchte der Arbeit anderer anzueignen. Dies ist aber den Kleinbürgern und Kleinbauern – denn um diese Schichten handelt es sich bei der Denunziation unsrer Eigentumsfeindschaft – nicht klar zum Bewusstsein gekommen; in ihrem Geiste lebt noch die alte Vorstellung von der früheren Funktion, die jetzt durch den neuen gesellschaftlichen Zustand zur Lüge geworden ist. Auf diese Lüge spekulieren nun die Demagogen, die den sogenannten „Eigentumsfanatismus“ zu ihren Zwecken ausnützen. Wenn man mit diesen kleinen Leuten über ihr Eigentum redet, so denken sie an ihre armselige Habe; Aufhebung des Privateigentums erscheint ihnen als ein Raub dieser kümmerlichen Reste, und deshalb lassen sie sich als Schutzwache gebrauchen für das Ausbeutungsrecht ihrer eigenen Ausbeuter. Demgegenüber ist es nötig, die verschiedene Bedeutung des heruntergekommenen Kleineigentums und des kapitalistischen Großbesitzes klarzustellen, also zugleich den Unterschied zwischen dem Privateigentum, wie es ihnen erscheint, und dem Privateigentum, wie es ist.

Was bedeutet für den untergehenden Mittelstand der Privatbesitz der Produktionsmittel? Sichert er ihnen eine auf eigener Arbeit beruhende Existenz? Teilweise beruht ihre Existenz auf der scheußlichsten Ausbeutung von Lehrlingen; und dazu ist sie nicht einmal sicher. Die Konkurrenz des Großkapitals hat überall die gesicherte, ruhige Existenz des Kleinbürgertums zerstört; sogar in dem Detailhandel, wo sich die Ladenbesitzer am längsten einer verhältnismäßig ungefährdeten Position erfreut haben, ist durch die großen Warenhäuser das Großkapital eingedrungen. Was sich noch hält, sieht doch immer dem drohenden Sturz ins Proletariat entgegen. Deshalb klammern sich die Kleinbetriebe mit um so größerer Kraft an ihr bisschen Eigentum; so schlecht ihre Lage vielfach ist, so erscheint ihnen die Abhängigkeit und Unfreiheit des Proletariers doch noch viel schlimmer. Aus dieser Gemütsverfassung entspringt ihr Eigentumsfanatismus; er ist das krampfhafte Festklammern an dem trügenden Schein einer längst verschwundenen Herrlichkeit, dem keine Wirklichkeit mehr entspricht.

Schlimmer noch ist es mit demjenigen Teil dieser Klassen, der selbst schon der Botmäßigkeit des Kapitals verfallen ist. Für sie ist das Privateigentum an Produktionsmitteln nicht nur keine Bürgschaft einer sicheren Existenz. sondern überhaupt nur Schein, eine bloße Form der Ausbeutung. Der Kleinbauer, der in Gestalt von Pacht- oder Hypothekenzins soviel von dem Ertrag seiner Arbeit abgeben muss, dass ihm nur der dürftigste Lebensunterhalt übrig bleibt, der kleine Handwerker, der auf der nämlichen Weise dem Kapitalisten verschuldet ist, kann nur in derselben Weise als Besitzer von Produktionsmitteln gelten, wie der Zimmergesell, der seine eigenen Geräte besitzt. Sie sichern ihm nur die Möglichkeit, sich ausbeuten zu lassen. Oder noch schlimmer: da sie zugleich seine Freizügigkeit hemmen, sind sie geradezu Sklavenfesseln, die ihm nicht einmal erlauben, für seine Ausbeutung eine günstigere Gelegenheit zu suchen.

Dies ist die wirkliche Funktion des Privateigentums in diesen Schichten. Wenn man aber über die Funktion des Privateigentums im allgemeinen redet, so meint man damit nicht seine Funktion bei denen, die es nicht haben, sondern man geht zu denen, die es haben. Da erfährt man erst seine wirkliche Bedeutung. Für die wirklichen Besitzer der Produktionsmittel, die Großkapitalisten, spielt das Eigentum eine ganz andre Rolle. Wenn diese Leute einmal ihr Eigentum vorzeigen, was zeigen sie uns dann? Maschinen? Nein, sie sind Aktionäre dieser oder jener Fabrik, können also nicht einmal sagen: diese Maschine gehört mir, denn sie gehört allen

Aktionären zusammen; sie können nicht einmal darüber verfügen, denn die Leitung des Geschäfts liegt in den Händen eines Ausschusses. Zeigen sie dann vielleicht Goldstücke, jene andre allgemeine Form des Kapitals? Nein, auch nicht, denn was sie an Gold besaßen, haben sie eben gegen Aktien, Staatsschuldpapiere u. dgl. umgetauscht. Sie zeigen uns einige Papiere; diese bilden ihr „Privateigentum“. Diese Papiere geben ihnen das Recht, von dem großen gesellschaftlichen Produkt in Gestalt von Zins, Dividende usw. einen Anteil – wieviel, wissen sie nicht einmal, sondern erfahren es erst aus dem Börsenblatt – zu fordern, ohne etwas dafür zu tun, ohne irgend eine nützliche oder andre Funktion zu erfüllen. Die ganze Gesellschaft produziert, ist in emsiger Arbeit damit beschäftigt, Produkte für die menschlichen Bedürfnisse hervorzubringen; Arbeiter rackern sich ab, Aufseher schimpfen, Maschinen drehen sich, Direktoren leiten die Geschäfte, Techniker experimentieren, alle sind auf mehr oder weniger nützliche Weise tätig, und als Frucht dieses Gesamtschaffens entstehen riesige Produktenmassen. Aber wie eine Schar von Vampiren nehmen die „Besitzer der Produktionsmittel“, auf Grund ihrer schmutzigen Papiere, die große Masse des Produkts weg; sie brauchen nicht einmal – wie die alten Raubritter – irgend eine Kraft dafür aufzuwenden; sie brauchen nicht die Hände auszustrecken; es wird ihnen ehrerbietigst nach Hause gebracht. Weshalb dieser Widersinn? Es ist die moderne Funktion des Privateigentums.

Diese widersinnige Beraubung der wirklichen Produzenten durch einen Hausen untätiger, völlig funktionsloser Parasiten aufzuheben, ist das Ziel und der Inhalt der sozialistischen Forderung, das Privateigentum an Produktionsmitteln aufzuheben. Deshalb hat diese Forderung nichts zu tun mit dem, was in ganz anderm Sinne und nur dem Scheine nach Privateigentum an Produktionsmitteln ist. Eben weil der Bauer und der Kleinbürger kaum eine Ahnung hat von der Rolle, die das Privateigentum auf den Höhen der Gesellschaft spielt, wo es vorhanden ist, deshalb kann ihm der einfältige Gedanke kommen, es sei sein kleiner Fetzen damit gemeint. Die Überführung der großen Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum, die Expropriation der nutzlosen Parasiten, die jetzt den Löwenanteil an sich reißen, das ist das wirkliche Ziel unsrer Bewegung; oder, wie das Kommunistische Manifest schon vor sechzig Jahre ausführte: nicht die Abschaffung des Eigentums überhaupt, sondern die Abschaffung des bürgerlichen Eigentums (d.h. des Eigentums, das sich fremde Arbeit unterjocht), Verwandlung des Kapitals in gemeinschaftliches, allen Mitgliedern der Gesellschaft angehöriges Eigentum. Dies ist die neue Regelung der Eigentumsverhältnisse, die zu der jetzigen Entwicklung der Technik und der Großindustrie gehört, um auf solcher Grundlage jedem Mitgliede der Gesellschaft eine reiche und sorgenfreie Lebenshaltung zu verschaffen.


Das Endziel des Klassenkampfes /Anton Pannekoek

I.

Wenn unsre Gegner das Wort „Endziel“ vernehmen. so spitzen sie die Ohren und denken wohl: jetzt werden wir endlich zu hören bekommen, wie die Sozialdemokraten ihren Zukunftsstaat einrichten werden. Vielleicht auch sind sie in dieser Hinsicht schon so oft enttäuscht, dass sie begreifen: es wird auch jetzt wohl wieder nichts sein. In der Tat, was sie wünschen, können wir ihnen nicht geben. Sie erwarten, dass wir über die goldene Zukunft reden werden, wenn wir „das Endziel“ ankündigen, und wir reden über die schmutzige Gegenwart. Statt der sozialdemokratischen Zukunftsbilder, nach denen sich ihre Sehnsucht verzehrt, werden ihnen „Bilder aus der Gegenwart“ vorgeführt.

Ihre verkehrten Erwartungen in diesem Punkte stammen aus ihrer Unkenntnis über das Wesen der Sozialdemokratie her. Unsere Forderungen und Ziele sind nicht schöne Erfindungen der Phantasie, sondern notwendige Konsequenzen der harten Tatsachen. Deshalb bieten wir in unserer Agitation den Freunden und den Feinden nicht eine Auseinandersetzung darüber, wie vortrefflich der Sozialismus sei; wir bieten ihnen viel besseres, nämlich den Beweis, wie notwendig der Sozialismus ist. Nun gibt es bekanntlich Schriftsteller, die ausführlich die Unmöglichkeit einer sozialistischen Gesellschaft nachweisen wollen, indem sie deren Grundlinien mit dem Maßstab ihrer kapitalistisch-beschränkten Vorurteile und Gewohnheiten messen. Solchen Leuten kann man einfach entgegenhalten, dass alles Notwendige auch möglich ist; die Notwendigkeit bestimmter Verhältnisse und Einrichtungen zwingt den Menschen solche Anschauungen und Gewohnheiten aus, als eben zu ihrer Verwirklichung notwendig sind. Am besten sieht man das an dem Kapitalismus selbst; würde man einem Menschen aus einer anderen Kulturperiode die Qualen und den Widersinn der heutigen Produktionsweise beschreiben, er würde sie für eine Fieberphantasie, für eine Unmöglichkeit erklären; und dennoch ist sie grauenvolle Tatsache.

Es gibt ernsthafte Männer, welche die Qualen und Missstände des Kapitalismus sehr gut sehen und aufrichtig bedauern. Sie glauben jedoch, dass zu ihrer Abhilfe kein „Umsturz alles Bestehenden“ notwendig sei, sondern dass durch Verbesserungen und Reformen diese Missstände allmählich beseitigt werden könnten. Sie weisen daraus hin, dass der Zusammenschluss der Arbeiter in Gewerkschaften schon im bedeutenden Maßstabe die Löhne verbessert habe, und dass die Anfänge der staatlichen Sozialreform wenigstens bewiesen hätten, wie viel in dieser Richtung getan werden könne, um den Unzuträglichkeiten des Lohnsystems entgegenzutreten. Sie erkennen an, dass in dieser Richtung viel mehr geschehen müsste; aber sie behaupten, dass es möglich sei, durch Weitergehen in dieser Richtung den Kapitalismus für die Arbeiterklasse erträglich zu machen, so dass dann kein Anlass mehr vorliege, sich nach einer andern Produktionsweise zu sehnen.

Es ist wahr, dass die Gewerkschaften schon Bedeutendes geleistet haben, um die Lebenslage der Arbeiterklasse zu verbessern, und auch noch wohl mehr leisten werden. Diese Verbesserung stößt aber, je weiter sie gehen will, auf immer größere Schwierigkeiten. Die erste Schwierigkeit besteht darin, dass die Entwicklung des Kapitalismus nicht in ruhiger Gleichmäßigkeit stattfindet, sondern dass dabei Zeiten der günstigen Konjunktur mit Krisen abwechseln. In einer günstigen Zeit brauchen die Kapitalisten Arbeiter; ihnen winkt bei flottem Geschäftsgang so schönes Gold, dass sie nicht durch Kampf und Streik gestört werden wollen, sondern lieber sofort Lohnforderungen bewilligen. Dann dringt die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterklasse ohne viel Kampf siegreich vorwärts. Bricht aber eine Krise herein, dann ist das Blatt gerade umgekehrt. Durch das Zusammenbrechen zahlreicher Unternehmungen häufen sich massenweise die Arbeitslosen, die zu jedem Preis Arbeit suchen. Werden sich dann auch die Organisierten, die einen Rückhalt an der Organisation haben, nicht zu einer Schleuderkonkurrenz der Arbeitskraft hergeben, so sind die Nichtorganisierten noch ein bedeutender Prozentsatz, besonders in ungelernten Berufen, und können den Lohn schwer drücken. Aber auch davon abgesehen, muss eine Krise in der Regel Lohnherabsetzungen bringen. Die Kapitalisten, denen der Zusammenbruch droht, suchen sich durch Lohnherabsetzung zu halten, und sie wagen oft einen verzweifelten Kampf, weil ihnen doch sonst der Untergang sicher ist. Die Gewerkschaften können sich dem nicht widersetzen und sie müssen froh sein, wenn es ihnen durch eine Reihe fast hoffnungsloser Kämpfe und vorhergesehener Niederlagen gelingt, einen allzu großen Sturz der Lohnsätze zu verhindern. So wirft jede Krise die Arbeiterschaft wieder eine Strecke zurück auf dem mühsam erklommenen Weg oder vermindert das Weitersteigen.

Doch nicht allein diese aus der Natur des Kapitalismus notwendig hervorgehenden Krisen hemmen den Kampf der Gewerkschaften. Auch die großen Kapitalistenbünde und die Kartelle erschweren bedeutende Verbesserungen in der Lebenslage der Arbeiterklasse. Und schließlich stellt der Staat mit seinen Machtmitteln, Justiz, Polizei, Gesetzen, sich in den Weg der kämpfenden Arbeiter. Der Staat in den kapitalistischen Ländern bildet gewissermaßen einen Ausschuss, eine Vertretung der Kapitalistenklasse (worunter hier die ganze Ausbeuterklasse, also auch die Junker, verstanden wird) und betrachtet es als seine Aufgabe, ihre Interessen auch gegen die Arbeiterklasse zu wahren. Diese brutale Einmischung des Staates in die Lohnkämpfe zwingt die Arbeiterklasse, möchte sie sonst noch so sehr anarchistischen oder liberalen Ansichten huldigen, sich selbständig an dem politischen Kampf zu beteiligen. Einmal in die Parlamente eingedrungen, bemerken die Vertreter der Arbeiterklasse bald, wenn sie es sonst noch nicht wüssten, dass der Staat gar nicht gewillt ist, auf ihre bloßen Proteste und Einsprüche hin die Eingriffe zu Gunsten der Kapitalisten zu unterlassen. Sie empfinden dort bald, dass es im inneren Wesen einer kapitalistischen Staatsmacht liegt, die Arbeiterbewegung zu bekämpfen, und dass dies nämliche Ziel der beginnenden Sozialreform zugrunde liegt, die deshalb auch nicht weiter geführt wird, als zur Betörung der Arbeiter nötig ist, ohne die Kapitalisten ernsthaft zu schädigen.

Mit einer parlamentarischen Vertretung allein ist also der Arbeiterklasse noch nicht geholfen; um ihre eigenen Forderungen durchzusetzen und die Verwendung der Staatsgewalt im Dienst der Kapitalisten aufzuheben, muss sie die ganze politische Herrschaft erringen. Als Ziel ihres politischen Kampfes muss sie sich stellen: die Eroberung der politischen Gewalt. Aber dann muss sie sich auch klar darüber werden, wie sie die politische Gewalt gebrauchen will, und welche Gesellschaftsordnung ihr dann am besten passt.

Wir werden an dieser Stelle unterlassen, den Nachweis zu führen, wie eine bloße kräftige, energische und rücksichtslose Sozialreform einer siegreichen Arbeiterklasse notwendig die Gesellschaftsordnung zu einer sozialistischen umwälzen wird. Hier genügt es, den Grund anzugeben, weshalb die Arbeiterklasse sich grundsätzlich mit einer kapitalistischen Produktionsweise, und sei daran noch so viel verbessert, nicht zufrieden geben kann.

Dieser Grund liegt in dem besonderen Charakter der Arbeit unter dem Kapitalismus. Diese Arbeit ist solcher Art, dass sie für die Arbeiter eine Last und eine Qual ist, die ihnen nur Abneigung und Widerwillen einflößen kann. Das liegt nicht in der Natur der Arbeit an sich; die Beispiele sind zahllos, denen zu entnehmen ist, dass Anstrengung von Körper und Geist um etwas zu schaffen, für die meisten Menschen eine Freude und ein Bedürfnis ist. Nicht die Arbeit als natürliche Tätigkeit erregt daher den Ekel und den Hass des Arbeiters, sondern ihre jetzige ökonomische Form. Die Bourgeoisie, die diese Abneigung wohl sieht, aber die jetzige ökonomische Form für ewig und natürlich hält, glaubt sie deshalb einer natürlichen Neigung zur Faulheit, einer natürlichen Abneigung gegen alle Tätigkeit zuschreiben zu müssen, und darauf gründet sie ihre Vorhersagungen von der „Unmöglichkeit“ einer sozialistischen Produktion, weil dann jeder möglichst versuchen werde, sich von seiner Arbeit zu drücken. Hier zeigt sich wieder, wie Sottisen über die Zukunft nur in Unkenntnis der Gegenwart ihre Quelle finden.

Die Arbeit unter dem Kapitalismus ist nicht in erster Linie Anfertigung von nützlichen Gebrauchsgegenständen, sondern Produktion von Mehrwert. Sie ist beides; aber der Kapitalist nimmt Arbeiter in seinen Dienst mit dem Zweck, Mehrwert zu machen, und nur soweit hierfür Produktion von Gebrauchswerten nötig ist, bequemt er sich auch dazu. Er produziert aber gerade so gern nutzlose Schundware und gefälschte oder gesundheitsschädliche Produkte, wenn er dadurch mehr Profit machen kann. Der Profit ist die Hauptsache und das Ziel alles Schaffens, und diesem Ziele dient also die Arbeit der Arbeiter. Sie sind dort in der Werkstatt nicht Menschen, die für ihre Mitmenschen nützliche Güter erzeugen, damit man sich auf diese Weise gegenseitig das Leben bequemer macht; nein, sie sind nur Instrumente zur Produktion von Mehrwert. Jedesmal, wo ihre menschlichen Triebe in Widerstreit geraten mit der Profitgier des Meisters, muss das Menschsein zurücktreten hinter der Funktion des Profiterzeugers. Abwechslung verschiedener Arbeiten, beschränkte Dauer, dann und wann ruhen, hinausschauen, miteinander reden, sich bewegen, sind nötig, um die Arbeit erträglich zu machen; aber sie schmälern den Profit und werden deshalb verboten. Der Profit erheischt das abstumpfende ewige Einerlei der Arbeit, das gespannte ohne Rast und ohne Aufsehen Fortrackern, die Fernhaltung aller störenden Abwechslung. Der Arbeiter ist nicht nur Sklave des Meisters, sondern er ist Sklave der Profitgier des Meisters; wo der Meister als Mensch sonst Rücksichten nehmen würde, drückt die Prositgier ihm die Sklavenpeitsche in die Hände, welche die ermatteten Arbeiter immer aufs neue antreibt. Deshalb ist die Arbeit in unserer Gesellschaft zu einer Höllenqual geworden, die trotz der Abstumpfung durch die Gewohnheit, dem Arbeiter immer aufs Neue Widerwillen einflößt. Dies ist der Charakter der Arbeit unter dem Kapitalismus, unabhängig davon, ob mit ihr etwas mehr oder weniger Lohn verdient wird, also Ernährung und Wohnung besser oder dürftiger sind. Auch der bestbezahlte Arbeiter fühlt sich als Objekt der Ausbeutung, fühlt, dass seine Arbeit nur dem Zwecke dient, Profit zu erzeugen, dass seine Neigungen als Mensch nichts dreinzureden haben. Deshalb wird die Arbeiterklasse sich mit der kapitalistischen Produktionsweise, trotz aller Verbesserung, nie zufrieden geben können.

II.

Sobald die Arbeiterklasse sich nun also die Frage vorlegt, welche Produktionsweise sie an die Stelle des für sie unerträglichen Kapitalismus setzen will, so wird sie sofort die Rückkehr zum Kleinbetrieb ausschließen.

Erstens, weil es unmöglich ist. Könnte man auch alle großen Maschinen zerschlagen und die Fabriken niederbrennen, die alte friedliche Ruhe des Kleinbetriebs würde doch verloren sein. Denn in unsern Köpfen sitzt die Wissenschaft, die zusammengepresste Erfahrung und Erfindung vieler Jahrhunderte, die uns befähigt, neue Maschinen zu machen, und trotz der schärfsten Verbote würde in kurzer Zeit eine neue Großindustrie erstanden sein. Die großen und starken Produktivkräfte, die der gegenwärtigen Produktionsweise als Grundlage dienen, können wir einfach nicht vernichten; sie stehen über unsrer Macht.

Aber es würde auch nicht einmal erwünscht sein. Diese Großindustrie, diese Erhöhung der Produktivität hat es ermöglicht, zahlreiche Verbrauchsgegenstände mit geringer Arbeit herzustellen; sie hat unsre Bedürfnisse bereichert, und dem Ärmsten Bequemlichkeiten des Lebens gewährt, auf die früher der Reichste verzichten musste. Sie hat die allgemeine Kultur gewaltig gehoben; Rückkehr zum Kleinbetrieb würde heißen: Rückkehr zur Barbarei.

Die einzige Möglichkeit, die Ausbeutung der großen Masse durch eine kleine Parasitenklasse zu beseitigen, besteht also darin, die Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum überzuführen. Die großen Maschinen können nicht mehr, wie die früheren kleineren Werkzeuge, von jedem einzelnen für sich besessen und benutzt werden. Jeder könnte einen eignen Karren, einen eignen Hammer besitzen; aber jeder kann nicht seine eigne Lokomotive und Eisenbahn und seinen eignen Dampfhammer haben; Lokomotiven und Dampfhammer brauchen wir aber, deshalb besitzen und benutzen wir sie gemeinsam.

Der gesellschaftliche Großbetrieb als Typus der von uns erstrebten Produktionsweise ist nicht von uns erfunden worden; der Sozialismus ist nicht schlau von uns erklügelt worden, als das beste Mittel, um aus der Patsche herauszukommen, in der wir etwa durch die Expropriation der Kapitalisten geraten seien. Der Sozialismus ist der notwendige Nachfolger des Kapitalismus, zu dem jetzt schon allerhand Ansätze, Übergänge und Hinweise vorhanden sind. Nicht aus dem Gehirn, das einen Ausweg aus der Schwierigkeit – kein Kapitalismus, kein Kleinbetrieb, was denn? – suchte, sondern aus den jetzt schon sichtbaren Entwicklungstendenzen des Kapitalismus haben wir die Forderung unsres Endziels geholt.

Der Kapitalismus, wie er jetzt ist, ist nicht mehr der Kapitalismus der guten alten Zeit. Damals rauften sich die Kapitalisten und prügelten einander durch in der freien Luft einer ungezügelten Konkurrenz; wer fiel, blieb liegen, und so wurden der lustigen Kämpfer immer weniger. Wenn ihre Zahl aber so gering geworden ist, dass sie das Schlachtfeld übersehen können, da leuchtet ihnen nach und nach ein, dass es doch eigentlich nichts dümmeres gibt, als sich gegenseitig durch Preisherabsetzungen den Gewinn sauer zu machen, zum Gaudium der Konsumenten. Dann sucht jeder seinen Profit nicht mehr zu erhöhen, indem er seine Kollegen durch die Einführung besserer Arbeitsmethoden und die Verbilligung der Produkte bekriegt, sondern indem er sich mit ihnen zum Zwecke der Hochhaltung der Preise verbindet. Diese neue Bereicherungsmethode kann selbstverständlich erst eintreten, wenn dazu die Verständigung von nur ein paar Dutzend Leuten nötig ist; solange mehrere Hunderte Wettbewerber im Felde stehen, deren jeder seinen eigenen Kopf hat, und jedesmal neue auferstehen können, ist ein solches Bündnis schwer durchzuführen. Ein hohes Maß von Konzentration muss in einer solchen Industrie schon vorhanden sein.

An Stelle der Konkurrenz die Koalition! das ist die Losung des neuen Kapitalismus. Zuerst sind die Koalitionen lose und zeitweilig; sie fangen an mit Abmachungen über die Preise allein. Da aber trotz der Abmachung jeder einzelne doch der Versuchung des Extraprofits nicht widerstehen kann, auch wenn dafür Umgehung oder Brechung des Bündnisses notwendig ist, und da dennoch die Aufrechterhaltung der Koalition im Gesamtinteresse aller ist, muss man zu immer stärkeren Formen des Bündnisses kommen. Dem sündhaften Menschen muss die Gelegenheit zum Sündigen immer mehr eingedämmt werden. Aus den losen Kartellen und Ringen entstehen die Syndikate, die den Einzelkapitalisten die unmittelbare Berührung mit den Abnehmern entziehen. Am weitesten geht die Koalition schließlich in den Trusts, wo dem einzelnen Unternehmer die Herrschaft seiner eigenen Fabrik genommen ist. Hier unterstehen sämtliche koalierten Betriebe einem einzigen Direktorium; die früheren Fabrikanten und Aktionäre sind Teilhaber des ganzen Trusts geworden, der jetzt eine einzige Riesenunternehmung darstellt, die den größten Teil der Produktion eines Landes monopolisiert.

Vergleicht man diese neue Form des Kapitalismus mit seiner klassischen Gestalt, so sieht man als Folge des Wegfallens der freien Konkurrenz einerseits die Aufhebung eines starken Stachels, der zum technischen Fortschritt treibt, und der von den liberalen Lobrednern des Kapitalismus immer als sein großer Vorzug angepriesen wurde. Dieses technische Rückbleiben wird aber anderseits mehr als wett gemacht durch einen andern großen Fortschritt der Produktivität, der in der inneren Organisation der Produktion liegt. Die Zersplitterung des Kleinbetriebs wurde schon durch den Großbetrieb bedeutend eingeengt, aber die innere zweckmäßige Organisation blieb auf das Innere des Betriebes beschränkt, während draußen die völlige Unordnung herrschte. In den Syndikaten und namentlich den Trusts wird die Zersplitterung ganz aufgehoben und die Organisation der Produktion bringt hier den Wegfall zahlloser Unkosten und vieler Kraftvergeudung und damit zugleich schon eine gewisse Anpassung der Produktion an den Bedarf.

Allein diese neuen zweckmäßigen Einrichtungen dienen nur dazu, um die Konsumenten, die große Volksmasse, zu plündern zugunsten einer Handvoll Hundertmillionäre. Der Widersinn des ganzen Kapitalismus, wo alle Fortschritte der Produktion nur einer kleinen Minderheit zugute kommen, findet sich also in seiner neuen Entwicklungsform in höherer Potenz wieder.

Neben den Trusts gibt es noch eine andere Entwicklungsform des Kapitalismus, die zwar nicht erst in der allerneusten Zeit entstanden ist, aber doch eine Entwicklungstendenz dieser Produktionsweise anzeigt. Schon lange gab es besondere Branchen oder Berufsarten, die ihrer besonderen technischen Natur nach für die privatkapitalistische Konkurrenz ein wenig geeignetes Objekt bildeten. So die Eisenbahnen und Straßenbahnen. die Beförderung von Briefen und Paketen, die Versorgung der Städte mit Wasser, Gas, Elektrizität. Wo sie daher als privatkapitalistische Betriebe auftreten, tragen diese den Charakter eines Monopols, und zwar eines gesetzlich verliehenen Monopols. In der Konzession solcher Unternehmungen wird immer gegen bestimmte Verpflichtungen, Abgaben oder Gewinnanteile von der Gemeinde oder vom Staate eine Monopolstellung verliehen. Wenn solche Gesellschaften dabei gute Geschäfte machen, erheben in der Regel die Konsumenten den Ruf nach Verstaatlichung, damit die erzielten Gewinne entweder zur Herabsetzung der Preise oder der Tarife, oder zur Herabminderung der Steuerlast verwendet werden können. In demokratischen Ländern ohne starke sozialistische Bewegung geht diese Triebkraft meist von dem Bürgertum aus, das hier als Vertreter der Konsumenteninteressen auftritt, weil es am schwersten durch die Monopolisten geplündert wird; und dort gelingt es dann sehr oft, Staats- oder Gemeindebetriebe an die Stelle der Privatmonopole zu setzen. In anderen Fällen sind es auch besondere Regierungsinteressen gewesen – wie bei den deutschen Eisenbahnen – die zum Staatsbetrieb geführt haben.

Diese Produktionsform wird oft mit Staatssozialismus und Gemeinde-Sozialismus bezeichnet. Dass es mit diesen Arten „Sozialismus“ noch nicht weit her ist, beweist die Tatsache, dass sie mit einem gleichbedeutenden Wort auch Staatskapitalismus genannt werden. Sie bilden eben eine Zwitterform. Von dem echten Kapitalismus trennt sie die Tatsache, dass eine Körperschaft, welche die Gesellschaft politisch vertritt, Staat oder Gemeinde, als alleiniger Unternehmer auftritt. Hier kann also die Produktion oder der Betrieb ganz dem Bedürfnis angepasst werden; sie ist hier bewusst geregelt. Durch diese Eigenschaft benutzen wir sie oft in unsrer Propaganda als Beispiel für unsre Behauptung, dass eine Regelung der Produktion sehr gut möglich ist durch den Regelmaß, die Gesetzmäßigkeit des Konsums, sobald es Massenkonsum ist. Dagegen haben diese Betriebe mit dem Kapitalismus gemein, dass sie auf Ausbeutung beruhen; die Arbeiter in diesen Betrieben werden ausgebeutet, aus ihnen wird ein Profit herausgeschlagen, und während die besondere Natur ihres Unternehmers in demokratischen Ländern, wo die im Parlament auftretende öffentliche Meinung Einfluss hat, für sie einen Vorteil bietet, bildet sie durch die größere Abhängigkeit und Versklavung einen Nachteil in absolutistisch regierten Ländern.

Deshalb ist es auch völlig daneben geschlagen, wenn unsre Gegner diese Staatsbetriebe als Musterbeispiele des Sozialismus hinstellen wollen. Das sind sie durchaus nicht; wir führen sie nur an als Beispiele der Ordnung, die in der Produktion möglich ist. Aber sind sie noch kein Sozialismus, so sind sie auch schon der rechte Kapitalismus nicht mehr. Ihre Entwicklung weist schon hin auf eine neue, höhere und bessere Produktionsweise.

Man könnte uns hier entgegenwerfen, und zwar mit Recht, dass nur die sehr besondere technische Natur dieser Betriebe sie für die Staats- oder Gemeindeexploitation geeignet machte, und dass die besondere Natur der anderen Industrien diese besser für den Privatbetrieb eignet. Dieser Einwurf ist richtig, oder war wenigstens richtig; denn erst die neueste Entwicklung hat ihn unrichtig gemacht. Nicht von Sozialisten, sondern von zahlreichen bürgerlichen Wortführern wird in Amerika die Forderung der Verstaatlichung der Trusts erhoben. Zwar ist diese noch nicht zur Tatsache geworden; aber die Forderung beweist, dass jetzt in Amerika diese Industrien, bisher unbestrittene Tummelplätze privatkapitalistischer Gründungen und Unternehmungen, für den Staatsbetrieb reif erachtet werden. Das Nämliche gilt für die Kohlensyndikate in Deutschland. Durch die Entwicklung dieser neuen kapitalistischen Betriebsformen zu privaten Monopolen ist die Voraussetzung erfüllt, die nötig ist, um sie zu öffentlichen Monopolen umzubilden.

In den Trusts und den öffentlichen Betrieben zeigen sich also die Entwicklungstendenzen des modernen Kapitalismus. Sie zeigen, dass die Ideale des Sozialismus nicht aus der Luft gegriffen, nicht in dem Gehirn ausgedacht, sondern der Wirklichkeit entnommen werden. Diese Entwicklung zeigt, dass die wichtigsten, der ganzen gesellschaftlichen Produktion zugrunde liegenden Industrien immer mehr zu Monopolen in den Händen einer kleinen Gruppe von Millionären werden, die ihre Herrschaftsstellung zur schamlosesten Ausbeutung der weitesten Volksklassen benutzen. Diese Monopole in die Hände der Gemeinschaft überzuführen, damit sie von Ausbeutungsmitteln zu Grundlagen einer vernünftigen Wirtschaft werden können, muss das nächste Ziel einer in die ökonomische Entwicklung eingreifenden revolutionären Klasse sein.

Dies bedeutet aber nicht einfach die Überführung dieser Monopole in Staatsbetriebe. Der jetzige Staat ist kein Vertreter der großen Volksgemeinschaft, sondern der besitzenden Klasse. In Amerika haben die Trustherren eine Verstaatlichung des Trusts schon im Voraus unwirksam gemacht durch ihre Vertrustung des Staates. Die Grundbedingung für die Umwälzung der ökonomischen Verhältnisse ist daher die Besitzergreifung der Staatsgewalt durch das Proletariat. Der siegreich zu Ende geführte Kampf um die Eroberung der politischen Gewalt wird erst die Arbeiterklasse in den Stand setzen, den Kapitalismus aufzuheben und durch den Sozialismus zu ersetzen.


Reform oder Umsturz / Anton Pannekoek

„Gegen den Umsturz“, das war die gemeinsame Wahlparole des Hottentottenblocks (1). Wir empören uns darüber nicht, weil wir wissen, dass es nicht anders sein kann. Die Revolution, der „gewaltsame“ Umsturz, wie unsere Gegner das immer so verständnisvoll auszudrücken pflegen, bildet die Grenzscheide zwischen uns und den anderen Parteien. Oft hört man Mitglieder gegnerischer Parteien erklären, dass sie auch den Kapitalismus tüchtig angreifen und seine Missstände verbessern wollen, dass sie überhaupt den sozialistischen Gedanken und Idealen nahe ständen. Aber den gewaltsamen Umsturz wollen sie nicht; die Katastrophentheorie halten sie für unrichtig, das Hinarbeiten auf eine Revolution für verwerflich, weil sich alles auf dem Wege der friedlichen Reformarbeit viel besser machen lasse.

Nun gibt es für die Sozialdemokraten kaum ein schöneres Thema als über den Umsturz zu reden, weil fast nirgends entweder die plumpe Unwahrhaftigkeit oder die törichte Beschränktheit unserer Gegner schärfer gekennzeichnet werden kann. Denn es lässt sich beweisen, dass es sich gerade umgekehrt verhält: die Sozialdemokratie tut ihr möglichstes, um den Weg des friedlichen reformatorischen Übergangs zum Sozialismus vorzubereiten, während ihre Gegner ihr möglichstes tun, um eine gewaltsame Revolution heraufzubeschwören.

Dass es unser Wunsch ist, unsere Ziele auf dem friedlichen Wege der Reformarbeit zu erreichen, braucht man uns nicht als bloße Versicherung zu glauben; wir haben es gezeigt durch die Augenblicksforderungen unseres Programms. Wenn diese politischen und sozialen Forderungen durchgeführt und streng innegehalten werden, so wird der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus sich allmählich, auf gesetzlichem Wege, ohne Katastrophen vollziehen können. Wenn das Wahlrecht und alle politischen Einrichtungen völlig demokratisch aufgebaut werden, wenn durch guten Arbeiterschutz, durch Verbesserung der Erziehung und der Lebensverhältnisse, durch Förderung der Organisation den verstumpfenden, herabdrückenden Tendenzen des Kapitalismus wirksam entgegengetreten wird, so ist dadurch die Möglichkeit geschaffen, durch weitere regelmäßige Reformarbeit unsere Ideale immer mehr zu verwirklichen. Dieses Programm bieten wir den Arbeitern, damit sie sehen, wie es sich machen ließe, wenn die herrschenden Klassen nur wollten; dieses Programm bieten wir auch den besitzenden Klassen, damit sie offen zeigen können, was ihnen lieber ist, der gesetzliche Fortschritt oder die Aufrechterhaltung ihrer Ausbeutung um jeden Preis.

Die Praxis hat aber schon längst erwiesen, dass wir uns in dieser Hinsicht keine Illusionen machen dürfen. Wir haben den Weg angegeben, auf dem man die Übelstände des Kapitalismus beseitigen könnte, aber uns fehlt bisher die Macht dazu. Die besitzende Klasse hat die Macht, aber ihr fehlt der Wille; sie denkt nicht daran, diesen Weg zu gehen. Nach einigen kleinen, im Verhältnis zur Größe des Übels lächerlich-unbedeutenden Anläufen, die eingestandenermaßen nur die Arbeiterklasse ködern und vom Sozialismus trennen sollen, haben sie nichts mehr getan. Und wo sie die Möglichkeit in der Ferne heranrücken sehen, dass wir, trotz der Mängel des allgemeinen Wahlrechts, die parlamentarische Mehrheit erobern könnten, reden sie jetzt schon von dem Staatsstreich, der der Möglichkeit dieser Entwicklung einen Riegel vorschieben soll.

An diesen Tatsachen, die jeder kennt, ist zu erkennen, dass wir nach Möglichkeit auf einen friedlichen, gesetzlichen, und unsre Gegner auf einen gewaltsamen Ausgang des Klassenkampfs hinarbeiten. Wir haben jedoch keine Ursache, ihnen dies zum besonderen Vorwurf zu machen, da wir die Ursache ihrer Haltung verstehen; unsre Ausführungen beabsichtigen nur, die Haltlosigkeit des Geredes darzutun, als müssten wir durch unser Hinarbeiten auf den gewaltsamen Umsturz den Abscheu aller friedfertigen Biedermänner verdienen.

Die Ursache dieser gegnerischen Taktik ist in der Natur des Klassengegensatzes zu finden. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass unser Klassenkampf nicht bloß ein Interessenkampf ist von zwei Gruppen, die um ihren Anteil an dem gesellschaftlichen Produkt streiten, sondern ein Kampf um die Grundlage der Gesellschaftsordnung, um die Ausbeutung. Wo zwei Parteien streiten um die Verteilung eines gemeinsam erworbenen Gutes, da stehen ihre Interessen wohl einander gegenüber, aber sie sind nicht völlige Gegensätze. Da wird es von der relativen Macht der beiden Parteien abhängen, wieviel jeder bekommt. Je nachdem die eine oder die andre Partei stärker ist, wird sie ein größeres Stück beanspruchen können; weil der Kampf sich um das Mehr oder Weniger dreht, ist der Ausgang auch ein Mehr oder Weniger, und nicht ein Alles oder Nichts. In diesem Verhältnis stehen im Allgemeinen zwei Klassen, die ein gemeinsam erworbenes Produkt verteilen müssen. So steht es z.B. mit den Kapitalisten und den Grundbesitzern, die den gemeinsam aus der Arbeiterklasse geholten Mehrwert zu verteilen haben. Je nachdem die eine die andre, oder die andre die eine Klasse mehr braucht und weniger gegen sie ausrichten kann, wird die Verteilung anders sein. Aber eben deshalb, weil sie sich als Kumpane gegenüberstehen, wird keine von beiden alles nehmen können, um der andern nichts zu lassen.

Ganz anders liegt das Verhältnis bei dem Kampf zwischen einer beherrschten, ausgebeuteten und einer herrschenden, ausbeutenden Klasse. Hier geht es nicht um die Verteilung eines gemeinsam erworbenen Produkts, denn im Worte Ausbeutung liegt schon eingeschlossen, dass es das Produkt der einen Klasse ist, von dem die andre ein Stück wegnimmt. Der Kampf geht deshalb nicht um etwas mehr oder weniger Ausbeutung, sondern um die Ausbeutung selbst. Deshalb kann hier keine Rede davon sein, dass die beherrschte Klasse in dem Maße dieses Verhältnis abzuändern vermag, als sie an politischer Macht zunimmt. Solange sie Minderheit ist, solange ihre politische Macht geringer ist als die Macht der Ausbeuter, solange bleibt die Ausbeutung bestehen; und sobald sie die größere Macht besitzt und dem Gegner gerade etwas überlegen ist, hebt sie die Ausbeutung nicht zu etwas mehr als der Hälfte, sondern ganz und gar auf.

Es kann daher keine Rede davon sein, die relative Macht der beiden Gegner zahlenmäßig abzuschätzen und daraus eine verschiedene Herrschaftsverteilung abzuleiten. Wo sich die Interessen so völlig gegensätzlich gegenüberstehen, gilt es entweder alles, oder nichts; entweder die volle Herrschaft an der einen, oder an der andern Seite. Dies will selbstverständlich nicht sagen, dass die ausgebeutete Klasse solange ganz einflusslos ist; durch die Furcht, welche ihr Auftreten einflößt, bestimmt sie die Handlungen der Herrscher. Dies ist jedoch keine Teilung der Herrschaft; die herrschende Klasse geht ganz nach ihrem eignen Willen und Interesse vor, wenn auch dieser Willen durch das Auftreten der unterdrückten Klasse beeinflusst wird. Das Verhältnis ist also ganz anders, als die Teilung der Herrschaft zwischen zwei Klassen, die eine gemeinsame Beute zu teilen haben.

Dies ist der Grund der geschichtlichen Tatsache, die wir immer beobachten, wo eine unterdrückte, ausgebeutete Klasse um ihre Befreiung, d.h. um ihre Herrschaft kämpft. Der Satz: Alles oder nichts, ist kein Ausdruck sozialdemokratischer Unversöhnlichkeit – praktisch ist er kein Leitsatz bei uns – sondern der Ausdruck einer geschichtlichen Tatsache, die wir beobachten und in ihrem Ursprung verstehen.

Dieses Verhältnis ist auch die Ursache der ablehnenden Haltung, welche die Kapitalisten jeder Arbeiterforderung gegenüber einnehmen. Jede solche Schmälerung ihres Profits erscheint ihnen im Prinzip als ein Anschlag auf die Ausbeutung überhaupt, oder, um in ihrem schönen Kauderwelsch zu reden: hinter jeder Augenblicksforderung sehen sie die Hydra der Revolution lauern. Erst durch gewaltige Anstrengung gelingt es den Arbeitern, wenigstens das Allernotwendigste zu erringen; und der Widerstand wächst mit der Organisation der Arbeiterklasse, eben weil diese den Kapitalisten größere Furcht für die weiteren Konsequenzen dieser Forderungen einflößt, und ihnen deutlicher das Memento mori zuruft: dein Ausbeutertum wird sein Ende finden.

Die Entwicklung der Gesellschaft geht deshalb durch Abwechslung von ruhigen, stetigen Evolutionsperioden und plötzlichen Revolutionen vor sich, weil völlig gegensätzliche Interessen einer herrschenden und einer beherrschten, sich erhebenden Klasse miteinander ringen, wobei kein Kompromiss möglich ist. Das alte Regime und die alte Ausbeutung bleiben solange bestehen, bis die neue Klasse durch die vorhergehende Evolution stark genug geworden ist, die Herrschaft zu erobern. ES kommt dabei dann noch in der Regel hinzu, dass die herrschende Klasse, auch wenn sie schon nicht mehr die stärkste ist, sich weigert, nachzugehen, weil sie sich selbst noch immer die stärkste dünkt. Sie verfügt über die Regierungsgewalt, ihre Machtmittel sind handgreiflich, sichtbar. Die Machtmittel der beherrschten, emporkommenden Klasse sind meist ganz andrer Art; sie liegen in moralischen und geistigen Eigenschaften und wenig sichtbaren Verhältnissen: in ihrer Einsicht, ihrer Entschlossenheit, ihrem Zusammenhalt und in ihrer bedeutenden gesellschaftlichen Funktion. Diese sind alle Imponderabilien, nicht messbare, abschätzbare oder handgreifliche Größen; deshalb sieht die herrschende Klasse sie nicht, oder glaubt nicht an ihre Kraft. Sie stützt sich auf ihre eignen, scheinbar viel größeren Machtmittel und widersetzt sich solange, bis sie tatsächlich in dem revolutionären Kampf über den Hausen geworfen wird. Diese Verblendung ist immer das historische Erbteil einer untergehenden Klasse gewesen; und diese Verblendung trägt nicht am wenigsten dazu bei, den Klassenkampf auf den gewaltsamen Weg der Revolution zu treiben.

Wir können daran nichts ändern; die gegenwärtige Ausbeuterklasse von dieser Verblendung zu befreien, geht über unsre Macht. Wir können nur immer aufs neue der ausgebeuteten Volksmasse die Wahrheit vor Augen führen, dass wir den friedlichen Weg der Reformen vorziehen, um die Entwicklung zum Sozialismus durchzuführen, dass aber die Kapitalistenklasse den Kampf auf die Spitze treibt, weil sie gerade so gut wie wir weiß, dass es sich um das Prinzip des heutigen Kapitalismus, um die Ausbeutung selbst handelt.


Redaktionelle Anmerkungen

1. Reichstagswahl 1907 .


Compiled by Vico, 21 August 2018























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